MITTELMEERBILDER GESAMMELTE ABHANDLUNGEN ZUR KUNDE DER MITTELMEERLÄNDER VON Dr. THEOBALD FISCHER GEH. REG.-RAT, PROl'ESSOR DER GEOGRAPHIE AN DER fNlVEKSITÄT MARBURG LEIPZIG UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER 1906 ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN. Vorrede. Die vorliegende Sammlung von Abhandlungen zur Kunde der Mittelmeerländer enthält Früchte dreiunddreißigjähriger Stu- dien über die Mittelmeerländer und von einigen zwanzig bald längeren, bald kürzeren Reisen im Bereich derselben vom Bos- porus bis Südvi^estmarokko in den Jahren 1872 — 1902. Sie be- ruhen fast durchaus auf Selbstsehen, ja einige sind geradezu Reiseschilderungen, andere dagegen enthalten in gedrängtester Kürze die Ergebnisse einer langjährigen Denkarbeit, die so- wohl auf vielseitige eigene Beobachtungen, wie auf Verarbeitung einer Fülle wissenschaftlichen Quellenstoffes der verschiedensten Art zurückzuführen ist. Die meisten sind bereits in einigen unserer besten allgemeiner Belehrung gewidmeten Zeitschriften erschienen, wodurch sie. über :^s Jahre verstreut, wohl der Ver- gessenheit anheimgefallen wären. Der freundliche Leser wird er- wägen, ob man sie nicht diesem Schicksale hätte überlassen sollen. Einige sind eigens zur Ergänzung für diese Sammlung geschrieben, alle sorgsam nachgeprüft, nicht mehr Richtiges ausgemerzt oder berichtigt, aber unter mögüchster Beibehaltung der ursprünglichen Darstellung, namenthch wo sie die Zeitgeschichte oder den je- weiligen Stand der Erkenntnis wiederspiegelt. Nicht wenige sind jedoch geradezu als Neuauflagen anzusehen. Entsprechend der Stelle ihres ersten Erscheinens wenden sich die meisten an den weiten Kreis der Allgemeingebildeten, nicht etwa an die Fachgeographen. Ich habe mich daher auch stets um eine möglichst flüssige Darstellung bemüht. Kritische Erwägungen, Quellennachweise u. dgl. sind mit Absicht vermieden. Rein wissenschaftliche, nicht allgemein verständliche und nur den engen Kreis der Fachgeographen anzuziehen geeignete Abhandlungen, mit denen ich wohl noch einen zweiten Band füllen könnte, sind — IV — ausgeschieden, aber ich glaube, daß die meisten der vorliegenden Abhandlungen auch dem Fachmanne, der weiß, daß das Mittel- raeergebiet seit ^^ Jahren mein besonderes Arbeitsfeld ist, etwas zu bieten vermögen, zumal ihm meine größeren wissenschaftlichen Werke über das Mittelmeergebiet und die Quellennachweise be- quem erreichbar sind. Ich hoffe namentlich auch dem Verständnis der in der Weltpolitik und im Weltverkehr von Tag zu Tag wieder wichtiger werdenden Mittelmeerländer und dem Bedürfnisse der stetig und rasch wachsen- den Zahl derjenigen entgegen zu kommen, welche das Mittelmeer- gebiet in größerer oder geringerer Ausdehnung zu den aller- verschiedensten Zwecken bereisen. Möge dies Werk auch in weiteren Kreisen des deutschen Volkes die Überzeugung wecken oder stärken, daß wir, wenn wir eine Welt- und Welthandelsmacht sein und noch mehr werden wollen, uns auf die Dauer nicht mit ästhetischen und wirtschaftlichen Interessen im Bereiche des alten Kulturmeeres begnügen können, das zwei bis drei Jahrtausende hindurch der Schauplatz der Geschichte und der Ausgangspunkt aller neuzeitlichen Gesittung gewesen ist und dessen Gestade- länder soeben aus jahrhundertelangem Schlummer zu erwachen und ihre mehr unentwickelten als verbrauchten reichen Hilfs- quellen zu erschließen beginnen. Marburg a. L., Februar 1905. Theobald Fischer. Inhaltsübersicht. I. Aus dem Orient. Seite 1. Konstantinopel (1905) l 2. Ein Ausflug von Konstantinopel zur Höhle von Yarim-Burgas (1872) 24 3. Landschaftsbilder von der bithynischen Riviera (1872) 33 4. Die geographische und ethnographische Unterlage der orientalischen Frage (1891) 42 5. Die Dattelpalme im Kultur- und Geistesleben des Orients (1881) . . 61 II. Palästina. Eine länderkundliche Studie (1904) 74 Allgemeine Charakteristik und Entwicklungsgeschichte. — Die Küstenebene 95 — Westjordanland 97 — Jerusalem r02 - — Das Ghor 107 — Sodom und Gomorrha 116 — Ostjordanland 118 — - Das Klima 121 — Pflanzenwelt 128 — Bevölkerung 133 — Wirtschaftliche Verhältnisse 138 — Verwaltungseinteilung 147 — - Zukunft des Landes 148. III. Italien. 1. Italien. Eine länderkundliche Skizze (1893) 154 Entwicklungsgeschichte 157 — Bodenplastik 163 — Klima und Pflanzenwelt, Bevölkerung 167 — Wirtschaftliche Verhältnisse 170 — Volksdichte und Siedelungskunde 175. 2. Die sizilische Frage (1875) 180 3. Ansiedelung und Anbau in Apulien (1905) 204 4. Land und Leute in Korsika (1894) 215 IV. Die Iberische Halbinsel. 1. Geographische Skizze der Iberischen Halbinsel (1893) 236 2. Skizzen aus Südspanien (1889) 255 — VI — V. Die Atlasländer. s,e\te 1. Die Küstenländer Nordafrikas in ihren Beziehungen und in ihrer Be- deutung für Europa (1882) . 278 2. Zwischen Tebessa und Gabes. Reiseskizzen aus Südtunesien (1886) 301 3. Reiseeindrücke aus Marokko im Jahre 1899 (1900) 333 4. Marokko. Eine länderkundliche Skizze (1903) 358 5. Französische Kolonialpoliük in Nordwestafrika (1894) 381 6. Fünfzehn Jahre französischer Kolonialpolitik in Tunesien (1886) . . 408 7. Tunis, Biserta und Tunesien im Jahre 1904 (1904) 438 8. Palmenkultur und Brunnenbohrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara (1880) 458 Namen- und Sachregister 472 Druckfehler 480 I. Aus dem Orient I. Konstantinopel.^) Obwohl oder vielleicht weil ich so ziemlich alle wegen der Reize ihrer Lage gepriesenen Großstädte Europas aus eigener Anschauung kenne, bin ich geneigt Konstantinopel den Vorrang vor allen einzuräumen. Das INIeer in seinen verschiedenen Er- scheinungsformen, die Lage fast im INIittelpunkte der Alten Welt, auf der Grenze zweier Erdteile, im Verknotungspunkte der wich- tigsten Land- und Wasserstraßen, die reichen geschichtlichen Erinnerungen, das heute noch überwiegend morgenländisch-moham- medanische, aber bereits stark von abendländisch - christlichen Einflüssen durchsetzte, auch den Landschaftscharakter beein- flussende Leben, verleihen diesem natürlichen Mittelpunkte eines weiten, zwei, ja zum Teil drei Erdteilen angehörigen Länder- gebiets einen eigenen Reiz. Es wird möglich sein, die topographische und die geographische Lage von Konstantinopel, d. h. die Einflüsse der Örtlichkeit selbst wie ihrer weiteren Umgebung schärfer zu erfassen, wenn ich versuche, soweit das heute bereits möglich ist, auf entwicklungsgeschichtlichem Wege die heutige Verteilung von Land und Wasser an dieser Erd- stelle, von Hoch und Tief an der Außenseite der Erdrinde und die sich daraus ergebenden geographischen Faktoren herzuleiten. Wie das ganze Mittelmeer in seiner heutigen Gestalt und den dasselbe heute kennzeichnenden Zügen jugendlichen Alters ist, so sind auch die Meere und Meeresteile, die hier, durch schmale, stromartige Rinnen miteinander verbunden, die Hohl- I) Es dürfte lehrreich sein, mit dieser 1904 auf Grund zweimaliger längerer Aufenthalte in Konstantinopel geschriebenen Studie J. G. Kohls Schilderimg in „Die geographische Lage der Hauptstädte Europas", Leipzig 1874 S. I — 38 zu vergleichen. Fischer, Mittelmeerbilder. I formen der Erdrinde füllen und die über den Meeresspiegel aufragenden Rindenteile gliedern, erst in einer geologisch der Gegenwart sehr nahe liegenden Zeit, vielleicht in einer Zeit aus- gebildet worden, wo hier bereits der vorgeschichtliche Mensch lebte, in der Diluvialzeit. Konstantinopel liegt auf einem großen Bruchgürtel der Erde, der von der Straße von Gibraltar her die große Festlandsmasse der Alten Welt gliedert und aufschließt und sich im östlichen Mittelmeere, das eben ganz an diesen Bruchgürtel gebunden ist, gabelt, indem er sich nach Südosten im Roten Meere, nach Nordosten im Archipel, im Marmara- und Schwarzen Meere bis zum Kaspischen und der großen aralo- kaspischen Erdsenke fortsetzt, aber vom Schwarzen Meere aus einer- seits auf die große russische Tafel im Asowschen Meere und der Bucht von Odessa hinüber, andrerseits längs dem Laufe der Donau, der hier an die echt mediterranen Senkungsfelder der walachischen und der niederungarischen Tiefebene gebunden ist, nach Westen tief in den gefalteten Landgürtel am Nordrande des Mittelmeeres hinein- greift. Damit ist schon die Vielseitigkeit der Beziehungen dieser Erdstelle angedeutet. Alle diese heute zum Mittelmeer vereinig- ten Meere bezeichnen eine Kette von Einsturzkesseln, die durch stehen gebliebene Riegel, unterseeische Schwellen, an denen, wie an der Straße von Gibraltar und von Pantelleria die Erdteile wie über Landbrücken zueinander in Beziehungen treten, voneinander geschieden, sich zum Teil erst in der Diluvialzeit gebildet haben. In die hier in Frage kommenden ist das Mittelmeer von Süden und Südwesten her eingetreten. Noch heute sind die Brüche, auf welchem im Bereiche des südUchen Schwarzen Meeres, des Marmarameeres und des Archipels Krustenstücke in die Tiefe sanken, nicht in sich verfestigt, denn diese Gegenden gehören noch zu den am häufigsten und heftigsten von Erdbeben heim- gesuchten. Noch 1894, am 10. JuU, richtete ein Erdbeben, das an den Bruch gebunden gewesen zu sein scheint, der vom Golfe von Ismid her durch das nördliche Marmarameer nach dem Goldenen Hörn verläuft, auf den Prinzeninseln und in Konstantinopel große Verheenmgen an. Wie diese Erderschütterungen schließen lassen, sind hier die Bildungsvorgänge noch nicht abgeschlossen. Aber diese Krustenbewegungen lassen sich hier weit in die Tertiärzeit hinein verfolgen. In der jüngsten Tertiärzeit, dem Oberpliozän, war diese Gegend Festland, wohl von beträchthcher Höhe und Ausdehnung, so daß sich ein großer Strom bilden konnte, der ein tiefes Erosionstal ausspülend wohl von der Gegend des Schwarzen Meeres gegen den Archipel hin floß. Durch den Einbruch des Schwarzen Meeres, des Marmarameeres und des Archipels wurde dieser Strom zerstückt, der Bosporus und der Hellespont sind die noch erhaltenen Reste seines Erosionstales, die aber zu Meerengen wurden, als sich gleichzeitig mit der Bildung der Einbruchskessel auch die zwischen denselben stehen gebliebenen, brückenartig Europa noch mit Asien verbindenden Riegel senkten, so daß das Meer in ihre Hohlformen, das Tal des großen Stromes und seiner Nebenflüsse eindrang. Dies er- klärt, daß der Bosporus noch heute den Eindruck eines großen Flußtales macht, überraschend ähnlich dem Durchbruchtale des Rheins durch das Schiefergebirge zwischen Bingen und Bonn. Das Goldene Hörn bezeichnet ein Seitental, das von einem Neben- flusse wohl auf einer Bruchlinie, die hier das Devon vom Tertiär der Halbinsel von Konstantinopel scheidet, ausgewaschen wurde, in dessen unteres Ende das Meer dann eintrat, während es von oben durch den noch vorhandenen Nebenfluß, den vereinigten Kiathane und Ali Bey Su, die sogenannten süßen Wasser von Europa, mit ihren Sinkstofi'en zugeschüttet wurde. Rings um die Ostküste der südosteuropäischen Halbinsel, vom Marmarameere bis nach Südrußland finden sich solche in der Oberpliozänzeit erodierte Flußtäler, deren untere Enden jetzt mit stehendem Wasser gefüllt sind, allerdings jetzt meist Brack- oder Süßwasser, indem die Küstenversetzung und Küstenströmung schmale, niedrige Nehrungen vor die Talmündungen geschoben hat. Diese senkrecht auf der Richtung der Küste stehenden Küstenseen sind am bekanntesten aus Südrußland, wo man sie Limane nennt, eine Bezeichnung, die dort noch an die ehemalige türkische Herrschaft erinnert, da im Bereiche der türkischen Sprache alle diese Meeresbuchten, auch am Bosporus, Limane heißen. Aber diese türkische Be- zeichnung geht off'ensichtlich auf das Seevolk dieser Erdgegend schlechthin zurück, auf die Griechen, das griechische Atju.7jr = Hafen. Solche Limane begleiten auch die Küste des Schwarzen Meeres von der Donaumündung bis zum Bosporus. Der See von Derkos, am Schwarzen Meere nordwestlich von Konstantinopel, schon an seiner Gestalt als überflutetes Flußtal erkennbar, ist ein Liman und ebenso am Nordrande des Marmarameeres ganz nahe westlich von — 4 — Konstantinopel die beiden von den Türken treffend benannten Küstenseen von Kutschuk und Bojuk Tschekmedsche, da sie wirk- lich wie eme kleine und eine große Schublade ins Land hinein- geschoben sind. Wenn das Goldene Hörn nicht auch durch eine Nehrung abgeschlossen ist, so erklärt sich das sowohl aus der Tiefe, mit welcher hier das Meer in das Flußtal eintrat, wie namentlich aus der starken Strömung, die in dasselbe vom Bos- porus her eindringt. Fünf Kilometer lang in das Land ein- greifend bildet das Goldene Hörn bei einer mittleren Breite von 300 m und auf reichlich ein Drittel seiner Erstreckung 35 — 40 m Tiefe, mit hohen Ufern, an welchen unmittelbar die größten Schiffe Anker werfen können, einen der herrlichsten Häfen der Welt. Die Verengung auf 280 m nahe dem Eingange, dort wo heute die große Brücke ihn überschreitet, ermöglicht noch erfolgreiche Ver- teidigung gegen einen Feind, der schon in den Bosporus ein- gedrungen war. Im Altertum wurde der Hafen hier oft durch Ketten gesperrt. Die Strömung, die nicht stark genug ist, um lästig zu fallen, fegt allen Unrat hinaus und erklärt wohl in erster Linie, daß, abgesehen vom äußersten Hintergrunde und kleinen Seitenbuchten auch im Laufe der Zeit keine Verschlammung, keine Minderung der Tiefe eingetreten ist und künstliches Reinhalten, Baggern u. dergl. überflüssig erscheint. Die Landumschlossenheit verbürgt aber geringe Wellenbewegung. Das Goldene Hörn ist ein so vorzüglicher Naturhafen, wie es deren auf der Erde nur wenige gibt. Alle Seitenbuchten des Bosporus sind als überspülte Seiten- täler aufzufassen, die allerdings zum Teil wieder durch die ein- mündenden Bäche zugeschüttet sind, am auffälligsten am Tale von Bojukdere, dem großen Tale (Dere bedeutet Flußtal). So zerteilt also der Bosporus den das Schwarze Meer vom Marmarameer scheidenden Querriegel in zwei schmale Halbinseln, die sich von Europa und von Asien her, den niedergelassenen Flügeln einer Zugbrücke ähnlich, einander entgegenstrecken. Eine dritte noch kleinere Halbinsel wurde von der thrakischen ab- gegliedert, indem das Meer in das Seitental des Goldenen Horns schlauchartig, noch heute kilometerweit eindrang. Auf dieser kleinen Halbinsel war eine so ausgezeichnete Stadtlage gegeben, daß man den Hohn versteht, mit welchem die ersten griechischen Ansiedler überschüttet wurden, die sich, statt an diesem Punkte, drüben in Chalkedon, dem heutigen Kadi Kjiöi, auf einem — 5 — stumpfen Halbinselvorsprunge auf der asiatischen Seite südlich vom Eingange in den Bosporus niedergelassen hatten. Wie schon an den Dardanellen, so ist hier am Bosporus die Schwelle, welche die zwei echt mediterranen Einbruchskessel des Marmarameeres und des Schwarzen Meeres voneinander scheidet, nur in einer schmalen und wenig tiefen, mit Meerwasser gefüllten Rinne eingekerbt. Hier handelt es sich also um eine im wesentlichen überseeische Schwelle, an der also die Erdteile in viel engere Beziehungen treten müssen, wie an den auf große Strecken unterseeischen Schwellen, die den Eingang ins Mittel- meer in der Straße von Gibraltar und noch mehr die Grenze zwischen dem mediterranen Nordwest- und dem Südostbecken zwischen Sizilien und Tunesien bezeichnen. Die Ähnlichkeit des Bosporus mit dem Rheintale wird um so größer, wenn man sich letzteres, entsprechend der größeren Breite des Bosporus und der geringeren Höhe und Steilheit seiner Tal- gehänge zu größerer Höhe mit Wasser gefüllt denkt; denn auch an der engsten Stelle, dort wo die Türken bei der Belagerung von Konstantinopel auf beiden Ufern gewaltige Festen errichteten, die noch heute stehen, Anadoli und Rumeli Hissar, und dieselben durch Ketten verbanden , ist der Bosporus noch 660 m breit, so breit wie der Rhein zwischen Mainz und Kastei. An andern Stellen aber verbreitert er sich bis auf 3 km. Wie unser Rhein- tal ist der Bosporus flußartig gewunden, mit dem gleichen Paral- lelismus der Ufer, jedem Vorsprunge liegt eine Bucht gegenüber. Die Länge der Meerenge beträgt längs des Talweges gemessen 31,7 km (die Strecke Bingen — St. Goar 25,5 km), die gerade Entfernung der beiden Ausgänge nur 28,5 km (Bingen — St. Goar 23,5 km). Von einem erhöhten Standpunkte aus erscheint der Bos- porus wie das Rheintal in eine wellige Hochfläche eingeschnitten, die, abgesehen vom Nordende, aus denselben Gesteinen aufgebaut ist, wie unser rheinisches Schiefergebirge und wie dieses als eine Denudations- bzw. Abrasionsfläche aufzufassen ist. Es sind dieselben unterdevonischen (stellenweise vielleicht obersilurischen) Grauwacken und dunkeln Tonschiefer, zu denen auf der kleinasiatischen Seite eingelagerte Quarzite, die auch hier die höchsten gerundeten Er- hebungen bilden, und Kalkmassen kommen, alle Schichten wie im rheinischen Devon stark zusammengefaltet mit im allgemeinen nordnordöstlichen, also dem Bosporus parallelen Strichen. Auch — 6 — das Pflanzenkleid, das diese meist magere und wenig fruchtbare Verwitterungsschicht bedeckt, zeigt, wenn auch ganz anders zu- sammengesetzt, in seiner Dürftigkeit Anklänge an die ja in großer Ausdehnung mit niedrigem Hauwald von Eichen, Ginster und ähnlichem Gestrüpp bedeckten Höhen und Hänge unseres rhei- nischen Schiefergebirges. Nur in den Tälern und an den Ufern des Bosporus finden sich Anbau, Gärten und Baumpflanzungen und ist die auf den türkischen Friedhöfen ganze Haine bildende dunkle, schlanke Zypresse die einzige Baumform, die trotz der niederen Breite von 41 Grad Nord, also der Breite von Neapel, an den Süden erinnert. Die durch Nord- und Nordostwinde vom Schwarzen Meere und aus Südrußland herbeigeführte winter- liche Kälte hält hier noch fast alle immergrünen Mediterran- gewächse fern. Der Bosporus und die niedrige Schwelle der thrakischen und bithynischen Halbinsel ist das schlimmste Zug- loch, durch welches die Kälte des Nordens in das hier durch keinen hohen gefalteten Gebirgswall geschützte Mittelmeergebiet einbricht, die noch oft genug an der Ostseite von Griechenland bis in die Breite von 38^ Nord die Ölbäume erfrieren macht. Schnee- fälle sind in Konstantinopel keine Seltenheit. Noch im Jahre 1 903 fielen hier solche Schneemassen, daß der Straßenverkehr dadurch tagelang unterbrochen wurde. Ja, aus dem Mittelalter sind Winter bezeugt, in denen der Bosporus mit Eisschollen trieb. Nur wenige Ortschaften, von ärmlichen Ackergründen umgeben, wie die Dörfer der Eifel, sind beiderseits über die Hochfläche zu beiden Seiten des Bosporus verstreut. Gestrüppdickichte, denen allerdings die Baumheide, wo sie in Menge auftritt, im Frühling, wenn sie sich mit einer Fülle weißer, duftiger Blütenglocken bedeckt, einen besonderen Reiz verleiht, bedecken unabsehbar Höhen und Hänge. Nur an zwei Stellen, an dem noch zu besprechenden Heiligen Walde von Belgrad und auf der kleinasiatischen Seite, ziemlich fern von Konstantinopel, im Walde Alem Dagh gehen die Gestrüppe in hohen Wald über, ja in letzterem im sogenannten Vakuf-Ormani, in wahren jungfräulichen Urwald. Nur auf diesen verhältnismäßig kleinen Bereich ließe sich vielleicht die in Wirk- lichkeit nicht mehr vorhandene Bezeichnung ,, Baummeer" (Agatsch Denisi) anwenden, von dem man in Konstantinopel so viel hört und das noch immer auf den Karten spukt. Häufig, namentlich in dem ganzen Gürtel gegen das Schwarze Meer hin, sind diese — 7 — Gestrüppdickichte, die sich nur durch ihre Zusammensetzung aus vorwiegend laubabwerfenden Sträuchem von den immergrünen mediterranen Macchien unterscheiden, so hoch und so dicht, daß sie fast undurchdringlich sind und man sich leicht, da nur wenige erhöhte Punkte eine Übersicht gestatten, unrettbar verirren kann. Der Gegensatz zwischen diesen fast menschenleeren unabsehbaren Gestrüppdickichten über den lachenden Ufern des Bosporus ist ebenso groß wie zwischen den Ufern des Rheins mit seinen sich aneinander reihenden Städten und Dörfern, mit ihren Weinbergen und Obsthainen und dem rasch pulsierenden Leben auf und am Strome imd den rauhen Höhen der Eifel oder des Westerwaids, obwohl die Höhenunterschiede in der alten Devonscholle, in welche der Bosporus eingeschnitten ist, wesentlich geringere sind, wie im rheinischen Schiefergebirge. Dieselbe hat zu beiden Seiten des Bosporus nur eine Höhe von etwa 150 m und die höchste Erhebung in derselben, schon ziemlich weit nach Osten abgerückt, der Aldos Dagh nördlich von Pendik hat nur 531 m. Freilich die meisten Flüsse und Bäche, die die einförmige Hochfläche gegliedert haben, liegen im Spätsommer trocken da, da hier noch echt mediterran die Niederschläge noch auf den Winter angehäuft und die Sommer sehr regenarm sind. Diese Verödung der Um- gebung von Konstantinopel, das darin Rom gleicht, ist so zum Teil etwas natürlich Gegebenes, zum Teil aber eine Folge der Erschöpfung des Bodens infolge zu starker Inanspruchnahme Jahr- tausende hindurch. Mit diesem Wechsel einer regenreichen und einer regenarmen Jahreszeit, noch mehr aber mit dem der Bildung stärkerer Quellen ungünstigen geologischen Aufbaue des Landes, dem Überwiegen undurchlässiger Felsarten hängt auch die Schwierigkeit der Wasser- beschaffung für eine Großstadt an dieser Erdstelle zusammen. In dieser Hinsicht ist Ostrom sehr viel ungünstiger gestellt wie Rom, dem die Kalkstöcke des Appennin die Wasserschätze ihrer starken Quellen zusenden. Schon im Altertum spielte HerbeischaflFung von Wasser eine große Rolle. Die römischen Kaiser legten für den Fall, daß die Leitungen zerstört würden, riesige Zisternen, teils offen, teils überwölbt, auf den höchsten Punkten der Stadt an, die die Türken haben verfallen lassen. Aber 1200 Jahre alt führt noch heute der gewaltige von Schlingpflanzen über- wucherte Aquädukt, den Kaiser Hadrian begonnen, Valens voll- endet hat, von den Türken Bosdoghan-Kemeny genannt, über ein Tal hinweg dem Herzen von Stambul Wasser zu. Die Sul- tane des i6. und 17. Jahrhunderts haben die Leitungen verbessert und die Sammelbecken (Bend) vermehrt. Am Nordrande der thrakischen Halbinsel nämlich, nahe dem Schwarzen Meere, hat sich auf den abgetragenen Devonschichten inselförmig aufgelagert eine etwa 10 m mächtige Geröllablagerung wohl pliozänen Alters erhalten, an deren Sohle auf der undurchlässigen Unterlage der Devonschiefer starke Quellen zutage treten, deren Wasser in künsthchen Weihern, den sogenannten Bend, gesammelt und nach Konstantinopel geleitet wird. Der größte dieser Bends ist 800 m lang und faßt 8 — 10 Mill. Kubikfuß Wasser. Um diese Quellen nicht versiegen zu machen, wird der gewöhnlich nach einem Dorf Belgrad genannte W^ald, der dies Gebiet bedeckt, ein beliebtes Ausflugsziel der in Konstantinopel wohnenden Europäer, von jeher sorgsam geschont und bewacht, ja neuerdings ist die türkische Regierung dazu geschritten, die Bewohner der beiden Dörfer Bel- grad und Kömürdjikjiöi, um Holzdiebstahl und Verunreinigung der sieben durch das Waldrevier verstreuten Bends zu verhüten, zu verpflanzen und die Dörfer in Trümmer fallen zu lassen. Ein drittes Dorf Aiwafkjiöi ist schon in früherer Zeit aus diesem Grunde wüst gelegt worden. Aber trotz dieser Fürsorge ist Wasser in Konstantinopel immer eine kostbare Gabe und sind im Sommer ^venigstens, wo die zahlreichen Hauszisternen versiegen, Wasser- verkäufer Charakterfiguren im Straßenbilde. Nur der nördliche, der sogenannte obere Bosporus, zeigt von unserm Rheintale abweichende Formen, denn er ist in Erup- tivgesteine, namentlich Andesite eingeschnitten, deren größere Widerstandsfähigkeit steilere Hänge — oft wahre Felswände — und größere Höhe bedingt, so daß hier kaum Raum für Ansied- lungen ist, die, alle klein und ärmlich, mehr zu Wasser als durch felsige Pfade miteinander verbunden, sich in den Aus- gängen kleiner Täler eingenistet haben. So ist hier am oberen Bosporus der Landschaft auch infolge der dunkeln Färbung der Felsen ein ernster, düsterer Zug aufgeprägt, der schon auf das kurzwellige, insel- und hafenarme, ungastliche Schwarze Meer vorbereitet. Gemildert wird dieser Eindruck keineswegs durch die wahre Musterkarte älterer und neuerer Befestigungen und mit schweren Geschützen gespickten Batterien, die die Ufer bedecken — 9 — und Konstantinopel gegen die Angriffe der russischen Schwarze- meerflotte schützen sollen, wie ähnliche Befestigungen an den Dardanellen gegen eine von Süden kommende, etwa englische oder französische Flotte. Einem Strome gleicht der Bosporus auch insofern, als er wirklich mit fließendem, örtlich sogar mit stark strömendem Wasser, allerdings salzigem, wenn auch nur schwach salzigem (i.Q^o Salz- gehalt) gefüllt ist. Durch ihn gibt das Schwarze Meer seinen durch die zahlreichen und großen Ströme, die es aufnimmt, be- dingten Wasserüberschuß an das Mittelmeer ab, von dessen ge- waltigem Verdunstungsverlust allerdings der Bosporusstrom nur einen Bruchteil zu ersetzen vermag. Auch strömt das Wasser nur in der oberen etwas größeren Hälfte des Querschnitts der Rinne aus dem Schwarzen Meere aus, die untere ist von einer entgegengesetzten Strömung eingenommen, welche salzhaltiges Mittelmeerwasser dem Schwarzen Meere zuführt, das ohne diesen Unterstrom schon längst ausgesüßt sein müßte. An den engsten Stellen ist die Strömung, namentlich an den Landvorsprüngen, so stark, daß man es vorzieht, die Boote an Tauen vom Lande aus zu ziehen, da es sehr schwer ist, rudernd dagegen an- zukämpfen. Beträgt doch die Stromgeschwindigkeit in der eng- sten und tiefsten Stelle im Sommer unter dem Einfluß der nörd- Uchen Winde und des dann infolge des Hochwassers der Ströme hohen Standes des Schwarzen Meeres 9,5 km in der Stunde, d. h. mehr wie die Donau bei Wien bei mittlerem Wasserstande. Den Teufelsstrom, Scheitan Akentisi, nennen die Türken diese Gegend der stärksten Strömung. Auch die Schiff"ahrt wird von der Strömung beeinflußt, Segelschiff"e müssen sich gegen den Strom schleppen lassen. Gesundheitlich ist dieser Salzstrom, der allen Unrat, der hineingeworfen oder vom Lande hineingespült wird, ins Marmarameer hinausträgt, von unschätzbarem Wert. Unterstützt in dieser Wirksamkeit und zugleich verstärkt wird er gerade in der Zeit, wo es am nötigsten ist, im Sommer, durch den dann monatelang andauernden Nord- und Nordostwind, die Etesien der alten Griechen, der frische, reine Seeluft vom Schwar- zen Meer her zuführt und namentlich den Aufenthalt am oberen Bosporus, in Therapia und Bojukdere, wo daher im Sommer die europäischen Gesandten wohnen, so angenehm macht. Während des W'inters dagegen ist das Leben am Bosporus dem Süden lO — zugekehrt, dem Marmarameere, dessen hohe nach Süden geneigte Nordgestade, besonders an der höheren bithynischen Halbinsel und auf den lieblichen Prinzeninseln, so milde Winter haben, daß dort der Ölbaum gedeiht. Konstantinopel kann daher schon jetzt als eine gesunde Stadt gelten und wird vielleicht die gesundeste Weltstadt sein, wenn einmal europäische gesundheitliche Ein- richtungen zur Durchführung gekommen sein werden. Mit der Strömung, welche die Gewässer des Schwarzen Meeres durch diese enge Rinne zusammendrängt, hängt wohl auch der Fischreichtum des Bosporus zusammen, der außer- ordentlich ist. Nicht nur ein kleiner sardellenartiger Fisch, dort Ziros genannt, wird in großen Mengen, besonders im Frühling gefangen, sondern vor allem auch der mächtige Thunfisch, dessen Schwärme sich im Altertume, scheint es, viel mehr wie heute in der Meerenge und besonders im Goldenen Home zusammen- drängten, so daß ihr Fang wesentlich zur Ansiedlung der Griechen an dieser Stelle und der Handel mit geräuchertem Thunfisch zum Aufblühen von Byzanz beitrug. Die Stätte des ältesten Byzanz, die gegen den hier an der heutigen Seraispitze nur 1800 m breiten Eingang des Bosporus vom Marmarameere her vorgestreckte Spitze der durch das Gol- dene Hörn ausgesonderten Halbinsel, die, vom Meere ziemlich hoch aber mit gutem Baugrunde ansteigend, nur an der Land- seite einer schützenden Mauer von etwa 1500 m Länge be- durfte, erschien von der Natur so begünstigt, daß man die ersten griechischen Ansiedler an diesen Küsten, die sich in Chalkedon auf der asiatischen Seite auf der weit weniger gut ausgesonderten Halbinsel niedergelassen hatten, die heute Kadikjiöi trägt, der Blindheit zieh. Die erste Gründung einer griechischen, dorischen, Niederlassung an Stelle einer thrakischen Burg des Byzas, daher Byzantion genannt, wird in das Jahr 667 v. Chr. gesetzt. Von den Thrakern zerstört, aber 628 erneuert, blühte Byzantion durch Ausbeutung der Fischereien — das alte Byzanz führte einen Fisch im Wappen und Fischnahrung hat bei Belagerungen oft eine Rolle gespielt — , durch Beherrschung des gesamten Handels von und nach dem Schwarzen Meere, besonders der Getreideausfuhr aus den Getreideländern desselben, die also seit 2^1^ Jahrtausenden eine Rolle spielt, bald derartig auf, daß der Umfang ihrer Mauern 40 Stadien, 7 — 8 km Länge erreichte. Als Seestadt und als Beherrscherin der Wasserstraßen ist also Byzanz zuerst groß geworden. Und diese Rolle spielt auch noch das heutige Konstantinopel freilich fast ohne eigene Rederei. Reichten die Be- ziehungen von Byzanz lange wohl nur bis Griechenland, so die von Konstantinopel heute über alle Gestade des Mittelmeers bis nach Nordwest-Europa und durch den Suezkanal bis Indien. Byzanz vermochte sich, wenn auch unter wechselnden Schicksalen, als kleiner griechischer Freistaat bis in römische Zeit zu behaupten, wo sie durch Kaiser Konstantin neu gegründet und nach ihm benannt als Hauptstadt des römischen, später oströmischen, Reichs erst ihre volle weltgeschichtliche Bedeutung erlangte. Dies beruhte zunächst darauf, daß sie schon lange nicht mehr am Rande der griechischen Welt lag, sondern in dem ganzen weiten Bereiche der Getreideländer des Schwarzen Meeres ein großes wirtschaftliches Hinterland besaß, das gegen diesen Mittel- punkt gravitierte und nur durch ihn mit dem übrigen mediter- ranen Kulturkreise verkehrte. Die in das Schwarze Meer mün- denden großen Ströme waren ebensoviele Handelsstraßen, die schließlich in Konstantinopel zusammenliefen, zu denen aber die Wasserstraßen längs der Gestade dieses Meeres, namentlich längs dem Nordrande Kleinasiens und zahlreiche Karawanen- wege hinzukamen, die aus dem osteuropäischen Flachlande und von der aralokaspischen Senke her am Asowschen Meere und an der Bucht von Odessa ausmündeten. Durch die Ausdehnung des römischen Reichs nach Osten hin kam aber zu diesem nördlichen ein ebenso großes östliches „Hinterland" hinzu. Die Gunst der geographischen Lage erwies sich als ebenso groß wie die der topographischen. Dazu kamen nun alle Vorteile der Hauptstadt eines großen Reichs. So wurde Konstantinopel in spätrömischer Zeit eine Weltstadt, eine Rolle, die es das ganze Mittelalter hindurch spielte, wie namentlich die arabischen Geo- graphen sie stets als solche bezeichnen. Wie bis zu den Arabern Nordafrikas und Spaniens, zu den eben erst sich höherer Kultur erschließenden Völkern Mittel- und Nordwest-Europas, so dringt ihr Ruhm durch Vorderasien, ja vielleicht bis Ostasien, nach beiden Seiten auf Landwegen. Es sind besonders vier solcher Landwege, die hier zu- sammenlaufen und weite Länder mit gegensätzlicher natürlicher Ausstattung ihrer Erzeugnisse auf denselben auszutauschen an- 12 spornen, wie dies bei den schon angedeuteten Wasserstraßen an diesem Punkte der Fall ist. Die kleinasiatische und die süd- osteuropäische Halbinsel sind die Träger dieser Landstraßen und erscheinen so gleichsam wie die zwei Flügel einer Zugbrücke, die niedergelassen die Ländermassen Vorderasiens und Mittel- europas miteinander verbinden. Die Oberflächengestalt beider Halbinseln gibt dem einen Paare westöstliche, dem andern nord- westsüdöstliche Richtung. Letztere ist die bei weitem wichtigere. Wir können beide als sich in Konstantinopel schneidende Ge- rade auffassen. Die Nordwestsüdostrichtung erscheint besonders auf der südosteuropäischen Halbinsel als scharf orohydrographisch bedingt, indem die Gewässer der großen alten rumelischen Scholle, des Kerns der ganzen größeren Osthälfte der Halbinsel, auf der einen Seite von dem großen niederungarischen Senkungs- felde, durch welches die Donau aus Deutschland der südost- europäischen Halbinsel zustrebt, angezogen werden, also der den Nordrand der Halbinsel begleitenden Donau zustreben, Nischawa-Morawa, auf der andern Seite von den thrakischen, einer Fortsetzung des ägäischen Bruchgebiets, Maritza und Ergene, Diese wichtigste Verkehrslinie der ganzen südosteuropäischen Halbinsel, die Konstantinopel mit Belgrad, dem hydrographischen Mittelpunkte der ganzen mittleren Donau, verbindet, hat un- gefähr in der Mitte zwischen beiden, um das in die rumelische Scholle eingesenkte, durch die Iskerschlucht quer durch den Balkan zur Donau entwässerte Becken von Sofia zu erreichen, zwei Gebirgsschwellen zu übersteigen, die eine zwischen Nischawa und Isker, die im letzten Kriege zwischen Serben und Bulgaren umkämpften Höhen von Dragoman und Sliwnitza, 726 m, die andere zwischen Isker und Maritza, der Paß von Vakarel 845 m hoch. Die alte römische Heerstraße, deren Pflaster, wenn auch von den Türken wiederhergestellt, man noch im 16. Jahrhundert benützte, war hier durch Mauer und Tor geschlossen, das man seit dem 15. Jahrhundert, gewohnt, alle großen Römerbauten hier im Südosten mit dem großen Kaiser in Beziehungen zu setzen, Trajanstor nannte. Im Altertum und noch im Mittelalter hieß es Succorum claustra. Die Türken nannten es Kapulu Derbend (Torpaß). Der Pascha von Sofia hat dieses geschichtlich merkwürdige Denkmal, das von allen abendländischen Gesandt- schaften erwähnt wird, 1835 abgetragen. Nur ein kleines Tor — 13 — mit einem Turme ist noch in dichtem Buchenwalde erhalten. Hier lag die Grenze zwischen Ost und West, zwischen lUiricum und dem Orient. Auf dieser Diagonallinie haben sich die römi- schen Heere, die Heere der Kreuzfahrer und die türkischen Heere bewegt, welche gegen Ungarn und Mitteleuropa vor- rückten. Wie schon die Römer sie durch Militärstationen ge- sichert hatten, so hatten die Türken an ihr Militärkolonien an- gelegt, mohammedanische Inseki im unterworfenen christlichen Lande. Ihr folgt heute die große internationale Eisenbahnlinie Paris-Konstantinopel, eine Linie, welcher heute aus dem Herzen Europas nach Südosten vordringend, deutsche Gesittung und deutscher Handel unaufhaltsam folgt, wie sich schon, abgesehen von den mindestens 27^ Millionen Deutschen in Ungarn, in den starken, stetig wachsenden deutschen Kolonien in den End- punkten Belgrad und Konstantinopel, wie in dem Zwischenpunkte Sofia ausprägt. Wie so auf diesem Landwege aller Verkehr, der aus dem Donaugebiete und Mitteleuropa nach dem Orient geht, Konstantinopel erreicht, so auch der Verkehr, der sich der Donau als Wasserstraße bedient. In Kleinasien setzt sich diese Südostlinie in gleicher Richtung über das allenthalben wegsame innere Hochland nach der Oasenstadt Konia und den kilikischen Toren fort, dem Über- bzw. Durchgange durch den kilikischen Taurus nach Syrien und Mesopotamien: die Linie der durch deutschen Unternehmungsgeist gebauten sogenannten Bagdadbahn, die Ende 1904 bereits bis an den Gebirgswall des Taurus er- öffnet ist, künftig der kürzeste Weg nach Indien. Konstantinopel wird so in nicht ferner Zukunft der wichtigste Punkt an einer der wichtigsten Linien des Schnellverkehrs werden. Die westöstliche Linie wird durch die Nordküste des grie- chischen Inselmeers bestimmt. Von Saloniki aus überschreitet sie den gefalteten Gebirgswall, welcher der Westseite der süd- osteuropäischen Halbinsel ihren Charakter aufprägt und die große meridionale Erstreckung derselben bedingt, mit Hilfe der auch sie kennzeichnenden Becken, dem von Ostrowo, von Monastir, von Ochrida, und endigt, fast von Ochrida an dem Quertale des Schkumbi folgend, bei Durazzo. Die Römer hatten diese Linie, die allerdings westlich und östhch vom Ochrida-See Höhen von 1 100 m überschreiten muß, zur Via Egnetia ausgebaut, die zwischen Brundisium und Dyrrhachium, das Adriatische Meer querend, Rom — 14 — mit Konstantinopel verband. Auch sie ist bis nach Monastir durch eine Eisenbahn ersetzt, die sich als anatolische Bahn in der gleichen Richtung von Haidar Pascha an der asiatischen Seite des Bosporuseingangs heute bis Angora fortsetzt, als ur- alter Verkehrsweg aber bis nach Sivas, Armenien und Persien. Beide Eisenbahnen verdanken deutschem Unternehmungsgeist ihr Dasein. So ist Konstantinopel der Schnittpunkt von Land- und Wasserstraßen, die zu den geschichtlich wichtigsten der Erde gehören und auch in Zukunft wieder große wirtschaftliche Be- deutung erlangen werden. Daß diese Landstraßen den Bosporus aufsuchten und ihn an seinem Südende überschritten, nicht etwa am Nordende oder die Dardanellen, erklärt sich daraus, daß ersteres, wie wir sahen, unwirtlich und schwer zu überschreiten, letztere für den Verkehr abgelegen waren und nicht entfernt einen Punkt von gleicher topographischer Begünstigung besaßen. Sowohl von der europäischen, wie von der asiatischen Seite kann man die Dar- danellen, die auch an der engsten Stelle noch doppelt so breit sind wie der Bosporus, nur auf Umwegen erreichen. Aber noch ein Umstand ist für die Lage, für die Eignung von Konstantinopel zur Hauptstadt eines großen Reichs und für die Entwickelung zu einer Welthandelsstadt von größter Be- deutung: die natürliche Festigkeit, die Unangreifbarkeit sowohl zu Lande, wie zu Wasser. Sie verbürgte ununterbrochene Ent- wickelung, Anhäufung von Reichtümern, Kulturschätzen und Bil- dungsmitteln jeder Art, selbst in Zeiten des tiefsten Niedergangs und völliger militärischer Ohnmacht. Beide, die günstige Ver- kehrslage und die natürliche Sicherheit verleihen dieser Erd- stelle eine Lebenskraft, die kaum ihres gleichen auf der Erde hat. Seit beinahe 2000 Jahren blüht hier eine Weltstadt, die an Dauer wohl nur von der „ewigen" Stadt übertroflfen wird, aber keine Periode so tiefen Niedergangs gehabt hat wie diese. Diese beiden Eigenschaften seiner Hauptstadt allein ermöglichten dem byzantinischen Reiche sich durch alle Stürme der Völker- wanderung hindurch, ein Jahrtausend länger wie das west- römische zu erhalten, wenn auch zuletzt wie ein lebendes Fossil aus dem Altertume und lange nur auf die Hauptstadt beschränkt. Diese selbst aber ließ den Niedergang des Reichs nur in ge- ringem Maße erkennen; denn lange vor der Eroberung von Kon- stantinopel durch die Türken (1453) war die wirtschaftliche Kraft, die untilgbar dieser Erdstelle innewohnt, dem verkommenen Herrschervolke entglitten und wieder rasch wachsend, in die Hände von weit hergekommener Ansiedler übergegangen, die zuerst schüchtern und geduldet, bald aber als die wahren Herren auftraten und den gesamten Handel und Verkehr beherrschten : die Italiener. Wiederum wie in altgriechischer Zeit überwog der Seehandel. Die Genuesen, von deren Machtstellung noch heute der gewaltige Rundturm (aus dem 13. Jahrhundert) über Galata zeugt, beherrschten lange Zeit die Meerenge und das Schwarze Meer. Nach dem Vertrage von 1353 durfte kein byzantinisches Schiff ohne ihre Erlaubnis und Zoll in das Schwarze Meer ein- laufen. Das gleiche Schauspiel bietet uns die Gegenwart. Auch das türkische Reich ist verfault und verkommen, aber Konstan- tinopel sinkt und entvölkert sich darum nicht. Im Gegenteil, die mohammedanischen Bewohner, die Scharen von Beamten mit ihren Familien, denen in den verlorenen Landschaften der südosteuropäischen Halbinsel der Aufenthalt verleidet wird, drängen sich vorzugsweise in der Hauptstadt zusammen, vermehren aber die Zahl der bettelarmen Angehörigen des in allen seinen Gliedern und Schichten verarmten Herrenvolkes. Was den By- zantinern die Italiener waren, das sind den Türken, besonders seit dem Krimkriege, die Kolonien der europäischen Kultur- und Handelsvölker: Franzosen, Engländer, Italiener, neuerdings vor allem Deutsche. Wiederum ist das wirtschaftliche Leben^ ist aller Reichtum und abendländische Kultur nicht im alten Byzanz, sondern an der Nordseite des Goldenen Horns, in Galata und Pera zusammengedrängt. Diese europäischen Kolonien bilden, wie einst die Genuesen, einen Staat im Staate. Je mehr das Türkentum sinkt, um so mehr wächst ihre Zahl, ihr Reichtum, ihr Einfluß. Die natürliche Festigkeit von Konstantinopel ist noch heute die gleiche wie schon im Altertume, so sehr sich sonst auch die Verhältnisse geändert haben. Sie beruht darauf, daß man weder zu Lande noch zur See leicht an die Stadt herankommen kann und dieselbe schon in größerer Entfernung ausgezeichnete Verteidigungsstellungen besitzt, die auch eine schwächere Macht zu behaupten vermag. In der ältesten Zeit handelte es sich nur — i6 — um die Verteidigung der eigentlichen Stadthalbinsel an der Landseite, da das Meer fast zu allen Zeiten hinreichend Schutz gewährte, namentlich gegen Angriffe von Asien her. Wie noch heute Groß-Konstantinopel, war schon das alte Byzanz, das auch seinerseits oft belagert, aber selten erobert worden ist, nur durch Angriffe zu Lande und zur See zugleich zu bewältigen. Erst nachdem die Türken mit unsäglicher Mühe den Bosporus durch Ketten gesperrt hatten, die die noch heute stehenden gewaltigen Festen an der engsten Stelle verbanden, konnten sie zur eigentlichen Bestürmung der Stadt schreiten. Als die Stadt über die Stadthalbinsel hinaus gewachsen war und die Macht von Byzanz zu sinken begann, schien es am besten, die ganze thrakische Halbinsel durch eine Mauer zu sperren. Das war die vom Kaiser Athanasius 507 v. Chr. gebaute Mauer, die quer über die Wurzel der thrakischen Halbinsel vom Schwarzen zum Marmarameere führte. Ihr entspricht in der Gegenwart die etwas weiter zurückgelegene Linie von Tschataldscha, die vom Liman von Bojuk Tschekmedsche am Marmarameere längs dem Tale des dort einmündenden Flüßchens an den Liman von Derkos am Schwarzen Meere führt. Eine innere Verteidigungs- linie folgt den Höhen rings um Konstantinopel von Bojukdere am Bosporus bis Makri Kjöi am Marmarameere. Der Linie von Tschataldscha entspricht auf der asiatischen Seite die Linie des Riva Dere, dessen tief eingeschnittenes, fast die ganze bithy- nische Halbinsel querendes Tal eine ausgezeichnete Verteidigungs- stellung bietet, wenn eine kaum minder gute, nur etwas längere überwältigt sein sollte, die von Ismid aus längs dem unteren Sakaria führt. Wie so zu Lande ein Feind der Stadt leicht fern gehalten werden kann, so noch leichter zur See am Nordeingange des Bosporus wie an den Dardanellen, die daher beide zu beiden Seiten mit wahren Musterkarten von Festungswerken aus den allerverschiedensten Zeiten besetzt sind. Beide Meerengen sind ja auch jetzt durch internationale Verträge für Kriegsschiffe ge- sperrt. Solange der Herr von Konstantinopel auch im Besitz der Meerengen ist, stehen ihm die reichen Gestade des Mar- marameeres zur Verfügung, ist das europäische Gestade verloren, so bleibt das asiatische, beherrscht der Feind, von Norden kom- mend, das Schwarze Meer, so bleibt der Archipel und umgekehrt. Die Natur hat für Konstantin opel den Schutz vorbereitet, den — 17 — man einer modernen Festung durch einen Kranz weit ab- gerückter Forts zu geben sucht. Es gleicht einer befestigten Provinz. So hat sich Konstantinopel seit dem Altertume als Weltstadt behauptet, während seine Nebenbuhlerinnen Antiochien und Alexan- dria, auch ihrerseits im späteren Altertum Brennpunkte des Han- dels zwischen dem mediterranen und dem süd- und ostasiatischen Kulturkreise längst ihre Bedeutung verloren haben. Von den nahe gelegenen, durch Kunst und Gunst für kurze Zeit empor- gebrachten Nikomedien und Nikäa zu schweigen. Auch die Brennpunkte des italienischen Handels am Schwarzen Meere, die Endpunkte der großen asiatischen Karawanenwege gegen Ende des Mittelalters, Sudak und Kaffa in der Krim, hatten nur zeit- weilig Konstantinopel geschädigt. Durch die Eroberung Konstan- tinopels seitens der Türken hatte auch ihre Todesstunde ge- schlagen. Konstantinopel selbst erhielt dadurch allerdings einen ganz anderen Charakter. Die Seebeziehungen traten zurück, da ja unter der Herrschaft der Türken, eines durchaus festländischen Volkes, das nur vorübergehend unter großen Herrschern mit Hilfe griechischer Seemannschaften auch das Meer beherrscht hat, das Schwarze Meer völlig verödete. Konstantinopel wurde die Hauptstadt und der natürliche Mittelpunkt eines gewaltigen Reiches, das nicht nur die beiden Halbinseln umfaßte, sondern den größten Teil von Ungarn, die Länder um das Schwarze INIeer, Syrien und Mesopotamien, große Teile von Arabien und des Nordrands von Afrika, bis nach Algerien. Der politische Zusammenschluß dieses gewaltigen drei Erdteilen angehörigen Ländergebiets und die Behauptung desselben Jahrhunderte hin- durch war nur möglich von einem so ausgezeichneten Mittelpunkte aus wie Konstantinopel. Durch die türkische Eroberung ist auch der bauliche Cha- rakter der Stadt und die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung eine ganz andere geworden. Die hohen Minarets der zahlreich errichteten gewaltigen Moscheen, die allerdings vielfach die Sofienkirche zum Muster nahmen, die noch zahlreicheren Türbes, die Grabmäler von Sultanen und ihrer Angehörigen, die leichten türkischen Holzhäuser, welche an Stelle byzantinischer Steinbauten traten, von denen noch einige im Fanar, dem Stadtviertel der alten griechischen Familien am Goldenen, Hörn, dazu die Fischer. Mittelmeerbilder. 2 — i8 — gewaltigen Stadtmauern, Wasserleitungen, riesige Zisternen u. dgl. erhalten sind und vor allem die das Haus gegen die (Öffentlich- keit, gegen das Straßenleben abschließende Lehre des Islam gaben dem Stadtbilde ein völlig verändertes Aussehen. In den türkischen, wie überhaupt in den nichteuropäischen Stadtvierteln sind die Straßen meist eng, winkelig, durch die fensterarmen oder mit durch Holzgitter verschlossenen Fenstern versehenen kleinen, hölzernen Familienhäuser unfreundlich, schlecht gepflastert, voll Schmutz und Unrat, den zu beseitigen immer noch die herren- losen Hunde vorzugsweise berufen sind. Dazu kamen ferner ganz neue Bevölkerungselemente, die das heutige Konstantinopel in weit höherem Maße als die meisten Städte des Orients als ein buntes Mosaik von Stadtteilen erscheinen lassen, deren jeder von einem andern Volke bzw. Glaubensbekenntnis bewohnt wird, wenn auch die frühere scharfe Abgrenzung sich mehr und mehr verwischt. Zunächst zogen die neuen Herrn, die ethnisch so bunt gemischten osmanischen Türken, ein und nahmen die besten Plätze für sich in Anspruch. IVIit dem Wachsen des Reichs, dem ungeheuren Zuströme von Renegaten aus den verschiedensten Völkern — es sei nur an die vorzugsweise aus Christenknaben ergänzten Janitscharen erinnert, die vorzugsweise in Konstantinopel ihr Standquartier hatten — wuchs die mohammedanische Bevöl- kerung. Sie hat heute noch den größten Teil des alten Kon- stantinopel inne, bis an die noch wohlerhaltene, zum Teil drei- fache 6 km lange Mauer an der Landseite, durch deren Bresche nahe dem Nordende die Türken in die Riesenstadt eindrangen. Das älteste Byzanz auf der Spitze der Halbinsel, später die Akro- polis der Stadt, wurde der Herrschersitz, das alte Serai, ein großer, noch heute von mächtigen Mauern und Türmen um- schlossener und abgeschlossener Stadtteil, der aber auch viele Gärten, Kasernen u. dgl. enthält, aber heute nicht mehr von den Sultanen bewohnt wird. Neben den neuen Herren behaupteten sich aber auch die Griechen, wenn auch vielfach unterdrückt, durch Klugheit und List, durch ihre alte Kultur und wohl auch ihren Reichtum, den sie bald wieder zu mehren verstanden. In der Neuzeit hat eine bedeutende Zuwanderung von Griechen, von den Inseln des Archipels, aus Kleinasien und aus dem Königreiche stattgefunden, da eben Konstantinopel den Kindern dieses rührigen Volks ein gutes Fortkommen bietet, so daß Kon- — 19 — stantinopel wahrscheinlich noch heute die größte Griechenstadt ist. Die Griechen nannten sie auch schlechthin „die Stadt", wie noch die türkische Bezeichnung Stambul für die eigentliche Halbinsel- stadt erkennen läßt. Zu den Griechen kamen nun zum Teil ge- waltsam hier angesiedelt christliche Armenier hinzu, die wohl mindestens zu 150000 Seelen ganze Stadtteile bevölkern. Ferner Juden, vorwiegend sogenannte Spaniolen, aus Spanien vertriebene, die nach Charakter und körperlichen Eigenschaften unter allen Juden wohl am höchsten zu stellen sind. Die große christlich- abendländische, fast ganz italienische Kolonie, die die Türken vorfanden, dürfte zum großen Teil vernichtet worden sein. An ihre Stelle traten die sogenannten Levantiner, Nachkommen abend- ländischer Christen, fast ausschließlich romanischen Stammes, die lange Zeit als Vermittler zwischen Abendland und Morgenland eine wichtige, wenn auch meist wenig rühmliche Rolle gespielt haben, aber jetzt namentlich seit dem Krimkriege mehr und mehr gegen den frischen Zustrom aus dem Abendlande zurücktreten. In dieser europäischen Kolonie überwog früher die italienische Sprache, die aber seit dem Krimkriege durch das Französische etwas zurückgedrängt wurde, neben dem aber jetzt das Deutsche und das Englische eine immer größere Rolle spielen. Trotz des Sinkens der türkischen Macht ist Konstantinopel durch Zuwanderung beständig gewachsen und wächst es noch immer. In welcher Richtung, das schreibt die Lebensader der Stadt, das Goldene Hom und der Bosporus vor. Schon in by- zantinischer Zeit, da dem Wachstum landeinwärts die Entfernung von dieser Lebensader Grenzen zog und wohl schon damals wie heute außerhalb der großen Mauer nur noch von Gärten, mit Zypressen bestandenen Friedhöfen und Einzelhäusern unterbroche- nes offenes, steppenartiges Land sich ausdehnte, griff die Stadt auf die Höhen über das Goldene Hörn hinüber, Pera, heute der Sitz der europäischen Gesandtschaften, der europäischen Gast- häuser u. dgl., zu dessen Füßen unten am Strande, in genuesi- scher Zeit die Schififslände, Galata, sich zu einem wichtigen Stadt- teile, dem Hauptsitze des Verkehrs entwickelte. Dazu erlangte die kleinasiatische Ergänzung von Byzanz, ChrysopoUs, heute Skutari, größere Bedeutung. Schon vor der Eroberung durch die Türken war also Konstantinopel zu einer Dreistadt ausgewachsen, allerdings unter Überwiegen der Halbinselstadt. Daneben waren — 20 — aber auch schon in byzantinischer Zeit die Ufer des Bosporus weithin von Dörfern und Landhäusern besetzt, die in der Neuzeit mehr und mehr miteinander verwachsen sind, so daß man unter Konstantinopel als Wohnplatz jetzt neben Stambul alle die Städte, ja zum Teil Großstädten zu vergleichenden Ortschaften am Gol- denen Hom und am Bosporus verstehen muß, die sich auf dem europäischen Ufer nordwärts bis Bujukdere, auf dem asiatischen von KadikjÖi, das, neu und regelmäßig gebaut, nur von Euro- päern und Griechen bewohnt ist, bis Beikos ausdehnen, die Häuserreihen kaum hier und da und immer nur auf kurze Strecken unterbrochen, wenn die Ufer zu steil sind. Um die zahlreichen kleinen Buchten und in die Täler hinein, die alle weithin mit wohlbewässerten Gärten gefüllt sind, dehnen sich die Ortschaften um so weiter aus. Galata und Pera mit den heute völlig damit verwachsenen Ortschaften Beschiktasch, Pankaldi, Hankjiöi, der Judenstadt, und Halidj Oghlu kommen an Aus- dehnung und wohl auch an Einwohnerzahl Stambul gleich. Auch Skutari ist der Kern eines großen dicht besiedelten Wohnplatzes. Am oberen Bosporus sind Therapia und Bujukdere, fast als hätten sich an diesen herrlichen Buchten die Menschen vor be- ginn des unwirtlichen Engtales gestaut, ansehnliche Städte. ,,Die ganze 20 km lange Strecke von Konstantinopel bis Bujukdere bildet eine einzige fortlaufende Stadt von Wohnungen und Lust- häusem, Kiosken, Moscheen, Springbrunnen, Bädern und Kaffee- häusern. Die Gärten steigen in Terrassen empor und die mäch- tigen Zypressen der Begräbnisplätze krönen die Gipfel. Wenn man längs der Ufer einen Quai ausgeführt hätte, so würde dieser gewiß der schönste Spaziergang in der Welt sein. Die Reichen und Mächtigen haben aber ihre Häuser und Gärten dicht an und über dem Meere selbst haben wollen, und die schlecht gepflasterte Straße zieht sich oft durch elende Hütten, durch Torwege und zwischen hohen Mauern hin Oft nimmt der Weg plötzlich eine Wendung, du stehst vor einer Moschee, neben einem Spring- brunnen und unter mächtigen Platanen am klaren plätschernden Strom des Bosporus Und zehn Minuten weiter von dieser Szene des Lebens und Überflusses kannst du in eine weite, menschenleere Einöde treten. Du darfst nur auf die höchste Höhe hinaufsteigen, so liegt der thrakische Chersones, ein Hügel- land vor dir, auf welchem du kein Dorf, keinen Baum, kaum 21 einen Weinberg, sondern nur einen steinigen Saumweg erblickst. Der Fluch einer schlechten, habgierigen Verwaltung ruht auf diesen Fluren, — Wie ein mächtiger Strom windet die Meerenge sich durch lauter zusammenhängende Ortschaften, zwischen Pa- lästen, Moscheen, Kirchen, Schlössern hindurch, zwei Meere ver- bindend und zwei Weltteile trennend, sie bildet eigentlich die Hauptstraße von Konstantinopel, wenn man unter dieser Benennung das ganze Aggregat von Städten, Vorstädten und Ortschaften versteht, in welchem 800 000 Menschen beisammen wohnen." So drückte sich Moltke schon vor mehr als 60 Jahren aus. Noch heute gilt die Schilderung im wesentlichen. Die Bevölkerung dieses Groß - Konstantinopel kann man heute auf etwas über 1V4 Millionen Köpfe schätzen, wovon mehr als 100 000 auf das asiatische Ufer kommen, ein Wachstum, das zwar gegenüber dem der übrigen Großstädte Europas als langsam, aber in einem in Verfall befindlichen Reiche bedeutungsvoll ist. Und die bunte Mischung der sich auch schon im physischen Typus und in den Trachten als überaus bunt zusammengesetzt erweisenden Bevöl- kerung kennzeichnet auch ihrerseits die Weltstadt und die Haupt- stadt eines noch immer über drei Erdteile ausgedehnten Reichs. Die große Galata mit Stambul verbindende Brücke über das Goldene Hörn, über die sich von Sonnenaufgang bis Sonnen- untergang ein Strom von Menschen ergießt, bietet die beste Ge- legenheit, das bunte Bild auf sich wirken zu lassen. Zu der großen Ausdehnung der Stadt längs des Bosporus haben neben dem Raumbedürfnis, den topographischen Verhält- nissen, der Verkehrserleichterung auf dem Wasser vor allem auch, wie schon Moltkes Schilderung erkeimen läßt, die wunderbaren Reize beigetragen, mit denen die Natur diese Erdstelle über- schüttet hat. Deri Seadet, die Pforte der Glückseligkeit, so nen- nen die Türken ihr Konstantinopel. Diese Reize, das Vorhanden- sein zahlreicher Punkte, welche mit rinnendem Wasser zur Anlage von Springbrunnen, Bädern, üppigen, schattigen Gärten herrliche Blicke boten und zur Anlage von Villen unmittelbar an dem Ufer des nicht von Wellen und Gezeiten bewegten Meeres förm- lich einluden, bestimmten die Sultane ihren Wohnsitz aus Stambul an den Bosporus zu verlegen, wo sich nebeneinander, heute nur notdürftig unterhalten, die Riesenpaläste von Dolmabaghtsche und Tschiragan aus den Fluten erheben, während der jetzige Sultan — 22 — sich im Jildis Kiösk, inmitten weit ausgedehnter, ummauerter Gärten am Talgehänge über Tschiragan und dem durch seine auf einem Landvorsprunge gelegene schöne Moschee bekannten Ortakjiöi einen neuen Wohnsitz schuf. Diesem Beispiele folgten die Großen des Reichs und wer immer in der Lage war außer- halb der Stadt, sei es auch nur im Sommer, zu wohnen, vor allem auch die zahlreichen europäischen Gesandtschaften, mit ihrem großen Personal, deren jede neben einem Palaste in Pera einen meist inmitten großer Gärten oder am Meeresufer gelege- nen Sommerpalast besitzt, besonders in Therapia und Bujukdere. Jeder dieser großen Familien schloß sich meist eine von ihr ab- hängige Gefolgschaft an. Die mit Rücksicht auf sie verbesserten Verkehrsverhältnisse ermöglichten nun auch weniger Bemittelten sich am Bosporus niederzulassen und so sind einige dieser Bos- porusortschaften, am meisten wohl Kadikjiöi, geradezu zu Villen- städten geworden, in denen die Familien untertags in Stambul, Pera oder Galata, die dadurch den Charakter von Geschäfts- stadtteilen anzunehmen beginnen, beschäftigter Beamter oder Geschäftsleute wohnen. Das bedingt natürlich einen lebhaften Verkehr, der sich nur in Stambul selbst, in Pera und der näch- sten Umgebung aus den schon von Moltke angedeuteten Gründen mit Hilfe von Pferde- bzw. elektrischen Bahnen vollzieht, sonst allgemein zu Wasser mit ganzen Flotten kleiner Dampfer und auf zahllosen sogenannten Ka'iks, kleinen Ruderboten mit scharfem Kiel, die den ganzen Tag den Bosporus stromauf, stromab, von Erdteil zu Erdteil durchfurchen. Aber zu ihnen gesellen sich, um das Bild dieser einzigartigen, zugleich den herrlichsten Hafen bildenden Wasserstraße noch weiter zu beleben, große und kleine Segelschiffe, meist unter griechischer Flagge, und die größten Seedampfer, deren Ziel entweder Konstantinopel selbst ist und deren stets eine große Zahl am Eingänge ins Goldene Hörn vor Galata ankert, oder die die Meerenge nach kurzem Aufenthalte, oft auch ohne solchen durchfahren, einem ferneren Ziele zustrebend: der Donaumündung, Odessa, Sebastopol, Taganrog, Batum oder Tra- pezunt. Dazu ankert wenigstens im Sommer die türkische Kriegs- flotte im Bosporus den Sultanspalästen gegenüber, heute freilich mehr ein kostbares Spielzeug. Die Stadtteile am Ausgange des Goldenen Homs sind die Hauptsitze des geschäftlichen Lebens. Dort liegt ein Bazar und — 23 — viele Hans (Kaufhöfe), die Ministerien, die Hohe Pforte, die größten Moscheen usw. Je weiter von ihnen entfernt, um so toter er- scheint die Stadt, ganz besonders in den abgelegenen rein tür- kischen Stadtteilen von Stambul längs der Stadtmauer. Weite Flächen, die Stätten von Bränden, die bei dem Holzbau rasch ganze Stadtteile vernichten, liegen dort unbebaut. Am Goldenen Hom, ganz nahe der größten der drei nach Galata und auf die Nordseite des Goldenen Homs führenden Brücken liegt auch der Bahnhof, der Endpunkt der großen internationalen Linie, die von hier — ein Erfolg, den dem Sultan abgerungen zu haben ans Wunderbare grenzt — durch das alte Serai und durch die ganze Stadt nahe dem Marmarameere führt und an der Südwestecke der Stadt an dem Kastell der sieben Türme aus derselben austritt. Der Anblick und der Eindruck den die dreigeteilte Welt- stadt auf den zur See von Süden Kommenden macht, das Häuser- meer von Stambul mit den zahllosen, die Hügel krönenden hoch- ragenden Kuppeln und Minarets der Moscheen, der von Schiffen aller ^'ölker wimmelnde Bosporus und das Goldene Hörn, ist ein einzig großartiger, nie wieder verwischter. Einen Sitz des Welt- handels kann man Konstantinopel in der (Gegenwart freilich nicht nennen, wenn es auch noch der erste Einfuhrhafen der Türkei ist. Gewiß, die Stadt selbst und die Bedürfnisse ihrer Bewohner, der Hof, das Heer, die Verwaltung des zentralisierten Staates beleben schon einen bedeutenden Handel, sie ist auch Sitz und Ausgangspunkt von Küstendampferlinien, die die Gestade des Marmarameeres , des Archipels und des Schwarzen Meeres be- dienen, aber das Wirtschaftsgebiet, das sie noch beherrscht, Thrakien und das nördliche Kleinasien, ist klein und arm, Smyma beeinträchtigt es in Kleinasien, Saloniki auch seinerseits im Brenn- punkt einer die Erdteile verbindenden Verkehrslinie auf der Halbinsel, Odessa im Schwarzen Meere. Den größten Teil des Handels nach dem Schwarzen Meere sieht es ohne Umschlag zur See vorüber ziehen. Freilich fehlt es auch noch vielfach an den Anlagen, deren die Großschiffahrt der Neuzeit nicht entbehren kann. Die große Masse der Bevölkerung von Konstantinopel, besonders die türkische, ist arm und bedürfnislos bzw. nicht in der Lage, solche zu befriedigen. Es fehlt an Unternehmungsgeist, an Gewerbetätigkeit. Das heutige Konstantinopel macht seine — 24 — Eigenschaft als natürlicher und Verkehrsmittelpunkt eines un- geheuren, an Hilfsquellen der verschiedensten Art reichen Länder- gebiets wenig geltend. Es vermöchte sehr wohl der Sitz einer bedeutenden Gewerbstätigkeit zu werden, denn Arbeitskräfte und billige Nahrung sind in Fülle vorhanden, die Zufuhr von Rohstoffen zur See billig, auch Brennstoffe vermöchte das nahe- gelegene Kohlenvorkommen von Bender Eregli und Songoldak an der Küste des Schwarzen Meerer in Bithynien billig zu liefern. So groß und wichtig, so vielseitig anziehend Konstantinopel auch heute ist, seine relative Bedeutung ist eine geringere als in verschie- denen Perioden seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte, aber die Bedingungen sind noch immer vorhanden, daß seine Zukunft^ aber gewiß wieder in anderen Händen wie heute, eine der glän- zendsten Zeit der Vergangenheit ebenbürdge werden kann. Aber wie sich diese Zukunft in politischer Hinsicht gestalten wird, ver- mag auch der kühnste Flug der Phantasie nicht zu enthüllen. Als Hauptstadt eines Bulgarenreiches ist es nicht zu denken, wie es überhaupt zu der südosteuropäischen Halbinsel allein zu ex- zentrisch liegt. Es ist die natürliche Hauptstadt beider Halb- inseln. Wer immer diesen einzigartigen Erdenfleck besitzen wird, der wird auch wenigstens die benachbarten Gebiete beider Halb- inseln und besonders die Gestadeländer des Marmarameeres besitzen, oder die äußersten Anstrengungen machen müssen, um sie zu erwerben. 2. Ein Ausflug von Konstantinopel zur Höhle von Yarim-Burgas.O So merkwürdige Gegensätze die Zeit mit ihrer rastlos nach allen Seiten hin vordringenden Kultur und ihren Kulturraitteln auch allenthalben und namentlich im Orient geschaffen hat, einen größeren und drastischeren wird man kaum finden, als den von der i) Aus: Die Natur. Zeitschrift zur Verbreitung naturw. Kenntnis. Herausgegeben von Dr. Otto Ule u. Dr. Karl Müller von Halle. 8. u. 15. Jan. 1873. Nach Eröffnung der ersten Teilstrecke der Eisenbahnlinie Belgrad — Konstantinopel zu Konstantinopel im Juli 1872 geschrieben. — 25 — neuen Eisenbahn in Konstantinopel gebotenen. Dicht am Goldenen Hörn mit seinem Mastenwald, nahe an der großen Brücke, auf der vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang eine unglaublich bunte Menge, Vertreter aller Nationen des Orients und Okzidents, un- ermüdlich herüber und hinüber wogt, unmittelbar neben und zum Teil an der Stelle der alten, riesigen Mauer des Sera'i, des ehe- maligen furchterregenden Sitzes der Sultane, vor denen Europa zitterte, erhebt sich jetzt das neue (provisorische) Bahnhofsgebäude von Sirkedschi Iskelessi. Es ist einfach im Äußern, aber be- deutungsvoll als der Ausdruck der abendländischen Zivilisation, die langsam, aber unaufhaltsam und mit immer beschleunigterem Schritt auch am Gestade des Bosporus einzieht. Schon sind ihr die ]\Iauern des Herrscherpalastes, aus dessen Toren einst die Bestürmer Wiens auszogen, den Waffen der Kulturträger erlegen, vielleicht ein Fingerzeig für das Schicksal, das dem ganzen Tür- kentum bevorsteht. Es ist eine edle Rache Europas an den asiatischen Barbaren, die einst in ungebrochener Naturkraft und in religiösem Fanatismus so schwere Leiden und furchtbare Ge- fahren über dasselbe heraufbeschworen. Die Religion ist es, die noch am zähesten der von Westen kommenden friedlichen Um- wälzung widersteht und den Staat der Osmanli aufrecht erhält. Die alte und unscheinbare ^loschee, die noch immer mitten in der Bahnhofsanlage, der selbst die Türme des Serai nicht wider- standen, ihre alten Mauern trotzig erhebt, gibt dem deutlich Aus- druck. Recht eigentlich im Herzen des ungeheuren und vielgeglieder- ten Städtekomplexes, der sich an beiden Ufern des Goldenen Homes und des Bosporus wie an einem großen Kreuzwege lagert, beginnt die Linie, die einst Orient und Okzident eng verbinden wird. In einer glücklichen Stunde hat ihr der Padischah den Durchgang durch die ausgedehnten Baulichkeiten und Gärten gestattet, die, eine Stadt für sich, das Serai bilden. Jetzt hat er dies zwar bereut, aber zu spät; dafür muß jetloch ein langer Einschnitt, über den jetzt eine Brücke führt, in einen Tunnel verwandelt werden, damit der Großherr, wenn er, von seinem Palast von Dolmabaghtsche kommend, an der Sera'ispitze landet und durch das Kanonentor in das Innere des Sera'i hinaufreitet, nicht von dem Rauch und dem Lärm eines etwa durchgehenden Zuges belästigt werde. Dieser Vorgang, dem sich unzählige — 26 — analoge anreihen ließen, ist bezeichnend für die „Prinzipien", nach denen das osmanische Reich regiert wird. Dicht an der Seraispitze vorbei zieht sich die Linie schön gewunden durch das Serai, durchbricht dessen Mauern nochmals in der Nähe der Aja Sophia und geht dann, immer dem Gestade des Marmarameeres nahe bleibend, um dessen Buchten herum durch die ganze Stadt, die sie an den „Sieben Türmen" erst verläßt, eine Strecke, die man vom Goldenen Hörn her zu Fuß kaum in i^j^ Stunden zurück- zulegen vermag. Die Fahrt durch die Stadt ist sehr interessant; Geschichte und Altertum, wie landschaftliche Schönheit tragen dazu bei. Kaum hat man noch einen Blick auf das Gewimmel des Hafens und das bergansteigende Häusergewirr von Galata und Pera ge- worfen, so nimmt uns schon ein tiefer Einschnitt auf, und die altersgrauen Bauwerke des Serai schauen von der Höhe auf uns herab. Dann geht es vorbei an der Menagerie des Sultans, wo man hundert der größten und schönsten Strauße beisammen sehen kann, und zugleich eröffnet sich auch die herrlichste Aussicht auf das Marmarameer, das sich, von weißen Segeln belebt, in duftiger Bläue ausbreitet. Unfern erheben sich die lieblichen Prinzeninseln, der Schaumgeborenen gleich, aus den Wogen, Oxeias unwirtlicher Fels und Plateias romantisches Kastell, von Lord Bulwer erbaut; dahinter, einer mächtigen Kulisse gleich, der breite, weiß schimmernde Schneerücken des Olymp. Doch rasch entzieht sich dem staunenden Auge dies feenhafte Panorama, denn schon sind wir aus dem Serai hinaus, und Häuser oder auch die altersschwachen, von den Wogen unermüdlich unter- spülten Mauern, von denen einst griechisches Feuer auf die Schiffe der stürmenden Araber herabregnete, verdecken die Aus- sicht. Der moderne Bau des Finanzministeriums mit seiner mäch- tigen Säulenhalle und die schlanken und doch kräftigen Minarets der Aja Sophia und Achmedje, wie Wachen um die hohen Kuppelgewölbe gestellt, ziehen rechts auf der Höhe das Auge an. Auch die hohe, einst mit Goldblech bekleidete Säule des Hippodrom, um welche die blutigen Kämpfe der Zirkusparteien wüteten, ragt, eine traurige Ruine, über Häuser und Trümmer der Gegenwart empor. Rechts und links erheben sich die hölzernen Häuser, die mit ihrer bloßgelegten Rückseite einen ergötzlichen Einblick in — 27 — die liebliche Unordnung und Natürlichkeit eines türkischen oder armenischen Hauses gestatten. Hier und da kommt man an den Trümmern und bloßgelegten Fundamenten alter Bauten vorbei, oder eine von der Eisenbahn in die Mauern gerissene Bresche gestattet den Überblick über das Meer. Bald durcheilen wir auch den Wlanga-Bostan , den in Gärten verwandelten hom- förmigen Hafen des Theodosius, und an der Stelle, wo einst Galeeren ankerten, fliegt jetzt das Dampfroß durch üppige Gemüsebeete dahin. Der im Altertum Lykos jetzt Tschajyr genannte kleine Bach, der unter der alten Stadtmauer hin- durch in die Stadt eintritt und, oft unter Häusern versteckt, das flache Tal durchfließt, das die wellige Hochfläche von Stam- bul gliedert, bewässert dieselben. Er hat wohl auch den Hafen verlandet. Am äußersten Südwestende von Stambul, nahe an der ver- fallenen sog. Veste der „Sieben Türme" und nach ihr Yedi-Kule genannt, ist die Station, von der aus bereits seit Februar 1870 «ine Strecke von drei Meilen, bis Kutschuk-Tchekmedsche, dem Verkehr übergeben war. Sie liegt hoch auf dem steilen Meeres- ufer und bietet eine herrliche Aussicht. Auch außerhalb der Mauer geht die Fahrt immer am Gestade entlang; die malerisch- gigantische Mauer von Stambul zieht sich weithin über die Höhe zum Goldenen Hörn hinüber, während man am Meere an Ma- krykjöi und Sankt Stephano, den Sommerfrischen der Griechen, vorüberkommt. Sankt Stephano (seitdem durch den hier von den Russen diktierten kurzlebigen Frieden vom 3. März 1878 bekannt geworden), ganz von Griechen bewohnt, liegt mit seineu stattlichen Häusern mitten in Gärten, und von den Türmen seiner ansehnlichen Kirchen schallen die Glocken, zur Messe rufend. Auch Sankt Floria, ein großes Landgut des Sultans, ist schön gelegen. Landeinwärts ziehen sich weite Getreidefelder, schlecht bearbeitet wie man sieht, und, obwohl wir erst den 15. Juli zählen, nur noch die Stoppeln zeigend. Hunderte von Störchen suchen auf ihnen ihre Nahrung. Bei Kutschuk-Tschekmedsche wendet sich die Eisenbahn ins Innere des Landes, dem Ufer der Lagune entlang, die sich, einst der Jagdgrund Omer Paschas, der an ihrem westlichen Gestade sein großes Landgut AUbeykjöi hatte, etwa sechs Kilo- meter weit ins Land hineinzieht. Dieser Strandsee ist einer — 28 — schmalen Schublade gleich ins Land hineingeschoben^) und hängt durch einen so engen Kanal mit dem Meer zusammen, daß eine ehemals durch ein Tor gesperrte Brücke darüber führt. (Es ist ein echter Liman-See, eine vom Meere überflutete und durch eine Nehrung, das Werk der Brandung und Küstenversetzung, geschlossene Flußmündung.) Am Ende des Sees, wo ein nicht unbeträchtlicher Fluß, von den Eingeborenen kurzweg Tundschai (kaltes Wasser) genannt, einströmt, liegt unter einer herrlichen Baumgruppe der einsame Polizeiposten von Yarim-Burgas (Halb- Burgas). Unser Zug, der erste, der zur Probe so weit fuhr, hielt, und wir stiegen aus, um uns zunächst für die noch kommenden Strapazen mit einem vortreß"Iichen Mahle zu stärken, das wir aus unserm Hotel in Pera mitgeführt hatten. Es reichte nicht nur für unsere aus sieben Personen bestehende Gesellschaft, sondern auch für die fünf Saptiehs des Postens, die, an Brot und Zwie- beln gewöhnt, noch nie so lukullisch gespeist hatten. Bieder und freundlich, wie alle Türken niederen Standes, besonders in der Provinz, ließen sie sich trotz ihrer zerfetzten und schmutzigen Uniformen mit der Würde und dem Anstände eines Königs von ihren Gästen, den unbekannten Giaurs, bewirten, ihrerseits mit einem trefflichen Kaffee aufwartend, dem einzigen Genuß neben dem Tschibuk, den diese Naturkinder kennen. Im Schatten einer riesigen Platane waren wir gelagert, doch nicht allzunahe; denn auf derselben hatten ein Storchenpaar und Tausende von Sperlingen ihr Quartier aufgeschlagen, deren Nester alle Zweige bedeckten und sogar ringsherum in das Storchennest hineingebaut waren. Der ganze Wachtposten liegt sehr einsam und befindet sich mit seinen Insassen in dem bekannten verwahrlosten Zustande, der alle dem Staate gehörige Einrichtungen außerhalb Konstan- tinopels auszeichnet. Ein steinernes Wachthaus und ein elender, halb in Trümmern liegender Han gerade gegenüber waren die ganzen Baulichkeiten. Ein gut erhaltener Brunnen fehlte nicht. Es galt von hier aus zu Fuß das Ziel unseres Ausflugs, eine neuentdeckte Höhle zu erreichen. Einer der Saptiehs fand sich bereit, uns nach der eine halbe Stunde entfernten Höhle zu i) Daher der Name. Kutschuk (d. h. klein), im Gegensatz zu Bujuk- Tschekmedsche (große Schublade), einem ganz ähnlichen Strandsee etwas weiter nach Westen. — 29 — begleiten. Es war ein Veteran von mindestens 60 Jahren, ein Araber von kräftiger, hoher Gestalt und dem Anstand eines Königs. Er verkürzte uns den Weg durch Erzählungen aus seinen Feldzügen, namentlich gegen die Ägypter in Syrien, vor 30 Jahren, wobei er mit Stolz des Aga Moltke erwähnte, den er oft begleitet hatte. Der Weg führte auf einer wohl noch der Römerzeit an- gehörigen gepflasterten Straße im Tale des Tundschai hinauf, das sich bei der Höhle ziemlich verengt und mit seinen pitto- resken Kalkfelswänden eine ganz hübsche Landschaft bildet, der nur der gänzliche Mangel an Menschen und menschlichen Woh- nungen den Charakter der Verlassenheit gibt. Dicht am Wege sprudelt eine klare und kühle Quelle von beträchtUcher Stärke aus dem eozänen Kalkgebirge, das hier beginnt. Sie dürfte der zutage tretende, in ein tieferes Niveau getretene unterirdische Wasserlauf sein, der die Höhle erzeugt hat. Omer Pascha, der Feldherr des Krimkrieges, hat sie in ein Becken fassen lassen, und Mustapha, unser alter Araber, war sofort mit der Volkssage bei der Hand, die er natürlich als unzweifelhafte Wahrheit vor- trug, daß das Wasser aus der Donau komme und unter dem ganzen Balkan durchgehe. Derartige Sagen gehen übrigens in Thrakien von fast allen mit größerer Stärke aus dem Kalkgebirge hervorbrechenden Quellen. Nahe dabei an der rechten Talwand und am linken Ufer der Tundschai sind die beiden Eingänge zu der Höhle, der eine in geringer Höhe über der Talsohle, der andere etwas höher, etwa 25 m über derselben. Ein breiter und hoher Gang führt geradeaus in den Berg hinein, etwa 40 m lang, verengt sich dann, während ein breiter Eingang rechts in einen großen, min- destens 4 m höher liegenden Saal hinaufgeht. Derselbe hat in der größten Breite nach meiner ungefähren Messung 12 m , ist 30 m lang und in der Mitte 13 bis 14 m hoch; er ist fast bis in den Hintergrund hell erleuchtet, da er vom eine 8 bis 9 m breite und 6 m hohe Öffnung gegen das Tal hat. Diese große Halle ist im ganzen ein Werk der Natur; aber in ihrem vorderen Teile finden sich überall Spuren von Menschenhand, so nament- lich an der Südseite, dem unterirdischen Eingang schräg gegen- über, drei in den weichen Kalkfelsen gehauene Nischen. Die erste und größte, deren Öffnung an der Basis etwa 5 m Weite — 30 — hat, hat ganz die Form einer Apsis, und im Hintergrunde der- selben sind drei Sitzreihen eingehauen, die amphitheatralisch auf- steigen, aber so niedrig und schmal sind, daß 15 Personen, für die der Platz hinreichen würde, höchst unbequem sitzen mußten. In der Mitte befindet sich ein größerer und höherer Sitz. Neben dieser Nische und mit ihr durch einen i m breiten, 2 m hohen und ebenso langen Gang verbunden, befindet sich eine kleinere viereckio-e Nische, in deren Hintergrunde eine Art Altar aus dem Felsen gehauen ist. In der Wand sieht man Löcher, worin viel- leicht Balken zum Verschluß der Nischen befestigt waren, wäh- rend andere ähnliche Löcher höher oben, sowie breite Einschnitte bis gegen die Decke hinauf darauf hindeuten, daß die Grotte durch Scheidewände in mehrere Abteilungen zerfiel. Auch an der Decke erkennt man Spuren menschlicher Arbeit, da dieselbe vier Aushöhlungen in der Gestalt eines Kuppelgewölbes zeigt, während die Grotte in der Mitte sich zu einer hohen, offenbar aber natürlichen, ziemlich spitz zulaufenden Kuppel emporschwingt. Eine fünfte, den vier kleineren entsprechende Wölbung ganz an der weiten, vorderen Öffnung ist mit der Decke, wie es scheint, gewaltsam zerstört. Ganz im Hintergrund der Halle ist in einiger Höhe und durch Stufen zugänglich ein viereckiger Block oder Sitz aus- gehauen, und ein tiefes und enges Loch führt in den Felsen hinein. Der Boden ist dick mit altem Schafmist bedeckt, und die Decke hier und da, namentlich vorn, von Rauch geschwärzt, von Inschriften jedoch keine Spur. Auch außerhalb der Höhle sieht man an den Felsen mannig- fach, am häufigsten nach der Quelle hin, Spuren von mensch- licher Arbeit: ausgehauene Terrassen, Reste von Treppen, Riste und Balkenlöcher, als ob ein Haus schräg an den Felsen angebaut gewesen wäre u. dgl. Wozu nun das Ganze gedient, dürfte schwer zu bestimmen sein; vielleicht gelingt es einmal einem Archäologen von Fach, der ohne Lieblingsideen und Vorurteile die Grotte untersucht, das Rätsel zu lösen. Dieselbe war bisher den Konstantinopler wie den abendländischen Gelehrten, soviel ich weiß, unbekannt, und ich kenne daher nur zwei Meinungen über ihre Bedeutung. Die eine ist die des Herrn von Hochstetter, der im Sommer 1869, als er für die Zwecke der türkischen Eisenbahngesellschaft — 31 — die Balkanhalbinsel durchreiste, auch der Sankt Georgshöhle, so nennen die Griechen dieselbe, einen flüchtigen Besuch abstattete. Er vermutet, sie habe als geheime Kultstätte der ersten Christen gedient. Dem widerspricht aber der Umstand, daß unsere ganze Reisegesellschaft, obwohl sie Ähnliches erwartet und daher eifrig danach gesucht hat, auch nicht das geringste, darauf hindeutende Abzeichen, ein Kreuz oder dergleichen, entdeckt hat. Die ganze Anlage hat durchaus keinen christlichen Charakter. Die andere mir bekannte Ansicht ist die des Dr. Dethier, eines seit 30 Jah- ren in Konstantinopel ansässigen deutschen Gelehrten, der um die Erforschung der dortigen Altertümer manches Verdienst hat, in diesem Falle aber die Neigung erkennen läßt, gewisse Lieb- lingsideen überall verwirklicht zu sehen. Er findet nämlich in dieser Grotte, die er in unserer Gesellschaft besucht hat, eine Opferstätte von Phalbauern, die, zu den von Troja an den Stry- mon auswandernden Päoniern gehörig (so interpretiert er Hero- dots Angabe), auf dem Durchzuge an der nahen Lagune von Kutschuk-Tschekmedsche sitzen blieben. Es bedarf wohl zur Würdigung dieser Theorie kaum noch der Bemerkung, daß man von dortigen Pfahlbauten noch nicht die geringste Spur ent- deckt hat. So viel scheint mir indessen klar zu sein, daß man in der Tat eine Kult- und Opferstätte vor sich hat, und zwar eine heid- nische, vielleicht sogar einen Orakelsitz der Thraker. Darauf mag der erhöhte Sitz im Hintergrunde der Höhle mit dem Loch im Felsen hinweisen, während in der amphitheatralischen halb- runden Nische die Priesterschaft ihre Sitze hatte, den Oberpriester in der Mitte, und durch den Gang mit den in der viereckigen Nebengrotte Opfernden in Verkehr stehend. Dies möge über die große Halle genügen. Ich hatte schon erwähnt, daß der untere Gang an der Stelle, wo man rechts in jene hinaufsteigt, sich bedeutend verengt, und zwar zu einer Breite von 2 und einer Höhe von i\'^ m. Gleich darauf er- weitert er sich aber wieder, und die eigentliche innere Höhle beginnt mit einer imposanten, 16 bis 17 m breiten und etwa 25 m hohen Wölbung, deren Stalaktiten, von bengalischem Feuer beleuchtet, magisch erglänzten. ^lit allem zu einer solchen Ex- pedition Nötigen versehen, drangen wir vor; ein Matrose des in Konstantinopel stationierten französischen Kriegsschiffs, dessen — 32 — Kommandeur in unserer Gesellschaft war, war mit Feuerwerk, Tauen und langen Leinen beladen, während wir selbst Signal- pfeifen und Wachskerzen führten. Nach dieser ersten Erweiterung nahe am Eingang verengt sich die Galerie sofort wieder und wird so eng, daß die frag- lichen Benutzer der Höhle, wenn nicht erst Omer Pascha, in der Mitte einen zwei Fuß tiefen und ebenso breiten Gang in den Boden gehauen haben, um aufrecht gehen zu können. Der Weg steigt mehr und mehr, und an einer Stelle, etwa ^4 Stunde vom Eingange, war ich überrascht, an einer Seitenwand neben einer etwas älteren, völlig unleserhch gewordenen lateinischen Inschrift mit deutschen Buchstaben in den weichen Kalkstein eingekratzt zu lesen: ,, Ziegler 181 1". So weit ist also schon in diesem Jahre allem Anschein nach ein Landsmann vorgedrungen. Nach 40 Minuten Gehens zweigte sich links steil abwärts ein unzugäng- licher Hühlenraum ab, gleich darauf ein zweiter. Nach einigem Steigen erreichten wir eine große Halle, wo der Weg sich gabelt, imd wir die Galerie rechts einschlugen. Bis hierher war unser biederer Mustapha an der Spitze marschiert, fast unaufhörUch mit sonorer, klangvoller Stimme Gebete aus dem Koran singend, zur Verscheuchung der bösen Geister. So weit kannte er das Terrain; als wir aber noch weiter vordrangen, verzichtete er auf die Führerschaft und schloß sich dem Ende des Zuges an, um dem Padischah das Leben seines besten Saptiehs nicht zu gefährden. Schöne Tropfsteinbildungen zeigten sich an den Wänden und an der Decke, Säulen ragten empor, eine mitten in der Galerie und gegen 8 m hoch, i bis 2 Fuß stark, bis zur Decke reichend. Bald hörten wir in der Ferne ein schrilles Pfeifen, das, je mehr wir vorrückten, immer lauter ertönte, und schließlich umschwärmten uns Tausende von Fledermäusen, welche Wände und Decke schwarz bedeckten. Der Glanz unseres ben- galischen Feuers scheuchte sie noch mehr auf, und so zahlreich umschwärmten sie uns, daß man nur die Hand auszustrecken brauchte, um eine zu fassen. Schon war unserm Vordringen ein Ziel gesetzt, denn die Höhle verengte sich plötzlich so, daß man auf Händen und Füßen hätte weiterkriechen müssen. Dazu war niemand von der Gesellschaft geneigt, obwohl ich überzeugt bin, daß der Gang sich bald wieder erweiterte, denn viele Fleder- mäuse kamen aus der engen Öffnung hervor. Außerdem war — 33 ~ aber der Rauch so dick geworden, daß man nur noch mit Mühe atmete. Ein schneller Rückzug war daher unvermeidlich, und wir konnten nicht feststellen, ob die Höhle, wie Mustapha mit ernster Miene erzählte, wirklich bis Stambul geht. Bald erreichten wir den Kreuzweg wieder und schlugen nun den anderen Gang ein, der, beständig aufwärts steigend, der allgemeinen Richtung der Höhle nach Süden folgt. Nach kurzem Wandern erreichten wir das Ende desselben, das nur kriechend erreichbar war, und wo ich eine durch den Felsen sich drängende abgestorbene Baumwurzel fand, also ein sicheres Zeichen, daß wir der Erdoberfläche an diesem höchsten Punkte der Höhle nicht fern waren. Die Tem- peratur war auch überall eine hohe und nie unter 1 5 ** R. Nachdem wir Vaterland und Jahreszahl mit unsern Kerzen an die Decke gemalt, traten wir den Rückweg an, auf dem deutsche Volkslieder, von einem jungen englischen Diplomaten angestimmt, Mustaphas Geistergesänge ersetzten. Auch an Zwi- schenfällen hatte es nicht gefehlt; denn oft genug fiel man in ein tiefes, mit Wasser oder Schlamm gefülltes Loch oder rutschte auf dem schlüpfrigen Fledermausguano, der dicht den Boden bedeckte, einen Abhang hinab. Omer Pascha, als erfahrener Landwirt, hat viel davon hinausschaffen und als Dünger ver- wenden lassen; man sah noch hier und da zusammengeworfene Haufen. Bis zum fernsten Punkte, den wir erreicht, mochten es etwa 50 Minuten Weges sein, und nach zweistündigem Aufenthalt im Innern der Höhle traten wir wieder an das Tageslicht. Wir kehrten nach Yarim-Burgas zurück, wo auch unser Zug, der noch bis ans Ende der fertiggestellten Linie, nach Tschataldsche, ge- fahren war, nicht lange auf sich warten ließ und uns nach Kon- stantinopel zurückbrachte. 3. Landschaftsbilder von der bithynischen Riviera.^) Will man im Grient das Schöne suchen, so gibt es nur zwei Wege, entweder man muß sich an die dürftigen Reste des Alter- tums halten, soviel ihrer Zeit und Barbaren gelassen, oder aber, l) Das Ausland. Hersg. von Fr. von Hellwald. Augsburg 14. Okt. 1874. Es ist anziehend mit der vorliegenden die Schilderung zu vergleichen, Fischer, Mittelmeerbilder. 3 — 34 — und das ist das sicherere, an die Natur, die hier so prächtig wie nur irgendwo ihre Tempel erbaut hat. Die Menschen der Neu- zeit haben nichts zu dem Bau beigetragen, nur zu seiner Zer- störung. Jahrhunderte lang haben sie daran gearbeitet, täglich noch arbeiten sie daran, und der an den Anblick sorgfältiger Pflege und Unterstützung der Natur gewöhnte Nordländer hat Mühe sich über die tägliche Vernichtung, die nie etwas Neues, selbst wenn es nicht besser und schöner wäre, dafür schafft, hinwegzusetzen, und der Freude an dem noch vorhandenen Ein- gang zu verschaffen. Und es ist noch herrlich genug was übrig geblieben! Füge hinzu, was die Vergangenheit auf jedem Schritt dem Kundigen erzählt, und die Gegenwart an Neuem, Ungewohntem bietet, und der Orient wird vor deinem erstaunten Auge liegen wie ein offenes Buch in mächtigen halbverwischten und schwer zu deuten- den Charakteren, die mit jedem neuen Aufschlagen immer ver- ständlicher werden, immer neue Geheimnisse enthüllen, neue Ge- nüsse bringen. Einen der schönsten und anziehendsten Ausflüge, die man von Konstantinopel, das jemand eine vor die Säue geworfene Perle genannt hat, aus machen kann, ist der in den Golf von Ismid. Schreiber dieses hat denselben, da er bislang nur zu Wasser möglich ist, auf der „Sefa", einem kleinen einem Italiener gehörigen Dampfer in einer internationalen Gesellschaft gemacht, wie sie Konstantinopel in allen Schichten der Bevölkerung kenn- zeichnet, was den Reiz einer solchen Fahrt nur erhöhen kann. Aus dem Bosporus ausgelaufen, hielten wir uns immer nahe an der asiatischen Küste, wo jenseits Skutari auf der Höhe des Ufers der Riesenbau der Selimieh Kischla, wohl die größte Ka- serne der Welt, von vier hohen schlanken Türmen flankiert, sich erhebt. Ihr gegenüber das große Militärhospital von Haider Pascha, und vor demselbem der englische Friedhof mit dem schönen Obelisken, der, ein Denkmal des während des Krim- krieges hier ihren Wunden erlegenen englischen Soldaten, uns auch an manchen verlorenen Sohn Deutschlands erinnert. Eine welche General v. d. Goltz ein Vierteljahrhundert später von der bithynischen Riviera und dem Golfe von Ismid gegeben hat, auf dessen noch immer nicht gewürdigte Naturschönheiten auch er nachdrücklich hinweist. Anabolische Ausflüge. Berlin 1896. S. 73 ff. u. 372 ff. OD geräumige Bucht wird jetzt durchschnitten, in deren Hintergrund man die Arbeiten zu der Anlage eines Hafens, und unter Bäumen versteckt das noch nicht ganz beendete Stationsgebäude der neuen Eisenbahn erblickt. Jenseits zieht sich die Höhen hinauf der düstere Zypressenwald des großen Friedhofes von Skutari. Doch nicht lange haftet das Auge an diesem Totenhaine, denn schon liegt auf einem hohen Plateau weit ins ]\Ieer vorgestreckt Kadi-kjöi vor uns, das alte Chalkedon, jetzt wieder zur schönsten Stadt am Marmarameer emporgeblüht, fast ganz von Griechen bewohnt, deren schmucke, luftige Häuser freundlich herüber- schauen, der letzte Vorort von Konstantinopel nach Süden hin. Dann eine neue Bucht und ein neues Vorgebirge, Fener Burnu (Leuchtturmspitze) von seinem hohen Leuchtturm so genannt, der sich vor einem Wald von Platanen, Therebinten, Zypressen und Pinien erhebt, dem Belustigungsort der Chalkedonier. Hier stand einst ein römischer Kaiserpalast und ein Tempel der Aphrodite. Hier kann man noch heute an einem Sonn- oder Festage Grie- chinnen sehen, die, wie einst eine ihrer Ahnen, würdig wären als Modell einer Aphrodite zu chenen. Denn was man auch immer, und meist mit Recht, von der Entartung der Griechen am Bosporus (wenn man diese Byzantiner Grieclien nennen darf) anführen mag, das eine wird man nicht leugnen können, daß sie wohl infolge der beständigen und starken Zuwanderung von Insel- griechen noch immer die hohen Körpervorzüge der Hellenen zu Phidias' Zeit besitzen, und an geistiger Begabung alle übrigen Völkerschaften des türkischen Reiches weit hinter sich lassen. Das ganze Ufer von Skutari an bietet einen herrlichen An- blick. Üppig grüne Gärten, wo, neben Aprikose und Pfirsich, Mandeln und köstliche Feigen reifen, wechseln ab mit reich ge- segneten Rebengeländen und gelben Getreidefeldern, bis fem auf den Höhen steiniger Boden und Mangel an Wasser jeden Acker- bau unmöglich machen. (Die Eisenbahn hat hier ganze Villen- siedelungen entstehen lassen.) Buchten schneiden in das Land ein, und mehrere kleine Eilande unfern der Küste, steil aus der Flut emporsteigend, und schon in ihren Fundamenten unter- waschen, deuten darauf hin, daß hier die Wellen eine reiche Beute gemacht haben. Bis nach den Prinzeninseln bemerkt man geringe Tiefe und aufragende Klippen. Das größte dieser Land- trümmer — es sind die Fortunas genannten Klippen — war 3* — 36 - bebaut, und sein sanft nach Norden abgedachter Rücken trug einen Wein- und Obstgarten, in dessen Mitte sich ein Erdhügel erhob, die Wohnstätte des einsamen Menschenkindes, das auf dieser Klippe haust; unten unter dem überhängenden Felsen lag ein kleiner Nachen, ein schwaches Brett, das den Einsiedler mit der Welt verbindet. Wald findet man an dieser Küste nicht; die einst hier hau- sende Zivilisation hat ihn schon vor einem Jahrtausend vielleicht verschlungen, und die Trägheit und Beschränktheit der Bewohner läßt keinen wieder aufkommen. Aber üppiges Buschwerk von Eichen, Arbutus, Lorbeer und Myrthen, und andern aromatischen Sträuchem der mediterranen Buschvegetation (Macchien) bedeckt die unbebauten Hänge. Nur zu oft wird es niedergehauen, um als einziges dürftiges Feuerungsmaterial zu dienen. Nur von Obstbäumen umgeben strecken sich die Ortschaften am Ufer hin, Kartal und Pendik die bedeutendsten , die Höhen dahinter sind kahl und verbrannt. Pendik ist das alte Panteichion, der Lieb- lingsaufenthalt Belisars, der hier ein Landgut hatte, und von seinen Feldzügen ausruhte, wie uns Prokop von Cäsarea erzählt. Etwas nördlich davon, der Insel Proti gerade gegenüber, erhebt sich über dem gleichnamigen Städtchen unten am Strande der 400 m hohe Maltepe, nächst dem nahen Kaisch Dagh der letzte hohe Berg der bithynischen Halbinsel gegen Konstantinopel hin, bei den Byzantinern Auxeneis genannt, nach einem Einsiedler, der hier ein Kloster errichtete, dessen Trümmer man noch am Nordwestabhang erblickt. Zugleich war aber diese Höhe auch die letzte Station des berühmten Feuertelegraphen, den unter dem Kaiser Theophilos (833 — 842) der große Mathematiker und Astronom Leo einrichtete, und der auf einer Höhe bei Tarsus in Kilikien beginnend, in kurzer Zeit nach Konstantinopel meldete, wenn die Araber die Reichsgrenzen überschritten. Von Pendik südostwärts beginnt eine reichere Gliederung der Küste, kleine Halbinseln, Tuz Burnu, Ütsch Burnu, strecken sich vor und am Yelken Kaya Burnu nimmt die bis dahin Süd- ost streichende Küste Ostrichtung an und man fährt in den Busen von Ismid, den Sinus Astacenus der Alten ein, der sich in einer Länge von gegen 48, und einer Breite von etwa 5 km, sich aber zuletzt auf 2 — 3 verengend, genau von Westen nach Osten in das Land hinein erstreckt; jetzt so genannt nach der — 37 — dürftigen und von Fiebern heimgesuchten Stadt Ismid oder Is kimid, dem alten prächtigen Nikomedia, dem Sitze der Auguste und Cäsaren des Ostens, mit dessen Glänze Kriege, Barbaren, Perser und Türken gründlich aufgeräumt haben. Dieser Golf, fast einem Binnensee gleich, ist einer der schönsten der Welt, und die Herrscher von Byzanz wußten ihn wohl zu schätzen, denn sie bauten sich hier Lustschlösser und hielten sich oft dort auf. Biegt man um das Kap Yelken Kaya, wo ein mächtiger Felsblock, einem zertrümmerten Turm nicht unähnlich, sich aus den Fluten als VVogenbrecher erhebt, so öifnet sich eine herrliche Aussicht in das Innere des Meerbusens. Auch die Natur nimmt einen andern Charakter an; der Hang des langsam aufsteigenden, dem Süden zugekehrten Gebirges, auf der letzten Strecke jenseits des Vorgebirges ohne alle Kultur, ist gut angebaut und prangt im Grün der Reben, untermischt mit graugrünen Olivengärten, die hier herrlich gedeihen und reichen Ertrag liefern. Bald erreicht man den Ort Aritsu, von den Türken Daridja genannt, der sich am Ufer malerisch hinauf- zieht, einzelne Häuser förmlich am Felsen hängend, der Hafen von zahlreichen Küsten- und Fischerfahrzeugen belebt. Nur Griechen wohnen hier, und die ehemalige ^Moschee liegt in Trümmern, ihr Minareh, halb zerfallen, schimmert zwischen dem Grün der Platanen und Nußbäume hervor. Ohne viele Arbeit nährt der Ertrag der Öl- und Weingärten die Bewohner. Das Obst und die Trauben von Aritsu sind berühmt und werden nach Konstantinopel und im ganzen Marmarameer versandt; nur wenig wird gekeltert, obwohl der Wein einen sehr angenehmen Geschmack und Feuer hat, dem am Neusiedlersee wachsenden ähnlich. Eine reiche Einnahmequelle ist auch der Fischfang, namentlich im Mai, wo große Massen StavTiden, ein der Makrele ähnlicher, aber weit kleinerer Fisch, in den Golf kommen, und zu Millionen mit leichter Mühe gefangen werden. Eingesalzen und getrocknet bilden sie überall am Marmarameer und im Archipel einen gangbaren Handelsartikel. Nicht weit nach Nordosten von Daridja, im Innern des Landes, liegt der kleine Ort Ghebisseh, Lybissa bei den Alten, Dakivyza bei den Byzantinern, einst ein wichtiger Rastpunkt des Karawanenhandels. Hier fand Hannibal, der unermüdliche Kämpfer für seines Vaterlandes Größe und Freiheit, den selbstgewählten - 38 - Tod, der ihn endlich, fern von der Heimat, der unerbittlichen Rache der Römer entzog. Hier fristete auch der arme Knabe Johannes Laskaris, der Erbe von Byzanz, sein trauriges Dasein, nachdem Michael Paläologos für sich selbst die Stadt den Latei- nern entrissen und ihn geblendet hierher verwiesen hatte. Unten am Gestade, weiter ostwärts, lagen die berühmten warmen Bäder von Polopythia. Warme Quellen sind zu beiden Seiten des Golfs Ismid, wohl an die Bruchlinien gebunden, auf welchen der Golf liegt, häufig genug. Die Quellen sind im Laufe der Zeit ver- schwunden, und es ist schwer die Lage von Polopythia zu be- stimmen. Nach Stephan von Byzanz lag es aber an der Nord- küste, nicht weit vom Eingang in den Busen, und Prokop berichtet, daß sich Justinian nahe dabei einen Palast erbaute. Trümmer eines solchen finden sich nun in der Tat auf einem Hügel am Meeresufer, 4 km östlich von Daridja, an einem Orte, der noch heute von den Türken Eski Serai oder Eski Hissar (alter Palast, altes Schloß), bei den Griechen Paläokastro genannt wird.^) Es ist ein großes Viereck aus einem äußern, dem Meere zugeneigten Teile, und einem inneren, höher liegenden bestehend. Das Ganze zeigt feste Mauern, mit viereckigen und runden Tür- men, die noch immer 10 bis 13 ra hoch sind und sehr wohl auf die Zeit Justinians zurückgehen können. In der Nähe der Ruine, an der Mündung eines Tales, liegt jetzt ein kleiner Ort von wenigen Häusern, aber es ist um so wahrscheinlicher, daß hier die Bäder von Polopythia und der Palast Justinians zu suchen sind, da die Gegend in der Tat schöner ist als irgend ein Punkt der Nordküste vom Yelken K^ya Bumu bis Ismid. An der West- seite des Ruinenhügels öffnet sich nämlich ein ziemlich weites von Ghebisseh herabkommendes Tal, durch das sich ein Bach schlängelt und das noch heute üppige Vegetation und gute Kul- tur zeigt. Weit zieht es sich, allmählich flacher werdend, in das Land hinein, und im Hintergrunde erhebt sich auf einer Anhöhe das Landhaus des Großveziers Edhem Pascha. Einen neuen, eigentümlichen, mit Hannibal und Justinian nicht recht zu ver- einigenden Reiz gewinnt die Gegend durch eine schöne Brücke, die noch im Bau ist und über welche die Eisenbahn von Skutari nach Ismid führen wird. Auf festen, schlanken Pfeilern, aus rotem und l) V. d. Goltz gibt S. 375 ein Bild der Ruine. — 39 — grauem Marmor, der sich hier überall in Masse findet, über- schreitet sie das Tal in kühner Höhe, um sich jenseits in einem Einschnitt zu verlieren. Verfolgt man die Linie, so kommt man nach einem zwei- stündigen, bei der Gluthitze eines Mittags im Juni in dieser Gegend nicht gerade erquickenden Spaziergange an einen Punkt, welcher der schwierigste, aber auch der schönste des ganzen Baues ist. Die Eisenbahnlinie zieht sich nämlich von ihrem An- fang, zwischen Skutari und Kadi-kjöi an immer am Meere ent- lang, was, beiläufig bemerkt, nicht gerade von ungewöhnlicher Klugheit zeugt, insofern sie Orte verbindet, die zur See schon durch eine regelmäßige Dampferlinie dem Verkehr erschlossen sind, während bei ebenso geringen Bauhindemissen im Innern weit größere Vorteile erreicht werden würden. Hinter Kartal zieht sie sich etwas ins Innere, bis sie hinter Daridja den Golf von Ismid erreicht und an demselben in bedeutender Höhe hinzieht. An dem erwähnten Punkte schiebt sich ein breiter Rücken ins Meer vor, der durch einen Einschnitt von 15 m Tiefe durch- schnitten wird. Hier hatte ich ein unerwartetes Zusammentreffen mit einem englischen Ingenieur, einem alten Bekannten, mit dem ich ein paar Monate früher auf der Donau gereist war, und der den Bau dieser Strecke leitete. Er kehrte damals gerade von einer großen Weltreise zurück, auf der er auf der Überfahrt von Buenos Aires Schiffbruch gelitten und sich im Rettungsgürtel anderthalb Tage auf dem Meere herumgetrieben hatte. Jetzt fand ich ihn hier wieder, wie er eben beschäftigt war, an diesem schönen Punkte seine Baracke zu bauen, die zugleich, ein sonder- bares Zusammentreffen, das Hauptquartier des Bauabschnitts Deutschland ist. Die Strecken der Linie sind nämlich nach den einzelnen Staaten benannt und durch Zufall oder Spielerei grenzen auch hier Frankreich und Deutschland aneinander. Und unter den Beamten und Arbeitern welches Völkergemisch! Der erste Aufseher meines Bekannten war ein Korse, der zweite ein Ita- liener; in einer Baracke, die als Schmiede diente, befand sich ein alter Grieche, der seine Familie mitgebracht und mit seinem Kinde, einem reizenden kleinen Mädchen, spielte, ein merk- würdiger Kontrast zu dieser Umgebung. Gruppen von Arbeitern standen und lagen umher, denn es war Sonntag, wo nur die — 40 — wenigen Türken arbeiteten. Die meisten Arbeiter waren Kroaten, aus dem türkischen Kroatien, knochige, sonnenverbrannte Ge- stalten, mit verschlagenen Gesichtern, den Fez oder die Mütze aus Schaffell auf dem Kopfe, in ihrer grauen, aus dem bekannten filzartigen Stoffe gefertigten nationalen Kleidung. Andere Gruppen waren von Türken gebildet, die während ihrer Mittagsruhe ihre Zigarette oder ihren Tschibuck rauchten, wieder andere, Griechen, unterhielten sich mit Diskuswerfen, wobei ihnen ein glatter, runder Stein als Diskus diente, den sie mit großer Geschicklichkeit und Treffsicherheit handhabten: ein Spiel, das, wie das Ringen, bei den Griechen am Bosporus noch viel geübt wird. Noch andere waren dabei, aus Steinen und Reisig Hütten zu bauen, die bei dem schlechten Material elend genug ausfielen, oder sie stellten die durch einen heftigen Regen in der letzten Nacht durch- weichten wieder her. Die trockneten ihre durchnäßten Kleider und Decken, die kochten ihr aus Bohnen und anderem Gemüse, ohne Fleisch, bestehendes Mahl, und nicht wenige lagen, je nach dem Geschmack, in ihren Löchern oder in der Mittagssonne, und schliefen den Schlaf des Gerechten, der einem Menschen zu gönnen ist, der in diesem Klima von 4Y2 Uhr morgens bis 7 Uhr abend mit 2^3 Stunde Ruhe dazwischen gearbeitet hat. Alle aber verhielten sich still und friedlich, keine Spirituosen, kein Lärm und Geschrei, so daß dieses Lager von gar nicht oder halb zivilisierten Pionieren der Kultur an dieser einsamen Küste Asiens ein interessantes und angenehmes Bild darbot. Und nun die Umgebung! Auf der einen Seite, landeinwärts, ein langsam aufsteigender Hang, Gestrüppe von Myrthen und Kirschlorbeer, mit Felsblöcken durchsäet, hier und da eine Gruppe von Ölbäumen, aber nirgends ein Dorf oder eine feste mensch- liche Wohnung. Die ganze Küste ist hier weithin menschenleer. Den Hang zum Meere hinab bedeckt ein Weingarten mit saftig- grünen Reben voller Trauben, daneben senkt sich eine Schlucht zum Meere, das hier eine kleine Bucht bildet, in der unser Dampfer unser harrt. Zu unsern Füßen der Golf, den hier zwei Vorgebirge noch mehr zum Binnensee machen. Das eine, Kaba Bumu, fällt von Norden als steiler Felsen ins Meer, das andere, eine schmale Landzunge, die sich von Süden als ein grüner Streifen weit in die blauen Wogen hineinstreckt und auf der äußersten Spitze ein weiß schimmerndes Leuchthaus trägt, Dii — 41 — Bumu, der Schuttkegel des Yalak Dere, der, aus einem Engtale hervorbrechend, einen dreieckigen sumpfigen Halbinselvorsprung so weit vorgeschoben hat, daß sich der Golf hier auf 2y, km verengt. Unabsehbar zieht sich der Golf nach Osten, am Hori- zont sich blau in blau mit dem Himmel vermischend. Im Süden und Südosten aber erheben sich mächtige Berge, die westlichsten Ausläufer der westpontischen Ketten, die, vom Sakaria (dem Sangarius der Alten) durchbrochen, sich am Boz Burnu, dem alten Posidium, ins Marmarameer stürzen, an ihrem Nordhange vom Golf von Ismid und dem Marmarameere, am Südhange vom Isnik Göl (See von Askania) und dem Busen von INIudania (von Kius) bespült. Es ist der Samanly Dagh und der Göl Dagh (Arpanthanius) nach ungefährer Schätzung mindestens 3 — 4000 Fuß hoch, hinter denen sich jenseits des von den Quellen durch- rieselten paradiesischen Tales von Brussa der schneeige breite Rücken des Olymp erhebt, eine Landschaft, die sich mit solchem Hintergrunde, mit ihren Wellenlinien, ihren Tälern und Wäldern, ihren stürzenden Bächen im Inneren, ihren schönsten Farben- mischungen mit mancher unserer Alpenansichten und Landschaften messen kann. In der Tat, schon dieser eine Punkt würde die Reise von Konstantinopel hierher lohnen, aber die ganze Gegend ist dem entsprechend, und die Fahrt nach Ismid wird, sobald die Eisen- bahnlinie beendet ist, durch ihre Naturschönheiten reichlichen Genuß bieten. Auf der ersten Strecke bietet sie den Blick auf die Prinzeninseln, das Marmarameer und seine südlichen Gestade, auf der andern über den Golf und die blauen Gebirge. Schon sind umfassende Vorarbeiten durch unsern verdienst- vollen Landsmann Pressel, jetzt im Dienste der türkischen Regie- rung, und seine geschickten Ingenieure, zum Weiterbau der Bahn bis Angora gemacht, wunderbar ausgeführte Pläne der haupt- sächlichsten Städte im Iimem Kleinasiens sind fertig und werden bei ihrer künftigen Veröffentlichung von der deutschen Wissen- schaft mit Freuden begrüßt werden. Nicht lange mehr wird es dauern, bis der Schienenweg den eilenden Reisenden von den Ufern des Bosporus in das Herz der Halbinsel führt, und ein neues Glied der eisernen Kette angefügt ist, die Europa mit Indien verbinden, verwahrloste Länder der Kultur zurückgeben Avird. Dann wird der Okzidentale, nachdem er den Bosporus — 42 — bei Skutari auf einer Brücke überschritten, die dauernder sein wird als die des Dareios bei Rumeli Hissar, am Golfe von Ismid mit Staunen seinen Einzug halten in das Märchen- und Wunder- land Asien. Therapia am Bosporus, im Juli 1872. 4. Die geographische und ethnographische Unterlage der orientalischen Frage.') Als Oskar Peschel, den wir nach A. von Humboldt und K. Ritter als den Neubegründer der geographischen Wissenschaft in Deutschland verehren, im Frühjahr 1871 seine Vorlesungen über europäische Staatenkunde auf dem neu begründeten Lehr- stuhle für Geographie, dem ersten in Deutschland, an der Uni- versität Leipzig eröffnete, stellte er als letztes Ziel derselben hin: das Verständnis der Zeitgeschichte, Er sprach die Hoffnung aus, daß seine Zuhörer, namentlich etwaige zukünftige Staatsmänner oder Volksvertreter unter ihnen, alle aber als Wähler und Zei- tungsleser der Zeitgeschichte besseres Verständnis entgegenbringen und beispielsweise die orientalische Frage mit ganz anderen Augen ansehen würden als vorher, so daß sie, wenn sie den Beruf dazu fühlten, als Publizisten — Peschel war selbst jahr- zehntelang ein hervorragender und einflußreicher Publizist ge- wesen — ein ernstes Wort mitsprechen könnten. Peschel war also der Meinung, daß für einen Staatsmann, für einen Volks- vertreter, für einen Zeitungsschreiber, ja für jeden gebildeten Zeitungsleser eine gründlichere geographische Vorbildung nötig sei. Heute, nach zwanzig Jahren, ist dies Wort noch weit zu- treffender, denn die Welt ist seitdem noch viel kleiner geworden, die Wege des Weltverkehrs kürzer, seine Mittel wirkungsvoller; unterseeische Kabel verbinden uns heute nicht nur mit den ver- schiedenen Teilen der Neuen Welt, der Ostrand der Alten, die Südspitze Afrikas, das antipodische Neu-Seeland sind uns auf Stunden nahe gerückt; die innersten Geheimnisse der gewaltigsten Festlandsmassen von Asien und Afrika sind uns erschlossen; ja der bis vor kurzem dunkle Erdteil spielt in der europäischen Politik eine große, geradezu gefährliche Rolle! Er beschäftigt l) Erschienen in der Deutschen Rundschau Oktober 1891 — 43 — seit jähren die Staatsmänner fast ganz Europas und hat die ein- sichtsvollsten, vaterlandsliebendsten Kreise einzelner Länder schon wiederholt in die höchste Erregung versetzt. Nicht nur fließen heute Nachrichten der verschiedensten Art und von den ent- legendsten Erdgegenden, oft von entscheidender Wichtigkeit, täg- lich dem gebildeten Zeitungsleser zu und bleiben bei ungenügen- den geographischen Kenntnissen gänzlich ohne Verständnis, nein, auf jeden einzelnen von uns üben jene Länder mit ihren Stoffen und Kräften, häufig ohne daß wir es merken, bei dem riesig entwickelten Weltverkehr ihren Einfluß aus; die Völker schaffen sich heute in Gegenden, die vor kurzem kaum dem Namen nach bekannt waren, neue Machtmittel, die bei der Ent- scheidung europäischer Fragen in die Wagschale geworfen werden. Täglich tritt daher an uns die Mahnung heran, unsere Kenntnis der Erde und ihrer Völker zu erweitem und zu vertiefen! Aber nicht bloß etwa die Kenntnis fremder Erdteile, wie dies vor Icurzem noch mit Vorliebe geschah. Beim Zunächstliegenden, bei der Heimat, beim eigenen Vaterlande muß man beginnen; denn der Staat stellt heute Anforderungen an die Person und das Gut jedes Staatsbürgers, denen zu entsprechen es einer großen, nicht nur im Herzen, sondern auch im Verstände begründeten Vater- landsliebe bedarf. Und ohne Kenntnis des \'aterlandes, nicht nur seiner Geschichte, sondern seiner ganzen Landesnatur ist eine tiefer begründete Vaterlandsliebe nicht denkbar. Um aber die Geschichte unseres Vaterlandes zu verstehen, bedarf es auch einer Kenntnis seiner Weltstellung, seiner Beziehungen zu fast allen Ländern und Völkern Europas, denn fast alle haben wir zu unmittelbaren Grenznachbam. Genau aus denselben Gesichts- punkten, aus denen mit Recht bei den Beratungen über die Verbesserung des preußischen Unterrichtswesens größeres Gewicht auf die Pflege unserer Sprache und der Geschichte unseres Vater- landes gelegt worden ist, müßte dies auch mit der Geographie der Fall sein. Leider scheint diese Überzeugung aber bis heute noch nicht durchgedrungen zu sein. Wie vor zwanzig Jahren ist auch heute noch die von Peschel als Beispiel angeführte orientalische Frage die brennendste Frage der europäischen Politik. Die seitdem ganz außerordentlich fort- geschrittene Kenntnis der südosteuropäischen Halbinsel, die darum als wichtigster Gegenstand der Verhandlungen auf der neunten — 44 — Tagung der deutschen Geographen zu Wien in der Osterwoche 1891 angesetzt worden war, hat auch unser Verständnis der orientalischen Frage wesentlich vertieft, und wir wollen daher ver- suchen auf Grund jener auch unseren Lesern dieses näher zu rücken. Man versteht gewöhnlich, um es kurz zu sagen, unter der orientalischen Frage die Gestaltung der Geschicke der südost- europäischen und der kleinasiatischen Halbinsel und ihrer Be- wohner, namentlich des türkischen Staats und Volks. Vor allem gibt es eine orientalische Frage nicht erst seit hundert Jahren, fast jede Periode der Geschichte hat eine solche gehabt. Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken, die unter den Er- eignissen aufgezählt wird, von welchen an man den Beginn der neuen Zeit datiert, was ist sie anders, als die nach Jahrhunderte langen Kämpfen für ein halbes Jahrtausend gelöste orientalische Frage? Der Umstand, daß dieselben Gegenden immer erneut den Hauptbrennpunkt der europäischen Politik bilden, muß sofort die Vermutung wachrufen, daß bei dieser Erscheinung geographische Gesetze mitspielen, die der Mensch wohl zeitweilig außer Kraft setzen, aber niemals ganz aufheben kann. In der Tat herrschen in jener Erdgegend geographische und, durch sie bedingt, ethno- graphische Verhältnisse, welche dieselbe naturnotwendig immer wieder zu einem Herde bald nur die Umgebung, bald weitere Kreise in Mitleidenschaft ziehender Beunruhigung machen müssen. Die südosteuropäische, oder wie man sie meist noch immer, einen seit einem halben Jahrhundert widerlegten Irrtum verewigend, nennt: die Balkanhalbinsel steht zu Kleinasien in den engsten geographischen, geschichtlichen und politischen Beziehungen. Keine der beiden Halbinseln besitzt für sich eine zentrale, beherrschende Landschaft, einen Punkt, an welchem sich die natürliche Haupt- stadt, geographisch begünstigt, entwickeln könnte; beiden ist Kon- stantinopel die gemeinsame natürliche Hauptstadt, neben welcher nur noch Mittelpunkte kleiner Sonderlandschaften in Betracht kommen; keine der beiden vermag für sich allein eine politische Einheit zu bilden und hat jemals in der Geschichte eine solche gebildet. Nur als Glied des großen Weltreichs der Römer ist die europäische Südosthalbinsel politisch geeint gewesen und sonst nie mehr. Der Grund dazu ist in geographischen Verhältnissen zu suchen. Sie besteht, die Grundzüge ihrer beiden südeuropäischen — 45 — Schwesterhalbinseln in sich vereinigend, aus zwei nach Entstehung, innerem Bau, Oberflächengestaltung und Beziehungen zu den Be- wohnern grundverschiedenen Teilen: dem illyrisch-griechischen Faltenland im Westen, dem rumelischen Schollenland im Osten. Die kleinere schmale Westhälfte, Griechenland, Albanien, Monte- negro, Herzegowina, Bosnien und Dalmatien, besteht aus lauter langgestreckten, schmalen, einander parallelen Bergzügen, welche in südöstlicher und südsüdöstlicher Richtung streichen und noch in den drei Spitzen der Peloponnes zu erkennen sind. Dieselben sind dadurch entstanden, daß durch seitlichen Druck die ober- sten, vorwiegend aus Kalksteinen der Kreide- und der älteren Tertiärformation bestehenden Schichten der festen Erdkruste zu- sammengeschoben, zusammen- oder eraporgefaltet wurden. Dies ganze Gebiet trägt überall mehr oder weniger den Charakter eines Karstlandes; arm an Wasser und Ackererde, felsig, rauh, schwer zugänglich, bildet es einen breiten Wall, welcher die Adria vom Innern und Osten der Halbinsel scheidet. Montenegro, das sog. Sandschak Novipazar, ein Teil von Bosnien und der Herze- gowina bilden dort ein im Mittel etwa looo m hohes rauhes, von tiefen Flußtälern zerschnittenes Karsthochland von etwa 30000 qkm Flächeninhalt, das ausgedehnteste Hochland von dieser Höhe in Europa. Wenig anlockend, verschlossen nach außen, wenig wegsam im Innern, arm an Hilfsquellen und Be- wohnern, reich an kleinen Sonderlandschaften und natürlichen festen Zufluchtsstätten bildet das ganze illjTisch-griechische Falten- land bis nach Atollen und Arkadien südwärts ein Gebiet des Verharrens, ein Gebiet geringer Veränderlichkeit der Zustände, wo sich besiegte Völker, wie die Serben in Montenegro, die Albanesen und Zinzaren zu behaupten und ihre nationale Eigen- art in die Gegenwart hinein zu retten vermochten. Nur dem Schutz ihrer unwirtlichen Berge verdanken es die bis heute kultur- losen Albanesen, die Nachkommen der alten Illyrier und wohl neben Basken und Kelten das älteste Volk Europas, daß sie in römischer Zeit nicht romanisiert, im Mittelalter nicht slawisiert, seitdem nicht turkisiert wurden. Urväterliche Sitten und Ein- richtungen haben sich bei ihnen erhalten; wie vor dreitausend Jahren befahren sie noch heute ihren nationalen Fluß, den Drin, auf aufgeblasenen Ziegenhäuten ; noch heute besitzen sie keine nationale Schrift. Albanien ist heute das unbekannteste Land Europas. - 46 - Diesem illyrisch-griechischen Faltenlande steht die größere Osthälfte der Halbinsel mit ganz anderen Verhältnissen gegen- über, Sie bildet, der iberischen Halbinsel vergleichbar, mit vor- wiegend westöstlicher Erstreckung zwischen der Donau und dem Archipel den ältesten Teil der Halbinsel, eine alte Urgebirgs- scholle, deren Oberfläche in späteren geologischen Zeiten durch Bildung zahlreicher Bruchlinien, welche die ganze Scholle zer- stückten, reicher ausgestaltet worden ist. Faltung spielt hier eine ganz untergeordnete Rolle. Durch solche Bruchlinien und auf denselben erfolgende Vertikalverschiebungen der einzelnen Schollen- trümmer bildeten sich die Gebirge dieses Teiles der Halbinsel, die Rhodope, ein um looo m über die Umgebung aufragendes Urgebirgsmassiv , die Gebirge Makedoniens und Serbiens. Nur im Balkan tritt uns ein wenn auch 600 km langer, so doch nur 30 km breiter gefalteter Landgürtel entgegen, dessen Faltenzüge aber auch nach Norden in die ungefaltete bulgarische Kreidetafel übergehen. Wie in Bulgarien, so sind auch in Thrakien und anderwärts Teile der Scholle später wieder vom Meer und den sich in demselben ablagernden Sedimenten bedeckt worden, wäh- rend auf den Bruchlinien lange Zeit eine große vulkanische Tätigkeit, von welcher noch heute zahlreiche heiße Quellen zeugen, Trachytgesteine, bald in großen Decken, bald in Kegeln, an zahlreichen Punkten und in großer Ausdehnung zutage förderte. Ganz anders geartet ist also die geologische Geschichte dieses Teiles der Halbinsel, ganz anders daher sein innerer Bau, ganz anders demnach sind auch seine Oberflächenformen, seine Bodenarten und Wasseradern, demnach auch die Beziehungen des Landes zum Menschen, seine Geschichte. Das rumelische Schollenland ist aufgebaut aus einer überaus großen Mannigfaltig- keit der Formationen und Felsarten, von den ältesten eruptiven und sedimentären bis zu den jüngsten; es wird daher gekenn- zeichnet durch eine große Mannigfaltigkeit der Bodenarten unter Vorkommen fruchtbarster junger vulkanischer und jüngster Schwemm- gebilde. Auch an inneren Schätzen ist es reich; im Mittelalter gehörte es zu den reichsten Bergbaugebieten Europas und hat vielleicht als solches noch eine große Zukunft. Vorwiegend ge- birgig, aber mit Gebirgen von mäßiger Höhe, ist es doch, im wesentlichen, weil Faltung hier nur als Nebenerscheinung in — 47 — Betracht kommt, überall wegsam, reich an offenen Landschaften, fast überall bewohnbar, ja dichter Besiedlung fähig. Die Auf- geschlossenheit nach allen Seiten, die Leichtigkeit des Verkehrs, die ^Möglichkeit der Verdichtung der Bevölkerung und der Bil- dung von Großstädten, raschere und höhere Kulturentwicklung, größere geschichtliche Bedeutung kennzeichnen das ruraelische Schollenland gegenüber dem illyrisch-griechischen Faltenlande. Dasselbe ist ein Gebiet der Bewegung, der Veränderlichkeit der Zustände, ja selbst der ethnographischen Verhältnisse wie kein anderes Gebiet Europas. Dort im Westen verharrt alles in Ruhe, hier ist alles in beständigem Fluß und Bewegung; dort findet sich — selbst vom Westen des durch spätere Bewegungen der festen Erdkruste zertrümmerten, reicher ausgestalteten und da- durch individualisierten Griechenland gilt dies — keine geschicht- lich wichtigere, keine Großstadt; von dort ist keine die Mensch-^ heit beeinflussende Leistung ausgegangen; hier dagegen ent- wickelten sich in Vergangenheit und Gegenwart, noch mehr gewiß in einer überaus verheißungsvollen Zukunft, mehrere Punkte zu Brennpunkten geschichtlichen Interesses und der Gesittung: Belgrad, Nisch, Salonichi, Philippopel, Adrianopel, Konstantinopel. Alle großen geschichtlichen Ereignisse der Halbinsel vollziehen sich auf dem Boden des rumelischen Schollenlandes. Der wichtigste geographische Faktor jenes Landes ist seine Oberflächengestaltung. Diese wird hier gekennzeichnet durch das Auftreten einer großen Zahl von Kesseltälern, tiefen mit jüngerem Schwemmland gefüllten, meist elliptischen Becken, die von hohen Bergen umwallt diesem Teile der Halbinsel ein schachbrettartiges Ansehen geben. Diese Kesseltäler sind wohl meist als auf jenen Bruchlinien entstandene, nur in einzelnen Fällen als auf Aus- laugung zurückzuführende Einsturzkessel aufzufassen; viele von ihnen besitzen noch heiße Mineralquellen, künftige Badeörter. Die meisten waren lange Zeit von Seen gefüllt, die aber heute bis auf wenige in Makedonien von den Flüssen entwässert sind, die sich in engen, meist ungangbaren Schluchten, wie der Isker aus dem Becken von Sofia durch den Balkan, einen Ausweg ge- bahnt haben. Doch sind manche noch sumpfig, und in einigen stauen sich in regenreichen Zeiten die Gewässer vor den engen Ausflußschluchten zu Seen an. Bei ihrer großen Zahl kann keines von hervorragender Größe sein; schwer über Gebirge miteinander - 48 - verkehrend, kann auch keines die Rolle einer zentralen beherr- schenden Landschaft spielen. Eine solche fehlt also der Halb- insel und damit auch eine Grundbedingung einer großen politischen Einheit. Es fördern diese Kesseltäler, indem sie der Entwicklung zahlreicher Punkte als Mittelpunkte kleiner Sonderlandschaften günstig sind, vielmehr die politische Zersplitterung. Das Kessel- tal von Sofia z. B., der jetzt so viel genannten, rasch aufblühen- den Hauptstadt Bulgariens, eines der größeren und begünstigteren, hat bei der immerhin beträchtlichen und ein im Winter recht rauhes Klima hervorrufenden Meereshöhe von 550 m eine Größe von nur 290 qkm, so viel wie das Gebiet von Lübeck! Dabei unterhält dasselbe leichteren Verkehr, aber auch da noch über Pässe von 726 bzw. 745 m Höhe, nur nach Nordwest, gegen Serbien und die Donau, und nach Südost, gegen Thrakien, den Archipel und den Bosporus. Durch jene Bruchlinien und Kessel- täler sind nun aber auch die Flüsse in ihrer Entwicklung und Laufrichtung beeinflußt, und ihnen müssen naturnotwendig in einem Gebirgslande, als welches die Halbinsel in ihrer Gesamt- heit erscheint, auch die Verkehrswege folgen. In dieser Hinsicht ist von entscheidender Wichtigkeit das Vorhandensein von zwei die ganze Halbinsel, aber innerhalb des rumelischen Schollen- landes, durchsetzenden Furchen, die eine in meridionaler, die andere in diagonaler Richtung. Der großen Meridionalfurche folgen die Morawa zur Donau, der Vardar zum Archipel, in der Diagonalfurche entwickelt sich der größte selbständige Fluß der Halbinsel, die Maritza, die an Lauflänge unserm Main entspricht. Beide Furchen vereinigen sich im Becken von Nisch, das daher eines der wichtigsten Knotenpunkte des Verkehrs und eines der Hauptschlachtfelder der Halbinsel ist. Die Meridionalfurche, in welcher man in der Talwasserscheide von Preschowo, ohne es zu merken, in nur 500 m Meereshöhe aus dem Gebiet der Donau in das des Archipels gelangt, folgt heute schon die wich- tige Eisenbahnlinie Belgrad-Saloniki, die sich in Dampferlinien nach Kleinasien, Syrien, Ägypten und durch den Suezkanal nach Süd- und Südostasien wie nach Ostafrika fortsetzt, heute schon die kürzeste Linie von Mitteleuropa nach jenen Ländern, die zu ihrer vollen Entwicklung nur noch größere Schnelligkeit der Eisen- bahnzüge und Hafenbauten in Saloniki erfordert. Sie wird da- nach in kurzem eine der wichtigsten Verkehrslinien der Erde — 49 — werden, namentlich für unser Vaterland. Der Diagonalfurche folgt die Eisenbahn Belgrad-Konstantinopel, die in weiterer Zu- kunft, wenn sie durch Kleinasien fortgesetzt sein wird — deutscher Unternehmungsgeist und deutsches Geld schaffen bekanntlich eben diese Fortsetzung — der kürzeste Weg nach Indien sein wird. Beide Linien setzen sich längs der Donau über Pest und Wien bis in das Herz von Mitteleuropa fort, und die südosteuropäische Halbinsel erscheint so mit Kleinasien als eine große Landbrücke, welche die Festlandsmassen von Europa und Asien mit ihren dicht gedrängten Volksmassen verbindet. Nur durch den Salz- wasserstrom des Bosporus, der an seiner engsten Stelle wenig breiter ist als der Rhein bei Mainz, voneinander getrennt, bilden die beiden Halbinseln Hälften eines Ganzen; beide, und in höhe- rem Maße die europäische Südosthalbinsel, tragen so den Cha- rakter von Durchgangsbrücken des Weltverkehrs, d. h. von Län- dern, auf welche Einfluß auszuüben, alle Kulturvölker bemüht sein müssen. Damit ist eine der geographischen Grundlagen der orientalischen Frage gegeben, welche sofort erkennen läßt, daß auch das Deutsche Reich, trotz eines gegenteiligen Ausspruches unsers großen Staatsmannes, in hohem Grade von der Lösung derselben berührt wird. Die Wichtigkeit jener beiden Verkehrswege prägt sich auch darin aus, daß alle eben genannten Großstädte der Halbinsel an derselben hegen. Außer jenen beiden bildet aber an der Nord- grenze entlang die Donau eine dritte große Verkehrslinie, die von dem hohen bulgarischen Ufer völlig beherrscht wird, ja in der abkürzenden Eisenbahnlinie Rustschuk-Varna die Halbinsel selbst schneidet. Eine vierte internationale Verkehrslinie lief im Altertum, zum Teil auch noch im Mittelalter, als Via Egnatia der Donaulinie am Südrande der Halbinsel parallel von Kon- stantinopel über Saloniki nach Durazzo und von da über die Adria nach Italien. Heute verödet, wird auch diese Linie in nicht femer Zukunft wieder große Bedeutung erlangen; dieselbe deutsche Gesellschaft, welche die kleinasiatischen Bahnen baut, hat auch bereits den Bau der Linie Saloniki-Monastir in Angriff genommen, d. h. die Umwandlung des auch für den örtlichen Verkehr wichtigsten Stückes der Via Egnatia in einen Verkehrs- weg der Neuzeit. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die große Verkehrslinie von Triest und Venedig nach Ägypten und Fischer, Mittelmeerbilder. 4 — 50 — weiter unter der hohen Westseite der Halbinsel hinläuft, wie die Linie Odessa-Konstantinopel an der Ostseite. Vor allem aber: diese zuletzt genannte Linie, die Linie Belgrad-Konstantinopel, die alte Via Egnatia, die Donaustraße mit der Seitenstraße Rust- schuk-Varna, ja alle Verkehrswege des Schwarzen und Kaspischen Meeres von Südrußland bis nach Turkestan und Nordpersien am Nordrande Kleinasiens entlang, alle Wege nach und durch Klein- asien nach Persien, Mesopotamien, Syrien, Indien und Arabien verknoten sich radienförmig zusammenlaufend in dem einen Kon- stantinopel, das für sich allein manches Königreich aufwiegt. Seit griechischer Zeit ist Konstantinopel durch alle geschichtlichen Wechselfälle hindurch eine der größten Welthandelsstädte ge- wesen und wird es in Zukunft in höherem Maße als jemals wer- den. Die ungeheure Lebenskraft dieses Punktes prägt sich am besten darin aus, daß der tiefe Verfall des byzantinischen und in der Gegenwart des türkischen Reiches, die Volkszahl, die Han- delstätigkeit, die ganze Bedeutung von Konstantinopel nicht zu beeinflussen vermocht hat. Als die Tatkraft der Byzantiner zu erlahmen begann, traten an ihre Stelle in ihrer Hauptstadt selbst, fast als Herren des Staates, die Italiener. Byzanz gegenüber blühte die italienische Schiffslände Galata empor, deren gewaltige Mauern und Türme es noch heute als eine Stadt in der Stadt erkennen lassen. Genau so ist mit dem Verfall der Türkenmacht in unserm Jahrhundert, aber namentlich seit dem Krimkriege, Stambul gegenüber das europäische Pera über dem mittelalter- Galata emporgewachsen. Aller Handel und Verkehr, alle Geld- mittel liegen in den Händen der 1 30 000 dort, und heute schon über Pera hinaus, angesiedelten Angehörigen fast aller Nationen Europas, die gleich den Genuesen des Mittelalters auf ihre Vor- rechte und ihre politischen Vertreter gestützt, einen Staat im Staate bilden. In herrlicher Umgebung, an einem Salzwasserstrome gelegen, der, zwei Meere und ihre Gestadeländer verbindend, unserm Rheine vielfach, auch an landschaftlichen Reizen ähnlich ist, im buchtenreichen Bosporus und im Goldenen Hörn im Besitz eines Hafens, welcher alle Flotten der Welt aufzunehmen vermöchte, ist die Lage dieser Stadt auf der Grenze zweier Erdteile geradezu einzig. Dazu kommt noch die natürliche Festigkeit dieses Punk- tes, der mitten zwischen Meer- und Landengen gelegen ist. Die _ 51 — Engen des Bosporus im Norden, der Dardanellen im Süden sind leicht zu sperren; im Osten, von wo bisher die Gefahr seltener gedroht hat, gilt das gleiche von dem Eingange in die bithy- nische Halbinsel bei Ismid; noch größer ist die natürliche Festig- keit im häufiger und heftiger bedrohten Westen auf der Wurzel der thrakischen Halbinsel, die sich dort zwischen den von Nor- den und von Süden eingreifenden Strand- (Liman-) Seen von Ter- kos und Groß-Tschekmedsche auf 25 km verengt. Dort liegt die Wasserscheide nahe dem Schwarzen Meere, und von derselben rinnt in tief eingeschnittenem, steilwandigem Tale trägen Laufes mit versumpften Ufern ein danach benanntes Schwarzwasser (Ka- rasu) zu dem letztgenannten See, mit diesem eine natürliche Ver- teidigungsstellung schaffend, die unser Landsmann Blum Pascha 1877 durch eine Reihe 1879 noch verstärkter Vesten fast un-» bezwinglich gemacht hat. So fast unnahbar, hat Konstantinopel an den Gestaden des Marmarameeres ein ausgedehntes, an Hilfs- quellen reiches Gebiet zur Verfügung, das lange Zeit seine 800000 (jetzt 1V4 Mill.) Einwohner zu ernähren vermag. Auch darin prägen sich die engen Beziehungen beider Schwesterhalb- inseln aus, daß ihre gemeinsame Hauptstadt in Europa gelegen ist, ihre unmittelbaren Lebensadern aber in Kleinasien hat; denn von Thrakien ist sie durch weite Steppe getrennt, die dort das neue Rom menschenleer und öde umschließt, faßt wie die Cam- pagna das alte. Konstantinopel ist ein überaus wertvoller, aber schwer zu erringender Besitz; es vermag sich dort, wie die Ge- schichte des byzantinischen Reichs zeigt, auch eine schwache Macht, selbst wenn beide Halbinseln bis an jene Verteidigungs- stellungen verloren sind, noch lange Zeit zu behaupten; in den Händen einer starken aber bedeutet es die Herrschaft über beide Halbinseln und das östliche Mittelmeer, über ein ungemein wich- tiges Netz von Verkehrswegen und bildet einen Machtfaktor von ganz unschätzbarer Größe. Der Westen und Nordwesten der Halbinsel, ja fast das ganze, auch von innen schwer zugängliche Faltenland, sind aller- dings dem Machtbereiche von Konstantinopel etwas entrückt, und nur in Zeiten starker Machtentfaltung vermag der Herr von Kon- stantinopel auch den Westen zu erobern und zu behaupten. Das durch die dinarischen Faltenzüge vom Innern abgeschlossene Küsten- und Inselland Dalmatien haben die Türken niemals zu 4* — 52 — erobern vermocht, ebensowenig die felsige Gebirgsfeste von Monte- negro; auch in Albanien hat ihre Macht immer auf schwachen Füßen gestanden, obwohl gerade dort die einzigen beiden ver- hältnismäßig leicht gangbaren Wege quer durch das Faltenland an die Adria führen, die Via Egnatia im Süden von Makedonien her durch die Becken der dessaretischen Seen, eine andere im Norden vom Amselfelde her durch das Dringebiet nach Skutari. Griechenland schließlich, ein zerstücktes Gebirgsland mit mari- timem Charakter, ähnlich Norwegen, vermochten sie nur zu er- obern und zu behaupten, solange sie auch zur See mächtig waren. Einige Teile Griechenlands sind sehr lange, andere (Ionische Inseln) dauernd im Besitze Venedigs geblieben, eine in der Landesnatur begründete Tatsache, die für die Geschicke des griechischen Volkes von allergrößter Tragweite gewesen ist; denn dadurch blieb dasselbe stets in Beziehungen zur abendländisch- christlichen Gesittung; es konnte durch die türkische Zwingherr- schaft nicht so völlig aus der Reihe der geistig lebenden Völker gestrichen werden, wie z. B. die Bulgaren. Die nordwestlichen Teile der Halbinsel dagegen, Bosnien und Serbien, öffnen und neigen sich nach dem großen Donau- becken, wie ja auch namentlich Bosnien schon wiederholt von Ungarn abhängig gewesen ist. Wenn sich die türkische Herrschaft in Bosnien so lange zu behaupten vermochte, so beruhte dies ledig- lich darauf, daß es dort, wie ähnlich in Albanien, gelungen war, den einflußreichsten Teil der Bevölkerung zum Islam zu bekehren. Beide Länder sind mit ihrem ganzen wirtschaftlichen Dasein, wohin immer ihre nationalen und politischen Neigungen auch gehen mögen, auf den Donaustaat angewiesen, wie sich dies bei Serbien vor kurzem in dem sogenannten Schweinekriege gezeigt hat, in welchem dasselbe, Ungarn gegenüber, eine schwere Nieder- lage erlitten hat. Gegen Nordosten streckt sich die Halbinsel an der unteren Donau, die ganz Bulgarien mit Südrußland ver- bindet, halbinselartig gegen letzteres hin; selbst die Landesnatur nimmt in der Dobrudscha südrussischen Charakter an. Von dort sind auch einst die Bulgaren eingewandert. Die Beziehungen Bulgariens zu Rußland erscheinen als ethnographisch und geo- graphisch beeinflußt; nur das ganz besondere Ungeschick russi- scher Diplomaten hat hier geographische Gesetze, hoffentlich für lange Zeit, außer Kraft zu setzen vermocht. Einen vierten halb- — 53 — inselartigen Zipfel streckt schließlich die Halbinsel im Südosten Kleinasien entgegen, zu welchem sich auch die Täler der größten selbständigen Flüsse, Maritza und Vardar, breit öffnen. Fassen wir die wichtigsten geographischen Charakterzüge der Südosthalbinsel zusammen, so lernten wir als solche kennen: die Gegensätze der Oberflächengestaltung des Westens und des Ostens mit den sich daraus ergebenden Folgen, den Mangel einer zentralen Landschaft und eines natürlichen Mittelpunktes, dagegen das Vorhandensein zahlreicher abgeschlossener, schwer zugänglicher Sonderlandschaften und eines geographisch wunder- bar bevorzugten Punktes, eines Punktes von erdrückender Wichtig- keit, der aber exzentrisch liegt und der natürliche Mittelpunkt eines größeren, mindestens Kleinasien mit umfassenden Gebietes ist; schließlich die Vielseitigkeit der Beziehungen, die sich aus dem Charakter als ausgezeichnetes Durchgangsland des Weltver- kehrs und aus der wagerechten Gliederung ergeben. Diese geographischen Charakterzüge, namentlich letzterer,, spiegeln sich am deutlichsten in der großen ethnographischen Mannigfaltigkeit der Südosthalbinsel wider, die, weil geographisch bedingt, zu allen Zeiten bestanden hat und selbst von den Rö- mern, diesen Meistern in der Aufsaugung und Anähnlichung noch so verschieden gearteten Volkstums, nicht bewältigt werden konnte. Auch in der römischen Zeit wurden mindestens drei Sprachen dort gesprochen, wahrscheinlich mehr: Lateinisch, Griechisch und Illyrisch. Die Nähe und leichte Zugänglichkeit von Asien her, der Wiege der Völker, führte immer neuen Zuzug herbei; die Oberflächengestaltung, namentlich im westlichen Falten- lande, bewirkte, daß sich selbst schwache Volker, die Buntheit der Karte mehrend, zu erhalten vermochten. So die Albanesen, bei denen bis auf den heutigen Tag das Bewußtsein nationaler Eigenart und Zusammengehörigkeit kaum zu dämmern beginnt; so die Griechen, die sich, wenn auch durch übermächtige Feinde überwältigt und anscheinend dem Untergange als Nation ver- fallen, immer wieder emporrangen, wie heute nach der Türken- zeit, so im Mittelalter nach der slawischen Überflutung; so die romanisch redenden Wlachen, die sich in den Gebirgen als Hirten, wenn auch an Zahl geschwächt und nur verstreute Trümmer des einst auf der Halbinsel so weit verbreiteten romanisch sprechenden Volkstums, doch durch mehr als ein Jahrtausend — 54 — ihre nationale Eigenart und Sprache zu wahren vermocht haben. Zu diesen drei ältesten Völkern der Halbinsel, von denen Grie- chen und Wlachen als ethnisch überaus gemischte anzusehen sind und nur durch die Sprache als Nation erscheinen, kommen nun Einwanderer mit Beginn des Mittelalters hinzu, die un- gehindert durch die breiten, offenen Eingänge im Nordwesten, Nordosten und Südosten hereinströmen konnten. Non Nord- westen kamen die Slowenen und Serben, von Nordosten die ur- sprünglich nicht slawischen Bulgaren, von Südosten die osma- nischen Türken, in ihrem Gefolge, zum Teil gewaltsam angesiedelt, Tataren, Armenier, Tscherkessen, dann Zigeuner, deren Zahl sehr groß ist; seit dem vorigen Jahrhundert auch Rumänien, noch früher spanische Israeliten, im neunzehnten Jahrhundert auch polnische. Bei einer Bevölkerung von etwa 14Y2 {'^l^U ^^^^' iQOo) Mil- lionen auf 490 000 qkm der ganzen Halbinsel — dieselbe steht also dem Deutschen Reich an Größe beträchtlich, an Volksdichte um das Dreifache nach — zählt man, nur diejenigen gerechnet, welche mit mindestens 200000 Köpfen vertreten sind, elf ver- schiedene Völker, zu denen aber noch mehrere andere hinzu- kommen, von den, wenigstens in der Weltstadt Konstantinopel, nach Tausenden zählenden Vertretern fast aller Kulturvölker Europas abgesehen. Wie Konstantinopel noch heute aus tür- kischen, griechischen, armenischen, jüdischen und europäischen Stadtvierteln besteht, von denen namentlich jedes der vier erste- ren in der Mehrzahl auftritt, jedes meist schon seinem äußeren Charakter nach unterschieden und gesondert, so fast jede größere Stadt der Halbinsel. Überall herrscht das bunteste Völker- und Sprachengemisch. Erhöht wird aber diese Zersplitterung dadurch, daß bis auf die Griechen — von denen nur wenige Mohammedaner — und die Türken alle übrigen Völker noch durch Religion und Kon- fession gespalten sind, die im Orient eine fast größere Scheide- wand bilden, als verschiedene Nationalität. Nach Religion und Konfession richten sich auch die politische Zu- und Abneigung und die politischen Beziehungen. Die Serben, abgesehen davon, daß Teile dieses Volkes dem ungarischen, dem österreichischen (Dalmatien), dem serbischen, dem montenegrinischen und tür- kischen Staate angehören, Bosnier und Herzegowiner auch noch provinziell geschieden sind, zerfallen in griechische und römische — 55 — Katholiken und in Mohammedaner. Ähnlich sind die Albanesen dreifach religiös gespalten. Bei den Bulgaren tritt dies weniger hervor, da die Zahl der römischen Katholiken und der Moham- medaner (Pomaken) bulgarischer Nationalität beschränkt ist. Die Zahl der Mohammedaner ist noch in diesem Jahrhundert auf Kosten der Albanesen, Bulgaren, Serben und Makedonier ge- wachsen. Die Bekenner des Islam halten sich und rechnen sich fast immer zu den Osmanli. Keines dieser Völker ist so zahl- reich oder den andern an Gesittung und Tüchtigkeit so über- legen, daß es die übrigen zu beherrschen vermöchte; ja, bis auf Albanesen und Bulgaren hat jedes einen großen Bruchteil seiner Volksgenossen außerhalb der Halbinsel und in derselben nicht angehörigen Staatsverbänden. Es ist klar, daß in allen diesen Verhältnissen von dem Augenblicke an, wo die Türken nicht mehr imstande waren, mit roher Gewalt die übrigen Völker zur arbeitenden und steuerzahlenden Herde herabzudrücken, inneren Reibungen der verschiedensten Art und Eingriffen von außen Tür und Tor geöffnet war. Während bis zu Beginn unseres Jahrhunderts, von Dalmatien, Kroatien, den ionischen Inseln und etwa Montenegro abgesehen, noch die ganze Halbinsel der tür- kischen Gewaltherrschaft gehorchte, begannen seitdem die Em- pörungen gegen dieselbe, zum Teil durch Hilfe von außen, Er- folge zu erzielen; Serben und Griechen, schließlich auch die Bulgaren gelangten zu eigener Staatenbildung. Wie Lage, Welt- stellung, wagerechte und senkrechte Gliederung jene große ethno- graphische Mannigfaltigkeit hervorgerufen hatte, so hat diese im neunzehnten Jahrhundert wieder die heutige Staatenbildung ver- ursacht. Nicht weniger als vier selbständige Nationalstaaten be- stehen heute auf der Halbinsel: Serbien, Bulgarien, Montenegro, Griechenland; drei andere, die Türkei, Rumänien, Österreich- Ungarn besitzen größere oder kleinere Teile derselben. Die Albanesen haben auch ihrerseits eine gewisse Selbständigkeit er- langt. Alle diese Staaten und Völker, abgesehen von der Wichtig- keit der Halbinsel für alle europäischen Mächte und der sich daraus ergebenden gegenseitigen Überwachung, stehen einander eifersüchtig uud mißtrauisch gegenüber; jeder hegt ungemessene Ansprüche und Ausdehnungsgelüste; ja, heute streiten sich sogar Bulgaren und Serben um die Nationalität der slawischen Be- wohner von ^Makedonien, die die Bulgaren für Bulgaren, die - 56 - Serben für Serben erklären, die die fortschreitende ethnographische Erforschung aber als einen dritten slawischen Stamm mit wesent- lich slowenischer Grundlage erweisen dürfte. Wir bezeichnen sie daher als Makedonen. Zu der großen orientalischen Frage kom- men daher noch verschiedene Fragen zweiter Ordnung hinzu, jede geeignet, in jedem Augenblick einen Brand zu entzünden, der sofort zu einem europäischen werden muß. Jedes dieser Völker trachtet auch im Frieden dem anderen Boden abzuringen; Serben, Griechen und Bulgaren machen in jeder Weise nationale Propaganda und suchen namentlich durch Schulgründungen, für welche die beiden letzteren Völker große Opfer bringen, sich die Zukunft zu sichern, während die Albanesen, ihrer Volksart und ihrem Gesittungsstande entsprechend, die Serben gewaltsam zu- rückdrängen. So hoch ist die nationale und religiöse Abneigung gestiegen, daß jeder Krieg, abgesehen von einer gewaltigen INIinderung der Volkszahl, durch den Krieg selbst und die ver- heerenden Seuchen, die ihm hier unfehlbar zu folgen pflegen, wenn er eine Änderung der politischen Karte zur Folge hat, auch eine völlige Verschiebung der ethnographischen Verhältnisse hervorruft. Seit der doch friedlich erfolgten Abtretung von Thessalien an Griechenland hat eine so rasche Auswanderung der dort seit dem zehnten Jahrhundert schon angesiedelten Tür- ken begonnen, daß in wenigen Jahren die ethnographische Einheit wieder hergestellt sein wird. In noch größerem Maß- stabe, zu Hunderttausenden, wandern Türken und Tataren aus Bulgarien aus, wo ganze Städte und Landschaften dadurch ent- völkert werden. Eine ethnographische Karte von Donau-Bulgarien wird in Zukunft wohl nur noch Reste jener ausgedehnten tür- kischen und tatarischen Gebiete der östlichen Landesteile zeigen. Sehr viele der verdrängten Türken sind nach Kleinasien hinüber- gewandert, viele aber haben sich in der Hauptstadt und in dem noch türkischen Drittel der Halbinsel niedergelassen und das mohammedanische Element, auf welchem allein der Bestand der türkischen Herrschaft beruht, so weit verstärkt, daß heute, eine politisch hoch bedeutsame Tatsache, die Bekenner des Islam dort etwa 53 Prozent der Bevölkerung bilden. Die Beseitigung der türkischen Herrschaft in dem heute noch türkischen Teile der Halbinsel wird daher wesentlich schwieriger sein. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, daß diese Rückzugs- — 57 — bewegung der Türken, oder richtiger der Mohammedaner, schon seit langem begonnen hat. Aus Ungarn, aus Serbien, aus Grie- chenland mußten sie nach Abschüttelung des türkischen Joches auswandern, weil sich in ihnen die furchtbare Zwingherrschaft verkörperte; ja, in Bulgarien selbst war dieser Vorgang schon vor dem letzten Kriege eingeleitet. Städte, welche zu Beginn des Jahrhunderts ganz türkisch waren, sind allmählich bulgarisch ge- worden; in heute völlig bulgarischen Landschaften des oberen jMaritzabeckens zeugen alle Namen der Dörfer, Felder, Waldungen, Bäche usw. von den ehemaligen türkischen Bewohnern, Das Dahinschwinden der türkischen Bevölkerung, das selbst in Klein- asien so schreckenerregend rasch vor sich geht, hatte in Europa schon vor dem letzten Kriege begonnen. Die ungeheure Last des Kriegsdienstes lag allein auf den Türken, sie allein zahlten die furchtbare Blutsteuer. Seit Aufhebung der Janitscharen, die sich, wie bekannt, meist aus bekehrten Christenknaben selbst er- gänzten, den Niederlagen im Felde und dem gesunkenen An- sehen des türkischen Namens, womit ein bedeutender Rückgang des Zustromes von Renegaten eintrat, wurden diese Lasten dem Volke selbst immer fühlbarer. Die kräftige junge Mannschaft wurde dem Lande und dem Erwerbe entzogen; die unaufhör- lichen Kriege rafften sie dahin; die Überlebenden kehren erst nach Jahren, oft als Kranke oder Krüppel, zurück und finden ihr Gut in materiellem, ihre Familie in sittlichem Rückgang. Die ungleiche und ungerechte Besteuerung, die Willkürherrschaft, die heillose Verderbtheit der türkischen Verwaltung trifft das eigene Volk am empfindlichsten, das wenig rührig, bieder und ehrlich in den unteren Schichten, sich nicht dagegen zu schützen vermag. Die Verarmung gerade der Türken ist allgemein. Dumpfe Ver- zweiflung hat den größten Teil des türkischen Volkes ergriffen; eine natürliche Vermehrung findet fast nicht mehr statt; die früher überaus wichtige, mehr oder weniger gewaltsame Einverleibung fremden Volkstums, die wir jetzt die Stammverwandten der Tür- ken, die Magyaren, auch in Ermangelung eigener natürlicher Ver- mehrung, so erfolgreich, namentlich auf Kosten des Deutschtums, betreiben sehen, hat fast aufgehört. Es erscheint das türkische Volk unaufhaltsam, nicht nur in Europa, sondern überhaupt dem Untergange geweiht. Die Verstärkung, welche dasselbe seit dem vorigen Jahrhundert durch Zuwanderung mohammedanischer Ta- — 5« — taren aus Südrußland und der Krim, dann wieder durch Tscher- kessen aus dem Kaukasus erhalten hat, war bedeutungslos, beide teilen die Geschicke der Türken. An ihre Stelle treten nament- lich Bulgaren, im Süden auch Griechen. Diese steigen aus den Gebirgen, in die sie früher zurückgedrängt worden waren oder sich geflüchtet hatten, immer mehr herab. Im Gebiet von Vama sind seit dem letzten Kriege 135 bulgarische Dörfer neu ent- standen, und schon 1881 zählte man im Fürstentum vierzigtausend neue, ackerbauende Ansiedler. Auch aus den noch türkischen Gebieten findet Zuwanderung statt, namentlich diese Tausende von makedonischen Arbeitern, Maurern und dergleichen, die all- sommerlich nach Bulgarien strömen und hier den Unterschied der Verhältnisse in noch türkischem Gebiet und im Fürstentum be- obachten körmen, dienen als freiwillige, bulgarische Agitatoren. Wenn wir noch darauf hinweisen, daß nach den russischen Kriegen, namentlich 181 2 und 1829, eine starke Auswanderung von Bulgaren nach Südrußland, schon früher nach dem ungarischen Banat, nach den österreichischen Kriegen 1690 und 1740 eine sehr starke, serbische Auswanderung nach Ungarn stattfand — Albanesen setzten sich an Stelle der Auswanderer und machten Altserbien vorwiegend albanesisch — so sehen wir, wie veränder- lich in der Tat im Schollenland der südosteuropäischen Halbinsel selbst die ethnographischen Verhältnisse sind, wie dort alles in Fluß und Bewegung ist. Einwanderungen, Auswanderungen, An- siedelungen aus den offenen, fruchtbaren Landschaften in die Gebirge und umgekehrt, waren dort zu allen Zeiten an der Tages- ordnung. Es ergibt sich aus diesen Betrachtungen, daß die große ethnographische Mannigfaltigkeit der Halbinsel durch die Gesamt- heit der eigenartigen geographischen Verhältnisse bedingt ist. Sie ihrerseits bedingt oder begünstigt, im Verein mit jenen, staat- liche Zersplitterung und gegenseitige Eifersucht der einzelnen kleinen Nationalstaaten. Jeder derselben, außer den Bulgaren, hat Nationsgenossen außerhalb seiner Grenzen, ja, außerhalb der Halbinsel. In der Vielseitigkeit ihrer Beziehungen, in ihrer Eigen- schaft als wichtiges Durchgangsland des Weltverkehrs, im Besitz eines der geographisch am meisten begünstigten Punkte an der Erdoberfläche, schließUch in dem großen Reichtum an natürUchen, wenn auch unentwickelten Hilfsquellen, liegen dann noch weitere — 59 — Gründe, welche die Aufmerksamkeit der Mächte und die Neigung zur Einmischung wach erhalten müssen, zunächst die des an- greifenden Rußland, andrerseits Österreich- Ungarns und Englands, welche große Interessen zu verteidigen haben. Nur in Zeiten, wo die Halbinsel Glied eines sich über beide Erdteile erstrecken- den Weltreichs, Konstantinopel dessen Hauptstadt ist und die ethnographische Mannigfaltigkeit zurücktritt, sei es weil die natio- nale Idee überhaupt in der betreffenden Periode wenig Bedeutung hat, oder das herrschende Volk alle übrigen durch überlegene Gesittung ihrer Eigenart entkleidet, oder durch alles niedertretende Gewalt zur völlig recht- und willenlosen Herde herabdrückt — nur in solchen Zeiten wird es keine orientalische Frage geben. Sobald die Macht des herrschenden Volks zu schwinden beginnt, wie die byzantinische im spätem Mittelalter, die türkische seit dem vorigen Jahrhundert, treten jene geographischen und ethno- graphischen Faktoren wieder in Wirksamkeit, und entwickelt sich eine orientalische Frage, die Europa so lange in Atem erhalten wird, bis die Südosthalbinsel und Kleinasien mit Konstantinopel wieder in einer starken Hand vereinigt sind. Diese wird dann aber, wie sich die Verhältnisse in der Neuzeit entwickelt haben, einen erdrückenden Einfluß auf einen großen Teil der Alten Welt ausüben. Daß Rußland den Besitz von Konstantinopel und damit beider Halbinseln anstrebt, unterliegt keinem Zweifel. Zu ver- hindern, daß es dieses Ziel erreiche, wäre am besten gelungen durch möglichste Aufrechterhaltung der Türkei, natürlich unter allmählicher Überführung derselben in die europäische Staaten- und Fürstenfamilie. Nur dem flüchtigen Beobachter kann der Eindruck werden, als sei die deutsche Politik bemüht, eine Wieder- belebung der Türkei herbeizuführen; denn eine solche ist, so sehr man sie wünschen mag, nach dem Urteil aller Kenner völlig ausgeschlossen. So viel rohe Kraft in den unteren Schichten des osmanischen Volkes, so reiche, unentwickelte Hilfsquellen auch noch in den türkischen Ländern schlummern: die dumpfe Ver- zweiflung, das Dahinschwinden der Massen, die Verkommenheit der oberen Schichten ist zu weit vorgeschritten, um ein wirkliches Wiederaufleben als denkbar erscheinen zu lassen, um so weniger, als zu viele Faktoren vorhanden sind , die ein Interesse haben, dies zu verhindern. Auch der tüchtigste Herrscher wäre dazu — 6o — nicht imstande, da es ihm völlig an brauchbaren Werkzeugen zur Ausführung seiner Pläne und an Verständnis für dieselben im Volke fehlen, ja die berufenen Werkzeuge ihm vielfach absicht- lich entgegenarbeiten würden. Immerhin ist die Widerstandskraft des türkischen Reiches noch eine sehr große, und die Auflösung desselben wird bei weitem nicht so rasch erfolgen, wie der nach dem äußeren Schein Urteilende glauben mag. Da zugleich die nationale Idee, heute fast allein der entscheidende Faktor in der Politik, wie sich die Dinge gestaltet haben, Rußlands Bestrebungen hier feindlich sein muß und eine gemeinsame Niederhaltung der zahlreichen kleinen Störenfriede, die hier die nationale Idee ge- schaffen hat, seitens der Mächte undenkbar ist, so wird die Lösung der orientalischen Frage des neunzehnten Jahrhunderts noch auf lange Zeit die Völker Europas in Atem erhalten; noch Generationen werden durch die Ausbrüche des orientalischen Kraters in Mitleidenschaft gezogen werden. Zwischen Rußland und Konstantinopel liegen heute der erstarkte rumänische und der sich rasch entwickelnde bulgarische Nationalstaat; ein Weg dahin ist heute leichter durch Kleinasien. Eine Lösung der orientalischen Frage, die wohl allen Mächten, außer Rußland und vielleicht Bulgarien, genehm sein und am weitesten den Forde- rungen der europäischen Gesittung entsprechen dürfte, scheint sich jetzt ethnographisch anzubahnen und muß auch als geo- graphisch begünstigt erscheinen: die Schaffung eines großen Grie- chenlands, in welchem Konstantinopel eine durch Verträge ge- sicherte, besondere Stellung einzunehmen hätte. Dasselbe hätte, außer dem heutigen Königreiche, Epirus, vielleicht unter Anschluß Albaniens durch Personalunion, die Inseln des Archipels mit Chal- kidike und den Westrand Kleinasiens nebst dem europäischen Ufer des Marmarameeres zu umfassen. Dieser durchaus maritime Staat würde in hohem Grade geeignet sein, als neutrale Schicht zwischen den sich widerstreitenden Interessen zu dienen. Ethno- graphisch bahnt sich diese Lösung insofern an, als schon heute das Fünf-Millionen-Volk der Griechen in dem solchergestalt um- schriebenen Gebiete bei weitem das Übergewicht hat, Konstanti- nopel und Smyrna die größten Griechenstädte sind. Jugendfrisch sich vermehrend, an Besitz und Gesittung wachsend, wird in fünfzig Jahren das dann zehn Millionen zählende Griechenvolk ohne Eingriffe von außen jenes Gebiet allein bewohnen. Die — 6i — Enkelin des ersten deutschen Kaisers auf dem Throne von By- zanz ! Freilich für das deutsche Volk würde dieser vom Fluge der Phantasie getragene Ausblick in die Zukunft kaum irgend- welche spezielle und praktische Bedeutung haben. Jedenfalls aber, wie immer sich die Dinge im Orient gestalten werden, das erkennt man schon heute, daß dort drei Völkern, Griechen, Bul- garen und Rumänen, eine größere Zukunft blühen wird. 5. Die Dattelpalme im Kultur- und Geistesleben des Orients. 0 Die Dattelpalme, von welcher zu uns nur die weniger guten Früchte gelangen, weil die besseren, weicheren Sorten nicht gut transportabel sind und auch bei uns nur als Naschwerk dienen, spielt im großen Wüstengebiet der Alten Welt, zwischen dem Indus und dem Atlantischen Ozean eine so außerordentliche Rolle wie sonst kein Baum in außertropischen Erdräumen. Sie ist in so hohem Grade der Charakterbaum dieses ungeheuren Ländergebiets, ja meist der einzige Baum, daß dasselbe auf den mittelalterlichen Seekarten der Italiener, auf denen Flaggen, Legenden oder ein- gezeichnete Bilder unser politisches Kolorit ersetzen, treffend durch das Bild dieses Baumes bezeichnet zu werden pflegt. Dort ist derselbe der Ernährer von Millionen Menschen, er allein hat erst die Wüste bewohnbar gemacht und seine Kultur reicht so weit zurück als eben noch historische Zeugnisse reichen. Wir begreifen daher, daß die Dattelpalme im gesamten materiellen und geistigen Leben der Bewohner jener Länder eine ganz be- sondere Rolle spielt, daß er denselben, fast möchte ich sagen, menschlich nahe steht. In dem alten Kulturlande Ägypten, das noch heute in ein- zelnen Gegenden einem lichten Palmenwalde gleicht und wo die Steuerregister jetzt nicht weniger als 6 Millionen Dattelpalmen zählen (gegenüber nur etwa i^j^ Millionen sonstiger Fruchtbäume), ist die Dattelpalme als Kulturbaum und als Faktor im Kultur- leben beim Beginn unserer historischen Kenntnis selbst vorhanden. Isis, die Göttin der Fruchtbarkeit, erscheint stets mit einem l) Erschienen in der Deutschen Revue Februar i88r. — 62 — Palmenzweige zur Seite und bei ihren Festen treten Palmträger in der Prozession auf. Aus den Inschriften von Denderah er- sehen wir, daß die Opferstiere mit Palmbast gereinigt und auf einer Schlachtbank aus Palmenholz abgetan wurden. Die noch heute bei den Völkern des Islam herrschende (nicht ganz richtige) Anschauung, daß die Palme jählich zwölf neue Blätter ansetze, in jedem Monat eines, war auch den alten Ägyptern geläufig und sie diente ihnen daher als Symbol zur Bezeichnung des Jahres- zyklus mit den zwölf Monaten. Unter den Dingbildern der ägyp- tischen Hieroglyphik ist die Datteltraube oft verwendet und unter den Lautbildern erscheint ein Mann mit Palmzweigen in jeder Hand oder einem solchen auf dem Kopfe. Nach den Forschungen von Joharmes Dümichen ist unter dem in den hieroglyphischen Texten häufig genannten und stets mit ganz bestimmten charak- teristischen hieroglyphischen Zeichen wiederkehrenden Baume (am) nur die Dattelpalme zu verstehen und für den Baum tritt zu- weilen die Dattel (bäner), ebenfalls mit charakteristischem hiero- glyphischen Zeichen ein. Dies läßt darauf schließen, daß der Baum schon in sehr alter Zeit, in einer Zeit, aus welcher uns direkte historische Überlieferung kaum erhalten ist, tief im 3. Jahr- tausend vor Christus schon edler Fruchtbaum war. Dement- sprechend sehen wir auf zahlreichen bildlichen Darstellungen auf den Denkmälern von Theben, deren Zeit freilich nicht genügend feststeht, Dattelpalmen mit mächtigen Fruchttrauben beladen von den Ägyptern gepflegt und bewässert. Wasserbecken und Wein- gärten sind dargestellt, umgeben von Reihen von Dattel- und Dumpalmen. Dattelbrote und getrocknete Datteln sind in den Gräbern von Theben gefunden worden, eines der ersteren wird im britischen Museum aufbewahrt. Auf dem Pyramidenfelde von Sakarrah finden wir auf der Wand des wohl mindestens bis zum Jahre 2000 v. Chr. zurückreichenden Grabtempels eines vornehmen Ägypters namens Ti, die ihm gehörigen Ortschaften durch Frauen- gestalten dargestellt, welche die Todtenopfer für Ti an Speisen und Getränken herbeibringen, der Name jedes Ortes durch Zu- sammensetzung mit dem des verstorbenen Besitzers gebildet. Darunter erscheint auch das Palmen-Ti, also wohl der Ort, welcher Tis Haushalt mit Datteln, vielleicht auch mit Palmenwein zu ver- sehen hatte. Wir sehen also, daß die Dattelpalme als Volks- nahrung in Ägypten in sehr alter Zeit schon eine große Rolle - 63 - spielte. Doch müssen wir uns hüten, mit dem geistvollen, aber allzusehr an vorgefaßten Anschauungen festhaltenden Thomas Buckle diese ihre Bedeutung zu überschätzen und etwa auf diese massenhafte und billige Nahrung allein die Verdichtung der Be- völkerung und die ganze eigentümliche Kulturentwicklung der Nil- oase zurückzuführen. So wichtig im ganzen Wüstengebiet noch heute die Dattel als Volksnahrung ist, so bildet sie doch nur ausnahmsweise und höchstens auf Monate die einzige Nahrung, überall ist daneben Getreidenahrung, Milch, Fleisch oder Fisch, je nach der Gegend, notwendig, in den Saharaoasen verlangt auch der Ärmste daneben Getreidenahrung und meist ist diese, nicht die Dattel die Basis der Ernährung. Genau so war es im alten, genau so ist es im modernen Ägypten: Weizen, Gerste und Bohnen, in Oberägypten und Nubien mehr Durrah bildeten die Hauptnahrung, die Dattel ergänzte dieselbe nur. Dementsprechend bestanden die Einkünfte, welche Tuthmosis III. um 1600 v. Chr. dem von ihm erbauten Tempel zu Semneh in der Thebais an- wies, der Gegend, welche von jeher die vorzüglichsten Datteln hervorbrachte, in Durrah und Stieren. Der biblische Joseph sam- melte auch in den sieben fetten Jahren nicht etwa Datteln in den Vorratshäusern Pharaos, sondern Weizen; auch ließ Jakob seine Söhne nicht etwa Datteln aus Ägypten holen. Und als beim Auszug der Kinder Israel aus Ägypten die Plagen über Ägypten verhängt wurden, zerstörte ein Hagelschlag nicht etwa die Dattel- haine, sondern die Gerste und den Leinen, verschonte aber die anderen Saaten, offenbar weil sie in der Entwicklung noch so weit zurück waren, daß ihnen der Hagelschlag nicht schadete. Wie noch heute die Dattelpalme im holzarmen Ägypten mannigfach für Bauzwecke verwendet wird, so war das jedenfalls auch in den ältesten Zeiten schon der Fall und so mußte die- selbe einen tiefgreifenden Einfluß auf die Entwicklung der ägyp- tischen Baukunst ausüben. Es liegt so nahe, daß man zuerst den Palmenstamm als Stütze des Daches anwendete und dann bei vervollkommneter Technik an Stelle dieser immerhin gebrech- lichen Säule eine solche aus Stein setzte, der man aber die For- men des herrlichen Baumes zu wahren suchte. Ist uns ja von Mohammed direkt bezeugt, daß er als die ersten Säulen der Moschee zu Medina Palmstämme in einer Erdmauer aufrichtete, die erst vom Khalifen Omar durch Erd- (wohl Luftzies-el-) Pfeiler - 64 - ersetzt wurden. Vielleicht verlockten auch die herrlichen Kronen der Palmen, welche sich neben einem Tempel und neben den doch wohl noch älteren Lotussäulen erhoben, zur Nachbildung in Stein, Jedenfalls sehen wir den Palraenstamm und das Pal- menkapitäl schon sehr früh in der ägyptischen Baukunst ver- wendet, und merkwürdigerweise kommen in der Natur wirklich so kurzstämmige, dicke Palmstämme vor, wie diejenigen, welche die ägyptischen Säulen, gewiß nur infolge der schwierigen Be- handlung des Steinmaterials, darstellen. Fern im Westen, im algerischen Oasenarchipel des Wed Suf, erlangt der Palmbaum infolge der höchst eigentümlichen Kultur desselben in bis 8 m tiefen einem auf die Spitze gestellten Kegel ähnlichen Gruben nicht die bekannte schlanke Gestalt, sondern setzt auf wenige Meter hohem, starkem zylindrischen Stamme, der nach unten konisch verdickt ist, eine gewaltige Blätterkrone an, so daß er überraschend den ägyptischen Palmensäulen gleicht. Am herr- lichsten und großartigsten finden wir dieselben angewendet in dem großen Tempel von Edfu (Apollinopolis magna), wo die Krone des Baumes als wahrhaft nationales Säulenkapitäl vom Künstler in wunderbarer Treue bis in die kleinsten Einzelheiten an Kapitalen dargestellt ist, welche den riesigen Umfang von öYj m haben. Außerordentlich zierlich sind die Schuppen des Stammes, die Datteltrauben und die graziöse Krümmung wieder- gegeben, welche dem Palmenzweige an seinem obersten Ende eigen ist. Überraschend ist namentlich auch der Eindruck, wel- chen noch heute die Palmen und Palmengruppen hervorrufen, welche in und um die Ruinen des Tempels von Qäu (Antaeo- polis) und oft dicht neben den noch wohl erhaltenen, aufrecht stehenden Säulen mit Palmenkapitälen stehen. Dort kann man die Natur und ihre steinere Nachbildung am besten studieren. Die Palmenkapitäle von Qäu bestehen aus neun langen Palm- zweigen, welche kühn emporstrebend oben mit graziösen Krüm- mungen enden. Die Spitzen der Blätter sind durch ein in ihnen entsprechenden neun Teilen zierlich ausgeschnittenes Massiv ver- einigt. Ihre Anordnung ist eine verschiedene mit Rücksicht auf den viereckigen Würfel, welcher das Kapital trägt. Diese an- scheinende Unregelmäßigkeit wird durch die ungleiche Zahl der Palmenzweige hervorgerufen, die nur bei den Kapitalen von Qäu vorkommt. Sie bewirkt, daß die Kapitale von vom immer ein - 65 - en face gesehenes Blatt darstellen, von rückwärts vom entgegen- gesetzten Ende des Durchmessers eine von den Flächen zweier anderer Blätter gebildete Kante. Der Schnitt der Vorderseiten, der Kanten und der Krümmungen der Kapitale ist von herrlicher Durchführung. Auf den trefflichen Tafeln, welche die ägyptischen Denkmäler nach den Forschungen der Bonaparteschen Expedition darstellen, finden wir im I. und IV. Bande auch diese Tempel und ihre prächtigen Säulenkapitäle abgebildet. (Description de l'Egypte, Antiquit6s sec. ed., Bd. I Planche 5, 6, 8 Fig. 8 u. 18, 55^ 75 Fig. 2 u. 5, 76 Fig. 9, 89 Fig. 5, Band IV Taf. 39, 40, 41 Fig. 4 u. 5 A.) Auch in den berühmten Tempeln von Philae und anderwärts kehren diese Palmenkapitäle wieder und Herodot erzählt uns, daß in dem aus Stein erbauten Tempel von Sais die Säulen der Gestalt des Palmbaums nachgebildet waren. In ägyptischen Denkmälern finden wir auch die ältesten chronologisch sicher gestellten Zeugnisse dafür, daß auch bei Babyloniem und Assyriern die Dattelpalme sehr früh eine Rolle im Kulturleben spielte. Die Inschriften von Karnak berichten uns nämlich von den kulturhistorisch so wichtigen ältesten Kämpfen zwischen Ägyptern und Assyriern seit dem Ende des 17. Jahr- hunderts V. Chr. unter Tuthraosis III. (XVIII. Dynastie), welche eine erste Berührung ägyptischer Kultur mit den Kulturvölkern Asiens herbeiführten, durch welche sich Ägypten um eine Fülle von Erzeugnissen der Natur und des Gewerbfleißes bereicherte und unter anderen zuerst Pferde und Kriegswagen kennen lernte. Unter der Beute und den den Assyriern auferlegten Tributen befinden sich auch ungeheure Mengen Palmwein. Wie in Ägypten hat man auch in Mesopotamien und speziell dem alten Chaldaea Spuren gefunden, daß auch hier die Dattel als Volksnahrung ins Gewicht fiel. Oberst Taylor hat in den chaldäischen Ruinen von Mugheir, dem biblischen Ur, einem der ältesten Sitze chal- däischer Kultur, Reste von Palmenstämmen, welche als Balken gedient haben mochten, und Reste von Dattelkernen in den Grä- bern gefunden, so daß man anscheinend auch hier den Toten noch etwas von ihrer Lieblingsspeise mit in das Grab gab. Diese Dattelkerne kommen nur mit Stein- und Bronzewerkzeugen zu- sammen vor, man möchte ihnen daher ein hohes Alter, Anfang des 2., wenn nicht des 3. Jahrtausend v. Chr., zuschreiben. Aus beträchtlich späterer Zeit finden wir Datteln pflückende Frauen Fischer, Mittelmeerbilder. 5 — 66 — auf babylonischen Denkmälern dargestellt. Zahlreicher, aber aus noch jüngerer Zeit sind die Darstellungen, welche die Dattel- palme in der assyrischen Kunst gefunden hat, namentlich in den in Kujundschik ausgegrabenen Palästen. Dort finden wir Früchte dargestellt, welche zu einem Gastmahle aufgetragen werden, unter ihnen auch Büschel reifer Datteln. Ein Basrelief von Kujundschik stellt dar die Unterwerfung einer an einem Flusse anscheinend in sumpfiger, wohl von unbotmäßigen arabischen Stämmen be- wohnter Gegend gelegenen Stadt und Landschaft, die wir nach der überraschenden Ähnlichkeit, welche die dargestellte Land- schaft mit der heutigen am unteren Euphrat hat, dort zu suchen haben. Zahlreiche assyrische Krieger sind eben beschäftigt, die fruchtbeladenen Dattelpalmen umzuhauen. Da Henry Layard nachgewiesen hat, daß Sennacherib der Erbauer dieses Palastes war, so reichen diese Skulpturen nicht weiter als ins Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. zurück. Etwas weiter bis gegen das Jahr looo mögen andere rohere Darstellungen der Dattelpalme, von solchen umgebene assyrische Tempel u, dgl. zurückreichen. König Asshur-bani-pal ist in seinem Palaste zu Kujundschik dar- gestellt in einem Dattelhaine und auf einer anderen Skulptur er- heben sich zwei große mit Früchten beladene Dattelpalmen neben dem Streitwagen des aus der Schlacht heimkehrenden Königs. Schilderungen aus den letzten Jahrhunderten vor Beginn unserer Zeitrechnung und den ersten nach derselben lassen uns Meso- potamien als einen ungeheuren Palmenwald erscheinen. Dennoch ist uns sicher genug bezeugt, daß auch hier Weizen und Gerste die Grundlage der Ernährung bildeten. Nicht anders war es jedenfalls zur Zeit der arabischen Herrschaft, wo hier die Dattel- kultur so hohe Blüte erlangte, daß die Dattelgärtner aus Basra im 12. Jahrhundert die Palmen mit Guano, wohl die älteste Ver- wendung desselben, düngten, den sie um hohen Preis von den Felseninseln im Persischen Meerbusen bezogen. Auch in Meso- potamien scheint die Dattelpalme auf die Entwicklung der Archi- tektur, wenn auch in anderer Weise wie in Ägypten, eingewirkt zu haben. Man benutzte dort, wo die Häuser aus Luftziegeln erbaut wurden, die Palmstämme als Balken, wobei sich bald die Beobachtung aufdrängte, daß sich der belastete Palmstamm nach oben, der Last entgegen, krümmt. Xenophon vergleicht diese Krümmung derjenigen eines belasteten Eselrückens. Stellte man - 67 - nun zwei gekrümmte Palmstämme gegeneinander, so hatte man die Rippe des gothischen Spitzbogens, die dann in Luftziegeln nachgeahmt wurde, wie sich Spuren davon in den antiken baby- lonischen wie in den modernen Backsteinbauten von Bagdad finden. Und sogar auf den Schiffsbau ist hier in Mesopotamien wie am Persischen Meerbusen die Dattelpalme von Einfluß ge- wesen und Vergleiche von sonst und jetzt zeigen, wie sich darin seit Jahrtausenden nichts geändert hat. Dieselben Boote von kreis- runder Form, von beiden Seiten geteert und sich drehend fort- bewegend, die wir schon auf assyrischen Denkmälern dargestellt finden, werden noch heute auf dem Tigris verwendet. Es sind die sogenannten Kuffeh, die nur aus Blättern der Dattelpalme gemacht werden. An der Mündung des Schat-el-Arab werden noch heute Schiffe gebaut aus Palmenholz, mit Datteln als Pro- viant und Kaufmannsgut beladen. Auch in den zahlreichen klei- nen Küstenfahrern, welche im persischen Bender Abbas gebaut werden, besteht nur der Hauptbalken, der alles zusammenhalten muß, aus indischem Teakholz, alles andere ist von der Dattel- palme genommen. Weit inniger noch als in Ägypten und Mesopotamien ist die Dattelpalme mit der Kultur, dem Kultus und dem gesamten geistigen Leben der Araber verwachsen. Arabien entbehrt so befruchtender Ströme, wie der Nil, der Euphrat und Tigris sind; es erzeugt nicht wie jene Länder ungeheure Mengen von Cerea- lien, die Dattelpalme ist dort in höherem Maße Ernährerin, dort bricht in der Tat Hungersnot aus, wenn etwa Heuschreckenplage die Dattelernte fehlschlagen macht. So wurden denn dem Baume in den verschiedenen Gegenden des Landes göttliche Ehren er- wiesen. In Nedschran, einer alten Dattellandschaft, die wir neuer- dings zuerst durch Joseph Hal6\y etwas kennen gelernt haben, in welcher sich aber schon die römischen Legionen unter Aelius Gallus (24 V. Chr.) von Datteln nährten, verehrten die Bewohner einen heiligen Palmbaum, der außerhalb ihrer Stadt stand und zu dem sie an einem gewissen Tage in Prozession hinauszogen und ihn mit reich gestickten Teppichen behingen, weil dann aus diesem Idole ein Dämon zu ihnen sprach, dem sie so ihre Ehr- furcht bezeugten. Ebenso verehrte der Stamm der Takif, der bei Taif wohnte, die Göttin Allat in einem großen mit Weihe- geschenken begabten Baume, welcher unter den Palmen des — 68 — Tales von Nachiah hervorragte. Auch in Oman wurden der Dattelpalme als heiligem Baume alljährlich Feste gefeiert und Opfer gebracht. Eine besonders heilige Stätte der Palmenkultur war der Palmenhain im Wadi Firan, auf der Sinaihalbinsel, der mit seinen reichen Quellen und davon genährter reicher Vege- tation inmitten öder Felsenwüste von jeher den Menschen an- gezogen hat und selbst von den Barbaren heilig gehalten wurde. Ein uralter Altar aus festem Stein war in dem Haine errichtet, bedeckt mit altertümlichen unbekannten Schriftzügen. Ein Mann und eine Frau standen als Priester und Priesterin auf Lebenszeit dem Heiligtume vor und die dort Lebenden wurden zu den Seligen gerechnet. Alle fünf Jahre wurde in dem Palmenhaine ein Fest gefeiert, zu welchem von allen Seiten die Umwohner zusammenströmten, um den Göttern des Heiligtums fette Kamele zu opfern und heilbringende Wasser aus den dort sprudelnden Quellen mit nach Hause zu nehmen. Eine andere Quelle be- richtet ergänzend, daß das priesterliche Paar sich in Felle kleidete und von den Datteln nährte, der wilden Tiere wegen jedoch die Nächte in Hütten auf den Wipfeln der Palmen zubrachte. Es erinnert uns dies Paar an den einsamen unsterblichen Mönch, welcher jetzt in dem dem Sinaikloster gehörigen Palmenhaine etwas landeinwärts von Tor im Tale El Wadi wohnt und den Hain für sein Kloster bewacht. Serb-Baal, der Palmenhain des Baal, so wurde dieser heilige Hain genannt und nach ihm der Berg, an dessen Nordseite er liegt. Baal, der von den Stämmen des nordwestlichen Arabiens besonders verehrt wurde, war der Gott, welcher Frucht und Wasser in die Wüste spendete, und so nannte man später alle in Arabien nicht von Menschen ge- pflanzten und gepflegten, sondern lediglich auf Regen und Boden- feuchtigkeit angewiesenen Dattelpalmen Allahs Datteln. Allah selbst hatte wie das Kamel, so auch die Dattelpalme aus einem Reste desselben Tons, aus dem er den Menschen gebildet hatte, geschaff"en und dem Menschen aus dem Paradiese ins Leben mitgegeben. Der Araber betrachtete den edlen Baum daher als seinen Verwandten und der Prophet soll selbst zur Achtung vor demselben aufgefordert und gemahnt haben: ,, ehret ihn als eure Base"! Kamel und Dattelpalme, diese einander so ähnlichen Vertreter des Tier- und Pflanzenreichs im großen Wüstengebiet, blieben daher dem Gläubigen auf Erden göttergleich und gehören im - 69 - zukünftigen Leben mit zu seinem Paradiese, in welchem der Prophet ihm noch Datteln verheißt. Unter der Palme, so ver- heißt der Koran, am klaren Wasser des lebendig dahin murmeln- den Baches wird der wahre Gläubige im Paradiese Jungfrauen mit dunkeln keuschen Augen liebkosen, die noch nie weder ein Mann noch ein Genius berührt hat. Im Koran ermahnt auch der Prophet die Gläubigen, Gott zu danken für seine Gaben, für die nährenden Gewächse, die Weintrauben und die Datteln, weil auch darin für den Nachdenkenden göttliche Offenbarungen gegeben seien. Diesen Vorstellungen entspricht es, daß der treff- liche Kosmograph Kazwini die Dattelpalme dem Menschen gegen- überstellt, dem sie gleiche durch ihre gerade, schlanke, aufrechte Gestalt und Schönheit, durch ihre Scheidung in zwei Geschlechter, wie durch ihre Befruchtung. Schlage man dem Palmbaum den Kopf ab, d. h. die Krone, die Endknospe, so sterbe er; seine Blüte sei wie ein Embryo in ein Tiermembran in die Spatha eingehüllt und habe einen spermazetischen Geruch. Wenn das Hirn des Palm- baums leide, so leide auch der ganze Baum mit; seine Zweige, wenn einmal abgebrochen, wachsen so wenig wieder wie die Arme eines Menschen; seine Fasern und Netzgewebe bedecken ihn, wie der Haarwuchs den Mann, und alle weiblichen Palmen, die eine männliche umstehen und von ihr Duft erhalten, werden von ihr befruchtet. Diesen den Baum gewissermaßen menschlich belebenden Anschauungen entspricht es, daß der Araber unter den Krank- heiten desselben auch eine nennt, von der auch die landwirt- schaftlichen Schriften der Araber zu handeln nicht unterlassen und welche als Eschq, Liebe, bezeichnet wird. Sie besteht darin, daß eine weibliche Palme den Blütenstaub der ihr zunächst stehenden männlichen aus Abneigung nicht aufnimmt, dafür sich unter den ferner stehenden einen Liebling erwählt, dem sie sich zuneigt, womit aber ein Verkümmern verbunden sein soll, dem nur zu steuern ist dadurch, daß man beide durch Stricke aus Palmfasern verbindet und die weibliche mit dem Blütenstäube der männlichen befruchtet. Wie in der christlichen Legende von der Flucht nach Ägyp- ten durch die Wüste der Palmbaum seine mit Datteln beladenen Zweige herabneigt, so mußte nach einer Legende im Koran der dürre Palmstamm, an dessen Wurzel die Wöchnerin Maria das — 70 — Christuskind gebar, auf dessen Geheiß seine Früchte in den Schoß der verschmachtenden Mutter schüttehi, eine Sage, der wir in überraschender Ähnlichkeit, wohl mit dem Baume aus dem semitischen Oriente eingeführt, auch bei den Griechen begegnen: Leto gebiert nach dem Hymnus auf den Delischen Apollo am Fuße der berühmten Delischen Palme, deren Stamm mit den Armen umfassend, den Apollo. Es scheint dies darauf hinzudeuten, daß schon in sehr alter Zeit, wie die Dattel- palme von allen Völkern als Symbol der Fruchtbarkeit an- gesehen wurde, so Frauen, welche zu gebären im Begriff waren, auch bei Griechen und Römern, vermutlich nach aus dem Orient überkommener Sitte, einen Palmzweig berührten. In Persien pflegte man der Braut eine goldene Palme darzureichen als Vor- zeichen einer langen Fruchtbarkeit. Bei vielen Völkern galt der Genuß von Datteln bis in die neueste Zeit als Gebärenden sehr förderlich. Entsprechend der Wichtigkeit und dem Werte des Baumes galt es zu allen Zeiten und bei allen Völkern für eine Sünde, denselben umzuhauen in der Absicht, dadurch Feinden zu schaden. Und selbst Mohammed mußte sich seinen über diese Sünde empörten Anhängern gegenüber entschuldigen, als er sich durch seinen Haß gegen die Juden von Cheibar zu dem Befehle hatte hinreißen lassen, ihre Palmenhaine niederzubrennen und auszureißen. Der Khalif Abu Bekr nahm infolgedessen unter seine zehn dem Volke gegebenen Gebote auch den Befehl auf: zerstöret keine Dattelbäume! Ein Gebot, das bis heute nur selten und nur in den erbittersten Kämpfen verletzt worden ist. Denn in der Tat vergehen Jahre, ehe junge Pflanzungen wieder ertrags- fähig werden, und Jahrzehnte, ehe sie zu voller Ertragsfähigkeit gelangen. Durch Umhauen der Palmen oder selbst nur der männ- lichen kann eine ganze Landschaft veröden und die Bewohner dem Verhungern ausgesetzt werden. Zahlreiche arabische Dichter besingen die Ernährerin des Landes und landwirtschaftliche Schriftsteller geben in umfang- reichen Werken Anleitung über den ihr zusagenden Boden, die Bewässerung, die Legung des Kerns oder Pflanzung der Schöß- linge, Düngung usw.; der Einfluß des Mondes auf diese Vor- gänge wird hervorgehoben und eine Menge abergläubiger Vor- stellungen knüpfen sich bei den Arabern an den Baum. Das — 71 — gesamte Leben des arabischen Volkes ist an das Vorhandensein der Dattelpalme gekettet; ohne sie würden tatsächlich weite Striche des Landes gar keine, andere nur wenige Bewohner zu ernähren imstande sein, das Land hätte nicht jene zahlreichen streitbaren Scharen nach Osten und nach Westen, nach Norden und nach Süden aussenden und dem Islam eine Welt erobern können, wenn die Dattelpalme nicht eine gewisse Verdichtuno- der Bevölkerung erlaubt hätte. Wir können daher sagen, daß auch die weltgeschichtliche Rolle, welche das arabische Volk gespielt hat, in engstem Zusammenhange mit seinem heiligen Baume steht, wenn wir auch diesen Satz sofort durch einen zweiten beschränken müssen, den nämlich, daß die Araber aber erst außerhalb Arabiens auf begünstigterem Boden zu dem Kulturvolke werden konnten, das einen so nachhaltigen Einfluß auf die Ent- wicklung der Gesamtkultur ausgeübt hat. Denn wenn die Kultur- bedeutung der Dattelpalme auch insofern eine sehr hohe ist, als sie eine in bezug auf den Naturzustand oder selbst das Nomaden- leben fortgeschrittene Kultur hervorzurufen vermag, so müssen doch zahlreiche andere gewichtige Faktoren hinzukommen, um einen weiteren Fortschritt herbeizuführen. Wo diese fehlen, sehen wir noch heute genau dieselben Zustände in der Region der Dattel- palme vor uns wie schon vor Jahrtausenden. Bei den den Arabern in physischer wie geistiger Hinsicht so nahestehenden Israeliten spielt die Dattelpalme, obwohl sie nur an einem Punkte von Palästina, im tiefen Spalte des Ghor, namentlich bei Jericho, ihre Früchte völlig reift, ebenfalls eine große Rolle: im Kultus, bei Festlichkeiten, in der Poesie usw. Wie die Araber ihre Hütten aus Palmzweigen unter Palmen auf- schlugen, so wohnte auch die Richterin Debora auf den Bergen Ephraim unter Palmbäumen, wenn auch sicher keinen reife Früchte hervorbringenden. Zum Laubhüttenfeste, das zur Er- innerung an die Zeit, wo Israel auf dem Zuge durch die Wüste in Laubhütten (wir dürfen wohl annehmen Hütten aus Palm- zweigen, von den Arabern mit einem aus Indien überkommenen Worte Kadaschan genannt) wohnte, gefeiert wurde, wurden diese Hütten mit Palmzweigen geschmückt, eine Sitte, welche zu Nehe- mias Zeiten, nachdem sie außer Übung gekommen, wieder ein- geführt wurde, als unter Esra die erste Rückkehr aus der baby- lonischen Gefangenschaft mit Jubel und Freude in Jerusalem - 72 — gefeiert wurde. Die Palmblätter blieben seitdem ein Symbol des Jubels und der höchsten Freude, ein Symbol des Sieges fast bei allen Völkern, wie der Evangelist Johannes dies an dem Tage des Einzugs des Herrn unter dem Rufe Hosianna verewigt hat. Wie ein arabisches Sprichwort junge Männer Palmen vergleichbar nennt, so wird im Hohen Liede die Gestalt des schönen Weibes der schlanken hohen Palme verglichen: „dein Wuchs gleicht der Palme und deine Brüste den Datteltrauben." Auch der arabische Dichter Abd-er-Rahmän Giämi vergleicht die schöne Suleika der anmutigen Palme, welche ihr Haupt hoch erhebt in den lieb- lichen Gärten. Tamar, die Palme, war seit den frühesten Zeiten der Name schöner hebräischer Jungfrauen, wie der Töchter König Salomos und Absaloms. Die Palme ist in der hebräischen Poesie „der Baum gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das gerät wohl"; der Baum, welchen der Psalmist dem Manne vergleicht, „der nicht wandelt im Rate der Gottlosen, sondern hat Lust zum Gesetze des Herrn und redet von seinem Gesetze Tag und Nacht", also ähnlich wie Moham- med denselben als eine göttliche Offenbarung erkennt. An einer anderen Stelle dient das dauernde Grün des Palmbaums dem Psalmisten als ein Bild des blühenden und dauernden Wohl- standes der Gerechten und Froramen. David tröstet sich mit dem Gedanken, daß der Gerechte blühen wird wie die Palme. Auch bei den Israeliten scheint die Dattelpalme von Einfluß auf die Architektur gewesen zu sein, wenigstens wird bezeugt, daß der schöne Schwung des Palmblattes schon beim Salomonischen Tempelbau zu architektonischem Schmuck, vielleicht selbst zur Säulenbildung angewendet wurde. Wir sehen also, daß der herrliche Baum, der den nordischen Reisenden im äußersten Süden Europas immer und immer wieder Bewunderung entlockt und den Maler zu bildlicher Darstellung reizt, obwohl er dort kaum blüht und keine eßbaren Früchte reift, ja, wenn auch eine Hauptzierde der Landschaft, doch kaum seine Gestalt zu den majestätischen Formen seiner Heimat ent- wickelt — daß dieser Baum seit Jahrtausenden bei den Völkern des Orients als Spender von Speise und Trank, als Schirm gegen die glühenden Strahlen der Sonne, wegen seiner herrlichen Gestalt und sonstigen Nutzens in hohen Ehren steht, daß er ihre — 73 — gesamte Kulturentwicklung, ihre Kunst, ja auch ihre Poesie be- einflußt hat, bei Ägyptern und Chaldäera gewiß nicht weniger als bei Arabern und Israeliten, wenn uns auch nur von letzteren direkte Zeugnisse davon aufbewahrt sind. Ist auch der materielle Wert einiger anderer Bäume, aber nur weniger, kaum minder bedeutend, so ist doch in letzterer Hinsicht gewiß keiner mit der Dattelpalme zu vergleichen. IL Palästina. I. Eine länderkundliche Studie. 0 Die Tatsache, daß Palästina, ein so kleines, unscheinbares und von der Natur im ganzen ziemlich stiefmütterlich ausgestattetes Land, der Ausgangspunkt aller monotheistischen Religionen — denn auch die letzten Wurzeln des Islam laufen dorthin aus — , für Christen der verschiedensten Bekenntnisse, für Juden und Mohammedaner, also für alle höher gesitteten, die etwas größere Hälfte der weniger gesitteten Erdenbewohner beherrschenden Völ- ker das Heilige Land ist, muß immer von neuem die Aufmerk- samkeit des Forschers auf sich lenken und zu Versuchen anreizen, die Ursache dieser Erscheinung immer tiefer zu erfassen. Eine zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung Palästinas in der Weise, wie Karl Ritter eine solche vor einem halben Jahrhundert gegeben hat, nur dem heutigen Stande der Wissenschaft und der Kenntnis des Landes entsprechend, wäre ein verlockendes und durchaus mögliches Unternehmen, denn die wissenschaftliche, genauer die naturwissenschaftlich-geographische Erforschung des Landes und seine kartographische Aufzeichnung, die leider da- mals so außerordentlich viel zu wünschen übrig ließen, sind im letzten Vierteljahrhundert erstaunlich fortgeschritten. Hier soll nur eine Skizze entworfen werden. Palästina, so klein es ist, verdankt seiner Lage in der Nähe und zwischen den uralten Kulturvölkern Mesopotamiens und Ägyptens, gewissermaßen auf der beide verbindenden Brücke, daß es früh, schon etwa um 1600 v. Chr. bekannt geworden ist. i) Neue Bearbeitung eines Aufsatzes in der Geogr. Zeitschrift hersg. von A. Hettner 2. Jahrg. 1896. — 75 — Um 1400 V. Chr. gewährt uns bereits eine Sammlung von Briefen, zum größten Teil in assyrischer Sprache und babylonischer Keil- schrift von kanaanitischen Fürsten, wie z. B. auch von dem von Urusalim (Jerusalem) an ägyptische Pharaonen geschrieben, einen Einblick in die Verhältnisse des Landes, die 1887 in Tell-el- Amama in Unterägypten gefunden worden sind. Durch Alexan- der den Großen wurde es auch dem Westen bekannt. Aber von den griechischen Schriftstellern, die von Palästina gehandelt haben, ist wenig erhalten. Ähnlich von den römischen, die überdies, so- weit wir urteilen können, über das Land und seine Bewohner völlig verkehrte Vorstellungen hatten. Von einheimischen Quellen des Altertums ist die Bibel und Flavius Josephus sehr hoch zu stellen, der als jüdischer Gelehrter, Feldherr und Statthalter von Galiläa Juden und Römer einander näher zu bringen gesucht hat und besonders in seinem Werke über den jüdischen Krieg die Topographie des Landes gefördert hat. Für die Kenntnis des Landes hochbedeutungsvoll ist, daß Palästina in den ersten christlichen Jahrhunderten sich langen Friedens und kräftigen Schutzes gegen die Wüstenbewohner erfreute, was ein erstaun- liches Aufblühen des Landes und eine Vermehrung der Bevölke- rung namentlich durch starke Zuwanderung von Christen im 4. und 5. Jahrhundert aus den von Barbaren verheerten Ländern {Italien und Tunesien besonders) zur Folge hatte. Zahllose Li- schriften aus jener Zeit bilden eine wichtige Quelle unserer Kennt- nis. Ja, es ist uns sogar eine Karte erhalten, welche in Mosaik auf dem Fußboden einer griechischen Kirche, die an Stelle einer alten Basilika steht, in der alten Moabiterstadt Madeba, östlich vom Toten Meere, im Dezember 1896 wieder aufgefunden wor- den ist. Sie stammt aus der Zeit etwa um 400 n. Chr. und stellte in großem Maßstabe Ägypten, Syrien und Kleinasien dar. Von ursprünglich etwa 280 qm Fläche sind nur etwa 18 erhalten, welche Bruchstücke von Palästina und Ägypten darstellen. Für das Mittelalter schöpfen wir besonders aus arabischen Geographen Ibn Haukai, Abulfeda (c. 1350), selbst ein Syrier, und dem jüdi- schen Reisenden Benjamin von Tudela (c. 11 70). Das christliche Abendland, das nach dem Vorgange der byzantinischen Kaiser, die dem Heiligen Lande ihre Gunst zuwandten, in steigendem Maße als Ausgangspunkt des Christentums zu verehren beginnt, bietet im Mittelalter zahlreiche, viel gelesene Aufzeichnungen über - 76 - Pilgerreisen, aus denen sich ja die Kreuzzüge entwickelt haben, die aber nur der Bibelkunde, der Erbauung, allenfalls der histo- rischen Topographie förderlich sind, bis ins i8. Jahrhundert aber dem Geographen, der über die Landesnatur etwas erfahren möchte, einen überaus unerquicklichen Lesestoff bieten. Um die Mitte des i8. Jahrhunderts beginnt mit Linn6s Schü- ler Fr. Hasselquist endlich auch in dieser Hinsicht das Licht über Palästina zu dämmern. Karsten Niebuhr hat das Land als erster Geograph 1766 bereist. Ihm folgen zu Beginn des 19. Jahr- hunderts unter großen Schwierigkeiten und Gefahren Jak. Seetzen und L. Burckhardt. Der Geolog Jakob Russegger erkennt mit von Schubert in den 30er Jahren während der geordneten Ver- waltung der Ägypter unter Ibrahim Pascha die tief eingesenkte Lage des Ghor und des Toten Meeres. Wesentliches verdanken wir auch in derselben Zeit dem Amerikaner Robinson. Ein siche- rer Grund für unsere heutige Kenntnis wird aber erst durch zwei große Gesellschaften gelegt, welche sich die wissenschaftliche Er- forschung von Palästina zur Aufgabe gesetzt haben: eine englische seit 1867 und eine deutsche seit 1878. Erstere hat sich beson- dere Verdienste durch die topographische Aufnahme des ganzen Westjordanlandes erworben, bei welcher als junger Offizier der seitdem so bekannt gewordene Kitchener mitwirkte. Daneben hat sie auch durch Naturforscher wie HuU, Tristram u. a. unsere Kenntnis wesentlich vertiefen lassen. Auch französische Forscher, wie der Geologe Lartet und der Herzog von Luynes, deutsche wie der Geologe Stübel und der Archäologe Wettstein, sind in derselben Zeit im Heiligen Lande tätig gewesen. Der deutsche Verein zur Erforschung von Palästina, der mit geringen Mitteln außerordentlich viel geleistet hat, hat neben Ausgrabungen sich vor allem der Erforschung des Ostjordanlandes angenommen, nachdem ein amerikanischer die Arbeit bald wieder niedergelegt hatte. Männer wie der Baurat Schick, der Theologe Socin, der Ingenieur Schuhmacher, der Geologe Blankenhorn u. u. haben sich hier große Verdienste erworben. Soviel auch im einzelnen noch zu tun übrig bleibt, in den großen Zügen kann Palästina heute als erforscht angesehen werden und das ausgezeichnete Bädekersche Reisehandbuch kommt nicht nur dem praktischen Bedürfnis, sondern auch dem wissenschaftlichen Verständnis ent- gegen. — 77 — Das heute von uns Palästina genannte Gebiet im äußersten Südostwinkel der Mittelmeerländer, nach seinen geographischen Grundzügen und seiner Geschichte ein so scharf ausgeprägtes Länderindividuum, wie es wenige gibt, ist ein verschwindend kleiner Teil einer großen Tafelscholle, welche die Außenseite der Erdrinde in der ungeheuren Ausdehnung vom Atlantischen Ozeane bis an den Persischen Meerbusen und den Fuß des iranischen und taurischen Faltenlandes ihr eigenartiges Gepräge verleiht: der großen Wüstentafel. In diesem weiten Bereiche wird die Erdrinde, soweit sie unserer Beobachtung zugänglich und wirklich erforscht ist, von Schichtgesteinen paläozoischen und mesozoischen, zum Teil, namentlich am Rande Nordostafrikas, auch tertiären Alters gebildet, welche ihre ursprüngliche Lagerungsform fast durchaus bewahrt haben und unter welchen nur gegen Süden hin ältere archäische Felsarten, vorwiegend Granite und Gneise, in Gebirgsaufragungen hervortreten. Obwohl dieses alte Grund- gebirge im nahen Sinai noch beträchtliche Höhen bildet, ja an der Ostseite des syrischen Grabens noch weiter nach Norden über Petra bis nahe an das Tote Meer nachgewiesen ist, tritt es im eigentlichen Palästina doch nirgends zutage. Und ebensowenig der ihm zunächst auflagernde paläozoische Gürtel und der nubische Sandstein, der nur am Fuße des Steilabsturzes an der Ostseite des Toten Meeres und noch etwas nördlich davon soeben noch unter der jüngeren Decke hervortritt. Ganz Syrien gehört nämlich, wenn wir von den jungeruptiven und den besonders in Nordostsyrien die Oberfläche bildenden jungtertiären Gesteinen absehen, dem ungeheuren Gürtel von Gesteinen der Kreideformation an, der, Hunderte von Kilometern breit, fast die ganze Nordhälfte der großen Wüstentafel etwa vom Meridian von Algier bis an den Euphrat bildet. Und zwar herrschen hchtgefärbte, den allerdings wesentlich älteren der Rauhen Alb ähnliche Kalksteine allent- halben vor, ja in Palästina allein. Selbst die wenigen in Palästina teils auf dem Westjordanhochlande, teils in einem schmalen Gür- tel am Westabfalle desselben erhaltenen Reste einer Decke von Tertiärgesteinen, Eozänschichten, die auch hier, wie vielfach in den Mittelmeerländern, schwer von der Kreide zu sondern sind, bestehen aus Kalksteinen. Nach dieser petrographischen Eigenart und als Folgeerschei- nungen derselben wird man sofort eine ganze Reihe geographischer - 7« — Tatsachen von großer Wichtigkeit in Palästina erwarten, wie solche in der Tat das Land kennzeichnen. Es fehlen demselben, wenn wir zunächst noch von dem Einflüsse auf die Oberflächen- gestaltung absehen, wie zu vermuten war, Kohlen und Eisen, ja so gut wie alle Mineralschätze überhaupt, also die Möglichkeit Bergbau zu treiben und zu großgewerblicher Entwicklung zu ge- langen. Aber guter Kalkmörtel ist überall vorhanden, gute Bau- steine, oft marmorartig, es herrscht daher, soweit sich nicht zelt- bewohnende Nomaden des Landes bemächtigt haben, durchaus Steinbau mit Bogengewölben und mit flachen Dächern oder Kuppelgewölben vor. Auch die Anlegung von Zisternen und Bewässerungsrinnen aus Zement war erleichtert. Das Land muß femer wasser- und humusarm sein, weil, ganz abgesehen von den klimatischen Verhältnissen, das poröse, zerklüftete, lichtgrau gefärbte Kalkgestein die Meteorwasser, soweit sie von dem er- hitzten Gestein nicht rasch verdunsten oder abrinnen, rasch in die Tiefe sinken läßt, wo sie wohl unterirdische in starken Quellen zutage tretende Wasserläufe bilden, und andererseits der Kalkfels, je reiner er ist, um so vollständiger der chemischen Auflösung durch die Kohlensäure führenden Meteorwasser verfällt und um so weniger unlösliche Rückstände läßt, die zur Bildung einer Humus- decke beitragen könnten. Liefern doch in der Rauhen Alb, trotz viel günstigerer klimatischer Bedingungen, 6 — 8 cbm ähnlichen Kalkgesteins bei der Verwitterung nur i cbm lehmigen Rückstand. In der Tat muß man Palästina ein wasserarmes Land nen- nen. Um so wichtiger sind die vorhandenen Quellen, die alle Namen haben, gefaßt und "von Trümmern von Bauwerken um- geben sind. An sie vorzugsweise oder an Brunnen, die das Wasser künstlich aus der Tiefe heraufbefördem, sind die Siede- lungen gebunden und daher ihre Namen häufig mit Ain (Quelle) oder Bir (Brunnen) gebildet. Man rechnet in ganz Palästina auf je loo qkm nur 4,5 Quellen, in dem in jeder Hinsicht begünstig- ten Galiläa 10, in Samaria 5, in Judäa dagegen nur 3. Man denke sich, es gebe in einem preußischen Kreise von im Mittel 500 qkm nur 15 Quellen und keinen dauernd fließenden Fluß oder Bach! Die Humusarmut, die, wie wir sehen werden, durch die klimatischen Verhältnisse, Wind und Abspülung, erhöht wird, hat dazu geführt, mit peinlicher Sorgfalt, wenigstens in Zeiten — 79 — geordneter Staatsverwaltung, zu sammeln und festzuhalten, was an fruchtbarem Bodem vorhanden ist: Terrassierungen. Oder Sammeln der umherliegenden Gesteinsbrocken, um pflügen zu können, zu Steinwällen, die zugleich Feldergrenzen und zugleich Schutz gegen Wind und VVeidevieh bilden. Diese erzwungene Arbeit der Menschen wird also das Landschaftsbild in hohem Grade beeinflussen. Was von Wind und Regen davon geführt wird, wird sich in Vertiefungen sammeln bzw. zur Bildung einer Küstenebene beitragen. Da diese tiefer gelegenen Gebiete natur- gemäß auch wasserreicher sein werden, so werden sie sich durch üppige Vegetation oasenartig inmitten der felsigen Umgebung abheben. Wird, wie in allen Kalkgebieten, die Tätigkeit des rinnen- den und chemisch auflösenden Wassers vorzugsweise unter die Landesoberfläche verlegt, so wird sich ein gewisser Höhlen- reichtum entwickeln. Palästina ist daher ein besonders höhlen- reiches Land. Überall sind solche vorhanden, oft in großer Aus- dehnung, in Gruppen vereinigt, durch Kunst erweitert, zugänglich und wohnlich gemacht, ja selbst durch Zisternen dauernd mit Wasser versehen, vielfach mit Spuren längerer Benutzung seitens der Menschen. Höhlen werden in der Geschichte Palästinas als Zufluchtsstätten Verfolgter und Heimatloser sehr oft erwähnt, sie dienten als Einsiedeleien, als Gräber, als Wohnstätten, als Festungen; ganze Höhlendörfer sind nachgewiesen und noch heute dienen sie vielfach zur Ergänzung der Häuser als Ställe, Vorratsräume, Werkstätten u. dgl., wie das jedem Pilger bekannte Dorf Siloah, dicht bei Jerusalem am östlichen Felshange des Kidrontales, ein halbes Höhlendorf, zeigt. Ähnlich ist es im vulkanischen Hauran, wo sich auch ganze Höhlendörfer finden. Es dürfte das Vorkommen dieser trocknen, besonders im regenreichen Winter dem Zelt weit vorzuziehenden Höhlen die aus den Wüsten- und Steppenland- schaften ringsum eingewanderten Nomaden zur Seßhaftigkeit ge- führt haben, so daß die Höhlenwohnungen, die durch eingefügte Steine, durch Bearbeitung der Felswände wohnlicher zu machen nahe lag, den Übergang vom Zelt zum Steinbau vermittelten. Ist schon der häufige Wechsel fester Kalkbänke und weicher Schichten der Bildung von Höhlen günstig, so leitete derselbe auch an, künstUch unterirdische zistemenähnliche Vorratsräume, Silos, wie man sie am häufigsten nennt, zu schaffen, in denen sich Vorräte von Weizen, Gerste, Öl u. dgl. jahrelang trocken — öo aufbewahren ließen, die Öffnungen sorgsam versteckt und ver- schlossen, so daß nur der Besitzer sie kannte. Wie im Altertum, so bedient man sich noch heute solcher Silos. Wenn Kriegs- stürme durch das Land brausten, waren so nicht nur die Vor- räte vor dem Feinde sicher geborgen, nein, die Bewohner selbst und ihr Vieh fanden in den weitverzweigten Höhlen sichere Zu- fluchtsstätten, in die sie zu verfolgen sehr schwer war. Noch die Kreuzfahrer hatten mit den in solche Höhlen geflüchteten Be- wohnern schwere Kämpfe zu bestehen, namentlich wenn die Öff"- nungen derselben an den steilen Wänden der tiefen Erosions- schluchten lagen. Nur in Holzkästen, die an Ketten an den Felswänden herabgelassen wurden, konnten die Angreifer den Höhlenleuten beikommen. Immer ein beträchtlicher Teil der Landesbewohner konnte so in Kriegsstürmen unter der Erdober- fläche verschwinden und wieder hervortreten, wenn die Gefahr vorüber war. Es mag wenigstens die Vermutung ausgesprochen werden, daß dieser Zug der Landesnatur dazu beigetragen hat, um die vorisraelitische Urbevölkerung zu erhalten, die nach Cler- mont-Ganneau noch heute den Grundstock der Landbevölkerung von Palästina bildet. Eine andere Erklärung, die schon hier Platz finden möge, geht allerdings dahin, die Israeliten, die ja als Nomaden in das Land einzogen, hätten die Kanaaniter ge- schont, schon um die Bebauung des Landes nicht zu unter- brechen. In dem ganzen Bereiche der großen Wüstentafel hat die ganze Reihe der sedimentären Schichten die ursprüngliche Tafel- lagerung ganz oder nahezu. bewahrt, wie man in Palästina überall bei den Kreideschichten deutlich erkennen kann, wo dieselben in Schluchten und an Steilabstürzen, beispielsweise in ungeheurer Mächtigkeit (300 m) am Djebel Karantal westlich von Jericho, aufgeschlossen werden. Keine Faltung hat in dem ganzen un- geheuren Gebiete Gebirge geschaff'en wie etwa der Faltenjura der Schweiz. Die Schichten sind nur gehoben und Tafelland, die Form der Hochfläche, ist überall und so auch in Palästina die bodenplastische Grundform. Eine Gliederung der Tafel im großen ist nur bei in späterer Zeit eingetretenen Bewegungen auch dieser Teile der Erdkruste durch Bildung von Brüchen und auf solchen sich vollziehenden Verschiebungen der so ausgeson- derten Schollen in der Senkrechten erfolgt. Dadurch ist örtUch die ungeheure Einförmigkeit der Wüstentafel um so mehr ge- mildert, als infolge dieser Verschiebungen in der Senkrechten einzelne Schollen so bedeutende Höhe erlangten, daß sie in hohem Maße als Verdichter der atmosphärischen Wasserdämpfe wirkten, so daß diese Teile der großen Wüstentafel niederschlagsreicher wurden und an ihnen die zerstörenden Kräfte des Luftkreises, die nagenden Gewässer in ganz anderer Weise in Wirksamkeit treten konnten. Namentlich sind der großen Tafel sog. Graben- brüche eigen, wie an solche das Rote Meer und die ostafrika- nischen Seen gebunden sind, wo also auf Systemen hier vorzugs- weise in Meridianrichtung verlaufender Bruchspalten Teile der Erdkruste in langen Streifen in die Tiefe gesunken und langen Gräben ähnliche Hohlformen entstanden sind, die in jeder Hin- sicht unserer mittelrheinischen (fälschlich oberrheinisch genannten) Tiefebene verglichen werden können. Hier kommt nur der sog. syrische Graben in Betracht, durch dessen Bildung ein Teil der Kreidetafel zu einem Gebiet mit ausgeprägten Sonderzügen in- dividualisiert worden ist: Syrien. Von der Südspitze des Sinai, wo er in den erythräischen ein- mündet, setzt sich der syrische Graben durch den Golf von Akabah, bald durchaus in die Kreidetafel eingesenkt, bis an den Südfuß der ganz andere Oberflächenformen (Klein-Asiens) bedingenden taurischen Faltenlandes an der Nordgrenze Syriens fort. Somit ganz Syrien durchsetzend, als Hohlform einheitlich, wenn auch gewiß nicht in seiner ganzen Ausdehnung einheitlicher und gleich- zeitiger Entstehung, ist der syrische Graben hydrographisch drei- geteilt, weil die Streifen der Erdrinde nicht überall zu gleicher Tiefe absanken und namentlich an der dadurch mit bestimmten Nordgrenze von Palästina zwischen Libanon und Antilibanon einer derselben eingeklemmt eine bedeutende Höhe behielt. Dies ist der Merdsch Ajun, die Wiese der Quellen, eine 600 — 700 m hohe Hochfläche, welche die Wasserscheide zwischen dem Nähr Kasi- mijeh, dem Flusse INIittelsyriens imd dem Jordan bildet, nach Norden in den zwischen Libanon und Antilibanon eingeschalteten, aber schon mehr zu letzteren gehörigen Djebel ed Dahr über- geht. In Nordsyrien wird dieser Graben Ghab, in Mittelsyrien Bika, in Südsyrien Ghor und in dessen Fortsetzung bis zum Golfe von Akabah ErAraba genannt. Die Tierwelt des Ghor wenigstens weist noch auf von den heutigen völlig abweichende, Fischer, Mittelmeerbilder. 6 also aus der geologischen Vorzeit hier erhaltene Beziehungen hin. Von 14 Arten Fische im See von Galiläa sind die meisten mit solchen des Nils identisch, die übrigen afrikanischen Charakters. Schon im Altertume hatte man die Übereinstimmung der Fisch- fauna des Jordans mit der des Nils erkannt. Auch die Vogel- fauna des Ghor weist tropische Beziehungen auf, am auffälligsten in einem dem Kolibri ähnlichen Honigvogel. Der syrische Graben ist gewissermaßen die negative Achse, die bodenplastische Charakterform Syriens. Fast will es scheinen, als hätten sich die Landesbewohner selbst eine der Wahrheit nähernde Vorstellung von der Entstehung des Ghor gemacht, da die Gegend des Toten Meeres in älteren Zeiten und im Koran El Mutafika, der ,, Einsturz", genannt wird. Zu beiden Seiten des Grabens liegt nun die syrische Kreidetafel in durchaus un- gestörter oder nur wenig gestörter Lagerung der Schichten. Nur dadurch werden verschiedene Oberfiächenformen bedingt und größere Landesteile überhaupt individualisiert, daß an verschie- denen Punkten der nordsüdlichen Erstreckung die Verschiebungen der noch durch Querbrüche voneinander gesonderten Schollen- stücke in der Senkrechten von verschiedenem Betrage waren, vielleicht in verschiedenem Sinne erfolgten. Den höchsten Betrag erreichten diese Verschiebungen in Mittelsyrien, wo dadurch unter Hervortreten selbst der Jura- schichten und auch sonst besonders petrographisch etwas ab- weichende Züge ein ganzes Gebirgssystem (die mittelsyrischen Horste, wenn nicht ein in der Mitte eingebrochenes, an den Flan- ken verworfenes Gewölbe) entstanden ist, Libanon und Anti- libanon, und selbst die Sohle des Grabens (Cölesyrien, Bika) in eine Höhe von 1000 m gerückt ist. Mittelsyrien trägt daher vor- wiegend den Charakter eines Gebirgslandes, ja im Libanon gerade- zu einer völkererhaltenden Gebirgsfeste, deren mit staunenswerter Steilheit über der Küste aufsteigende Höhen die vom warmem Mittelmeere verdampften Wassermengen verdichten, sie in fester Form bis gegen Ende des Sommers festhalten und in zahlreichen daher das ganze Jahr fließenden Bächen und Flüssen in die darum herrlichen Anbaus fähige Umgebung hinab, zum Teil so- gar in Längsflüssen weit weg, durch ganz Syrien, bis nahe an seine Nord- wie an seine Südgrenze senden, eine Umgebung, die, soweit sie im Regenschatten der hohen Gebirgswälle liegt, ohne - 83 - diese Möglichkeit künstlicher Berieselung schon auf 50 km vom Mittelmeer Wüste ist. Ist doch die von den Wüstenbewoh- nern so viel gepriesene Berieselungsoase von Damaskus, ein ur- alter Brennpunkt menschlicher Gesittung mitten in der Wüste, von Berut jetzt mit der Eisenbahn in neun Stunden erreichbar, kaum 90 km in Luftlinie, so weit wie Heidelberg von Frankfurt, vom Mittelmeer entfernt. Der südlichste und höchste Gipfel des Antilibanon, der Hermon (275g m) an der Nordgrenze Palästinas, ist daher namentlich während seiner schon seit Salomons Zeiten bis in den Hochsommer dem Lande Schnee zur Kühlung der Getränke liefernden Schneebedeckung als Wolkenverdichter auch für dieses Land von größtem Werte. Er erscheint deshalb in der Bibel als dem Landmann und dem Hirten teuer (Tau vom Her- mon), dem Dichter und Propheten liefert er die schönsten Gleich- nisse und Symbole, an ihm liegen die Quellen des Jordan. Wie die syrische Grabenversenkung naturgemäß überall die Gewässer an sich zieht, so besitzt auch Mittelsyrien im Litani einen etwas größeren Fluß. Derselbe bricht auch, gleich dem nordsyrischen Orontes, durch die großen Höhenunterschiede in seiner Erosionskraft bestärkt, zum Meere durch, aber in einer tiefen, engen, als Verkehrsweg unbrauchbaren Schlucht, die in dem Kalkgebirge ursprünglich wohl streckenweise eine unter- irdische Rinne gewesen sein mag, wie eine noch stehengebliebene, vom Verkehr benutzte mächtige Naturbrücke bezeugt. Mittel- syrien ist daher von der Natur selbst nicht zum Durchgangslande des Verkehrs, weder von Ost nach West, noch, von der Ost- grenze abgesehen, von Nord nach Süd bestimmt. Aber an ein- zelnen dem Seeverkehr, im Altertum wenigstens, günstigen Küsten- punkten konnten sich inmitten einer reichen Umgebung große Mittelpunkte des Seeverkehrs, Tyrus, Sidon, Berut entwickeln, welche die natürlichen Hindernisse überwindend auch den Ver- kehr aus dem Innern, namentlich den Brennpunkten des Kara- wanenverkehrs, den Oasenstädten Damaskus und Palmyra an sich zogen. Mittelsyrien, ein Gebirgsland mit relativ guten Beziehungen zum Meere, ist daher als der am reichsten ausgestattete Teil Syriens, als ein Land der Gegensätze, am frühesten zu hoher Gesittung emporgestiegen und hat sich auch in der Geschichte als der noch am ehesten zu politischer Selbständigkeit und zur Herrschaft in Syrien berufene Teil erwiesen. Es hat sich zu 6* - 84 - einem der ältesten Sitze des Handels, zunächst des Seehandels, und zwar eher zu einem Ausgangs- als zu einem Durchgangs- punkte desselben entwickelt. Und an den Handel schloß sich eine auch ursprünglich bodenständige Gewerbetätigkeit an. Seine Bewohner ließen ihre Blicke, im grellsten Gegensatze zu denen Palästinas, über die ganze damals bekannte Erde schweifen, den Holländern der letzten drei Jahrhunderte in mancher Hinsicht vergleichbar. Dagegen ist Nordsyrien ein ausgezeichnetes Durchgangsland in westöstlicher wie in nordsüdlicher Richtung. Hier weist näm- lich der dem Ostflügel gegenüber wesentlich höhere Westflügel der syrischen Kreidetafel bei überhaupt geringerer Höhe des ganzen Landes zwei tiefe Querfurchen auf, durch welche man bequem aus dem Innern ans Mittelmeer gelangt: die schon im taurischen Faltensysteme gelegene, sich drüben in der kyprischen Messaria fortsetzende Mulde, durch welche der Fluß Nordsyriens, der El Asy, aus dem nordsyrischen Graben zum Mittelmeere ent- schlüpft, und die sogenannte Senke von Homs, ein mit jungen vulkanischen Ausbruchsmassen zum Teil ausgefüllter Querbruch, welcher den Libanon vom nordsyrischen Ansairiergebirge trennt und der bei weitem wichtigsten Straße dient, welche vom alt- phönikischen Tripolis und den phönikischen Küstenstädten über- haupt nach den Euphratländern führt. Dazu kommt, daß die Tiefe des nordsyrischen Grabens geringer, derselbe also leicht zu überschreiten ist, und daß die beiden Schenkel des größten Stromes von Vorderasien, des Euphrat, eines der an Wert für den Men- schen überhaupt am höchsten stehenden Ströme, hier auf das Mittelmeer zielen und sich diesem auf 150 km (Leipzig — Gotha) nähern, da von Nordsyrien aus und durch Nordsyrien, ja fast nur durch Nordsyrien auch die bequemsten Wege von Arabien, Mesopotamien, dem Persischen Meerbusen, Indien und Iran nach Kleinasien führen. Es gehen also durch Nordsyrien die wichtig- sten Landstraßen des Welthandels, bzw. es münden dieselben hier an das sie nach Westen als Seestraßen fortsetzende Mittel- meer, und zwar stets, wenn nicht geschichtliche und politische Verhältnisse hindernd dazwischentreten, in die phönikischen See- städte aus, da an der Mündung des Orontes nur Kunst und ein mächtiges Staatswesen einen Hafen (Seleukia) schaff"en und er- halten kann, die unsichere Reede von Iskanderun dadurch, daß - 85 - dort das Küstengebirge unschwer zu überschreiten ist, immer nur als Notbehelf eintreten kann. Heute und besonders seit Eröffnung des Suezkanals haben diese Welthandelsstraßen und die syrischen Seestädte an Bedeutung verloren, aber sie können jeden Augen- blick, wie schon die Besetzung des bis 1571 venetianischen Ky- perns durch die Engländer zeigt, bei Schließung des Kanals oder neben demselben Nordsyrien zu einem Angelpunkte der Welt- politik machen. Hier lagen daher in den verschiedensten Zeiten Groß- bzw. Welthandelsstädte: Palmyra, der Knotenpunkt aller Karawanenwege vom Euphrat her, die von hier zum svTischen Gestade ausstrahlten, Antiochien und seine kurzlebige künstliche Hafenstadt Seleukia, Aleppo, die Nachfolgerin von Palmna. Das ausgezeichnete Durchgangsland Nordsyrien lenkte also den Verkehr von Palästina ab, das Gebirgsland Mittelsyrien bildet auch einerseits eine Schranke des Verkehrs gegen Palästina hin und bewirkt, daß auch noch die Landstraßen sich sowohl als solche wie als Wasserstraßen an Palästina vorbei fortsetzen, da südlich von Tyrus der Libanon so steil zum Meer abstürzt, daß nur eine schwierige Gebirgsstraße, die Scala Tj-riorum, deren ur- alt geschichtliche Bedeutung von Felsinschriften bezeugt wird, längs des Meeres Phönikien mit Palästina verband und man dort am Ras-en-Nukra auch am besten die Grenze zwischen beiden ansetzt. Brandend ergossen sich immer und immer wieder die Völker- wogen Linerasiens, die den Weg nach Westen südlich vom Kaspischen Meere genommen hatten, vom Euphratknie her über Nord-, schon geschwächt wohl auch über Mittelsyrien, dessen reiche Seestädte freilich als lockende Ziele der Bewegung einen neuen Anstoß gaben. Nach Südsyrien dagegen gelangte, wie in seitwärts ge- legene stille Buchten, nur die schwache Dünung der allerheftig- sten Stürme, Etwas engere Beziehungen unterhielt derselbe aber andererseits zu Arabien, das aber der Ausgangspunkt nur eines geschichtlich wichtig gewordenen Völkerstromes gewesen ist, und zu dem ruhigen, Licht ausstrahlenden Kulturherde Ägypten. Südsyrien, Palästina, ist somit weder ein Durchgangsland von der Wüste und ihren Hinterländern zum Meere, noch auch eigentlich von Norden nach Süden, wenn auch ganz Syrien, dank den früher angedeuteten Krustenbewegungen zum Kulturlande geworden, auf den ersten Blick als eine von Kleinasien und — 86 — Mesopotamien nach Arabien und Ägypten zwischen Wüste und Meer geschlagene Brücke des Verkehrs erscheint und es bis zu einem gewissen Grade auch ist. Der syrische Graben erreicht im Ghor nicht nur seine größte absolute Tiefe, auf dem Grunde des Toten Meeres 8oo m unter dem Meeresspiegel, sondern auch seine größte relative Tiefe, 1200 m und mehr unter den an- grenzenden Hochflächen. Überdies ist dieser Graben von einem reißenden Flusse durchströmt und auf reichlich ein Drittel seiner Erstreckung mit langen schmalen Seen erfüllt, die sich zu allen Zeiten als noch größere Hemmnisse des Verkehrs erwiesen haben. Von Osten kommend steigt man steil wie von Brockenhöhe durch gewundene, enge, kaum gangbare Felsenschluchten in den Graben hinab, um nach Überschreitung des reißenden Jordan noch steiler ebensohoch auf das Westjordanland emporzusteigen. Die Ge- wässer des größten Teils von Palästina sammeln sich in dieser tiefen Kerbe der Erdrinde, um in dem bittersalzigen und schon dadurch geringwertigen Toten Meere zu verdunsten: der Fluß Südsyriens hat keinen Ausweg zum Meere, er öffnet das Land nicht — sei er auch nur in so geringem Maße schiffbar wie es der Orontes in der besten Zeit bis Antiochien war — in breitem Tale zur Wiege aller höheren Gesittung, zum Mittelmeere, oder zur Welthandelsstraße des Roten Meeres. Dies ist einer der wichtigsten unter den geographischen Grundzügen Palästinas, die dem Lande den Charakter der Verschlossenheit aufprägen. Wenn der Jordan in den Golf von Akabah mündete, würde Palästina sofort zu einem Durchgangslande wie Ägypten. Mündete er ins Mittelmeer, so besäße das Land von dort aus einen breiten, be- quemen Zugang, es stände dazu in den engsten Beziehungen zu dem mediterranen Kulturkreise, besonders Ägypten, es wäre nicht bloß ein Land des Ackerbaues, sondern auch ein Sitz des Han- dels. Von seiner beschaulichen Abgeschlossenheit wäre wenig übrig. Auch sonst ist Palästina, wie wir schon angedeutet haben, aber noch weiter ausführen werden, felsig und tief durchschluchtet, am meisten Judäa, ein an und für sich, aber namentUch für das Kamel, noch heute das wichtigste Beförderungsmittel dieser Län- der, schwer gangbares Land. Alle Flußtäler Palästinas sind ent- sprechend dem herrschenden Trockenklima mehr oder weniger kanonartig. Auch die größte vorhandene Ebene, die von Jesreel, _ 87 - mit der ihr genetisch entsprechenden einzigen flachen Einbuchtung der Küste, nach Akka oder Haifa benannt, beide an einen dem von Homs vergleichbaren Querbruch gebunden, hat für den Ver- kehr aus dem Innern ans Mittelmeer nur vorübergehende, in der allerneuesten Zeit und der Senke von Homs weit nachstehend eine gewisse, stets geringe Bedeutung zu erlangen vermocht, da auch hier noch, trotzdem die Schwelle von Serin (Jesreel) nur 123 m hoch hegt, der Jordan 400 m unter derselben fließt. Der Ver- kehr von Damaskus nach Arabien ging ungefähr auf der Grenze des Kulturlandes und der Wüste im Verlauf des römischen Limes, wie noch heute die Straße (Eisenbahn) der Mekkapilger, auf der Ostgrenze an Palästina vorüber, in einem mittleren Ab- stände von 50 km vom Ghor, da wo keine tief eingeschnittenen Flußtäler, die das Ostjordanland kennzeichnen, mehr zu über- schreiten' sind. Ja selbst ein großer Teil, zeitweilig wohl der größte Teil des Verkehrs von Damaskus nach Ägypten benutzte diesen Weg, von dem sich erst weit im Südosten von Palästina, da wo der° Graben in der 229 m über dem Meeresspiegel ge- legenen, die Gewässer des Ghor von denen des Golfs von Aka- bah scheidenden Schwelle leicht zu überschreiten war, eine West- straße durch die kein Hindernis bietende Wüste Et Tih nach Ägypten abzweigte. Hier entwickelte sich in spätrömischer Zeit, dem goldenen Zeitalter Syriens, Petra, das südliche Gegenstück von Palmyra, zu einem Sitze blühenden Handels. Aber selbst die geradesten Karawanenwege von Damaskus nach Ägypten, die überdies niemals, eben weil die phönikischen Seestädte den Ver- kehr an sich zogen und zur See mit Ägypten vermittelten, große Bedeutung zu erlangen vermocht haben, gingen des schwierigen Geländes wegen nicht durch das eigentliche Palästina, nicht über Jerusalem, das niemals als Sitz des Handels oder der Gewerbe- tätigkeit eine Rolle gespielt hat. Die Karawanen überschritten, von Damaskus her in gerader südwestlicher Linie das Ghor querend, den Jordan entweder unmittelbar südlich vom Hulesee auf der 'jakobsbrücke oder unterhalb des Tiberiassees und such- ten durch die Ebene Jesreel und über dem südöstlichsten nied- rigen Karmel so rasch wie möglich das Meer zu erreichen (Via M°aris), dem sie auf dem Küstenwege von Phönikien her entweder unmittelbar oder auf einem dem Fuße des Westjordanhochlandes näheren Wege über Ludd (Ramie) nach Gaza folgten. Die Küste von Palästina, eine in wundervoll regelmäßiger Kurve geschwungene Schwemmlandküste, ist, wie jedes auch nur wenig geographisch geschulte Auge schon daran erkennen wird, eine wahrhaft eiserne Küste, rein von Inseln, ohne jede Bucht, ohne Landmarken, ohne natürlichen Schutz. Eine Meeresströmung und die Luftströmungen der kühleren Jahreshälfte führen den Verkehr von Ägypten nach Phönikien, die Luftströmungen der günstigeren Jahreshälfte von Phönikien nach Ägypten an Palästina vorüber, und wohl mancher Pilger hat selbst im Zeitalter der Dampfschiffe die Unzugänglich- keit Palästinas zur See am eigenen Leibe erfahren, wenn der Kapitän ihn an Jaffa, wo er zu landen gedacht hatte, vorüber mit nach Berut oder Port Said entführte. So erscheint Palästina, durch kein Flußtal zum Meere ge- öffnet, zwischen unwirtlicher Wüste im Osten und im Süden, einem hafenlosen Meere im Westen, im Norden von hohen Ge- birgen überragt, als ein völlig abgeschlossenes Land. Und in sich besaß es auch keine Lockmittel, auch nur wie die phöni- kischen Seestädte, hinter deren Mauern der Handel Schätze auf- gehäuft hatte, die große Nachbarvölker hätten veranlassen können es gewaltsam aus seiner Vereinsamung herauszureißen. Es besaß keine Edelmetalle, keine kostbaren Gewürze, die zu allen Zeiten auch kleinen Ländern große Wichtigkeit verliehen haben, ja nicht einmal so fruchtbaren Boden wie Ägypten und Mesopotamien. Nach der Gliederung seiner Oberfläche als echtes Gebirgsland in eine ganze Anzahl kleiner Landschaften zerfallend, entbehrte es bei ansehnlichen Höhenunterschieden und bei einem gewissen Seenreichtum der Gegensätze, der Mannigfaltigkeit der Erzeugnisse und überhaupt der Bedingungen nicht, welche erforderUch waren, damit die Bewohner eine höhere Stufe der Gesittung erklimmen konnten, aber die Lockmittel für Eroberer fehlten. Klein und arm, war Palästina für die Syrer, Assyrer, Perser, Ägypter, Römer, Byzantiner ein entlegenes Grenzland, das ihren Kultur- einflüssen sich nicht völlig zu entziehen vermochte, über welches ihre Heere einem Sturmwinde gleich dahinbrausten, das sie brand- schatzten, zu Tributzahlungen zwangen, das sich aber völlig ein- zuverleiben nur den Römern hinreichend lohnend oder notwendig erschien. Bequemer war es, die Bewohner dieses entlegenen Grenzlandes in das eigene Land gewaltsam zu übersiedeln. Dies erklärt auch, daß die Nachrichten, welche wir in den Über- — 89 - lieferungen der umwohnenden hochgesitteten Völker des Alter- tums bis zu den Griechen finden, so überaus dürftige sind. Erst bei den Römern fließen sie etwas reichlicher (nach Josephus), am reichlichsten freilich auf den zahlreichen Denkmälern, beson- ders den Inschriften aus spätrömischer Zeit, die neben den schlichten wahrhaftigen Schilderungen der Bibel die besten Quellen zur Landeskunde von Palästina im Altertum sind. In dieser inselartigen Abgeschlossenheit, in dieser weltent- rückten Beschaulichkeit eines lediglich Ackerbau und Viehzucht treibenden Volkes, das sich in seiner Abgeschlossenheit und Selbstgenügsamkeit, wie vielfach abgeschlossene Völker als das auserwählte ansah, konnte sich ein Volk mit scharf ausgeprägten, nie mehr verwischten nationalen Zügen, mit eigenartigem Geistes- leben entwickeln, als dessen höchstes Erzeugnis wir die jüdische Religion, das aus derselben hervorgegangene Christentum und den von beiden in hohem Grade beeinflußten, ebenfalls, ja noch schärfer monotheistischen Islam ansehen können. Aber die Er- zeugnisse dieses Geisteslebens konnten sich in einem gegebenen Augenblicke von diesem Punkte der Erdoberfläche aus rasch nach allen Himmelsrichtungen hin verbreiten, nachdem eine Art Weltkultur, die griechisch-römische, seit Alexander dem Großen sich Bahn zu brechen und die Völker einander zu nähern be- gonnen hatte, somit auch Palästina von außen her und gewaltsam aus seiner Vereinsamung gerissen war, auch im Neugriechischen ein ausgezeichnetes Verständigungsmittel geschaff"en war, das das Hebräische und Aramäische in den Hintergrund drängte. Durch die Römer, zuerst und allein in einer mehr als 3000jährigen Geschichte, war Palästina, durch künstliche Häfen (Cäsarea), durch mühsam angelegte und sorgsam unterhaltene Straßen, durch An- legung von Militärkolonien, von einem Gürtel von Kastellen ge- schützt, dem bewundernswerten Organismus ihres Reiches, wenn auch erst nach Überwindung eines unerhört zähen Widerstandes, eingefügt worden. Durch die Römer, wenn auch erst in spät- römischer Zeit und mehr im Gewände griechischer Gesittung, ist Palästina zu höchster Blüte emporgestiegen, ganz und voll in die Bewegung der damaligen Zeit hineingezogen worden: eine für die Ausbreitung des Christentums und in den Folgewirkungen für das Land selbst bis auf den heutigen Tag hochbedeutsame Tatsache. Denn nun, um in Karl Ritters Sprache zu reden, als — go — die Zeit vollendet war, als Palästina die Aufgabe gelöst hatte, die ihm die göttliche Vorsehung von vornherein zugeteilt hatte, trat ein anderer zu dem der Abgeschlossenheit in wunderlicher Weise gegensätzlicher Charakterzug Palästinas in Wirksamkeit: seine Lage mitten zwischen und in größter Nähe der größten Welthandelsstraßen, welche die Mitternacht- und Abendseite der Alten Welt mit ihrer Mittag- und Morgenseite verbanden, die durch Nord Syrien und den Persischen Meerbusen einer-, durch Ägypten und das Rote Meer andererseits. Den Herren dieser Welthandels- straßen hielt Palästina keine Lockmittel entgegen, aber die Be- wohner von Palästina selbst waren imstande, ihre Erzeugnisse, stoifliche und geistige, in den Weltverkehr zu bringen. Diese Lage an der Südostecke des eine große Westoststraße bildenden Mittel- meeres, von welcher die Straßen durch das Rote Meer und von Nordsyrien durch den Persischen Meerbusen nach Indien, die Landstraßen durch Iran und Zentralasien nach China ausgingen, erwies sich zunächst der raschen Ausbreitung der Juden und des Judentums etwa seit und um Beginn unserer Zeitrechnung förder- lich: bis nach Abessinien, Südarabien und Indien, andererseits nach Ägypten, wo sich wohl vorzugsweise in der Welthandelsstadt Alexandria, wie überhaupt infolge der durch die Römer herbei- geführten Zersprengung des nationalen Staates und die Zerstreuung des Volkes über das römische Reich und geflissentliche Ver- treibung aus Palästina die Umwandlung des ursprünglich der Natur des Heimatlandes entsprechend Ackerbau und Viehzucht treibenden Volkes in ein Plandelsvolk vollzogen haben dürfte, nach Barka, wo sie ja anfangs des 2. Jahrhunderts n. Chr. nahe daran waren, ein neues Reich zu gründen, und weiter durch Nordafrika und Südeuropa. Die Vertreibung der Juden aus Pa- lästina durch die Römer, erst nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus, dann 65 Jahre später nach dem Aufstande des Bar Kochba (132 — 135 n. Chr.), nach welchem sogar den Juden der Zutritt nach Jerusalem untersagt wurde, ist im Grunde nur die letzte, gründlichste, teilweise gewaltsame Verpflanzung oder Massen- flucht der Bewohner, wie solche ja schon wiederholt stattgefunden hatten. Ebenso verhielt es sich mit der Ausbreitung des Christen- tums. Von Alexandrien aus verbreitete sich dasselbe längs der heute wieder wichtigsten, an den größten Bruchgürtel der Erde gebundenen Welthandelsstraße durch das Rote Meer nach Abes- — gi - sinien und Indien, andererseits durch das ganze Mittelmeergebiet nach Westen, von Nordsyrien auf den Landstraßen, auf welchen die Erzeugnisse des fernen unbekannten China dem Westen zu- geführt wurden, nach Osten hin, durch Vorderasien bis nach Zentral- und Ostasien, seit dem 7. Jahrhundert, wie noch heute die sogenannte Nestorianische Tafel von Hsi-ngan-fu und ihre syrischen Schriftzeichen im fernen China bezeugen. Wenn die rechtgläubigen Kosmographen des Mittelalters, allerdings wohl mehr aus religiösen Gründen, Jerusalem für den Mittelpunkt der Welt hielten und als solchen auf ihren Weltkarten darstellten, so war dies nicht aller geographischen Begründung bar. Zu einer mittleren nordsüdlichen Erstreckung von 260 km, also etwa die Entfernung Frankfurt a. M.— Göttingen, indem wir die Nordgrenze von Ras-en-Nukra nach Nordosten zum Hermon laufen lassen, etwa in der mittleren Breite von 33°i5'^^ die Südgrenze unter 3i*'N ansetzen, können wir die westöstliche Er- streckung zu 115 km annehmen. Dann mag Palästina an Größe (30000 qkm) bei der Unsicherheit der zu ziehenden Grenzen etwa einer der mittleren Provinzen Preußens (Pommern) ungefähr gleichkommen. In der Tat ist in Palästina alles klein und eng, die Entfernungen gering, trotz der schlechten Beförderungsmittel. Der Anlage nach Tafelland ist es heute doch vorwiegend als Berg- und Hügelland zu bezeichnen, das durch den tiefen Graben des Ghor in zwei allerdings an Größe und Bedeutung ungleiche Hälften zerlegt wird: das West- und das Ostjordanland. Die dem Westjordanland vorgelagerte Küstenebene hinzugerechnet besteht also Palästina aus vier einander parallelen, eng aufeinander angewiesenen und einander durch gewisse Sonderzüge wirkungs- voll ergänzenden Landstreifen. Die Form der Hochebene tritt nur noch hier und da und stets in geringer Ausdehnung, am meisten in dem niederschlagsärmeren Ostjordanlande hervor, in welchem selbst nach Hüll, welcher das Ostjordanland als ein flaches Gewölbe auffaßt, die wagerechte Lagerung der Schichten streng gewahrt ist. Denn seit, auch geologisch gesprochen, recht langen Zeiträumen (Ende der Eozänzeit?) arbeiten die zerstören- den Kräfte des Luftkreises an der Modellierung des Landes, die dann durch die Bildung des östlichen Mittelmeeres und der Grabenversenkung nur noch rascher fortschreiten mußte. Beide Ereignisse smd verhältnismäßig jugendlichen Alters, sie gehören — 92 — nach E. Sueß und nach Blankenhorn wohl erst dem Beginn der Quartärzeit an. In Staffeln sanken die zerstückten Schollen der Kreidekalktafel auf den Bruchspalten an der Westseite zu dem sich ostwärts erweiternden Mittelmeere hinab, so daß man noch heute vielfach von der Küste aus das Hochland in regelmäßigen Stufen ansteigen sieht. Ebenso gegen das Ghor hin. Auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho steigt man so über drei Stufen von der Höhe des Tafellandes, dessen Rand hier in dem Jeru- salem noch um 67 m überragenden Ölberge noch 812 m er- reicht, zu der 1189 m tiefer gelegenen Sohle des Grabens hinab. Schon Bethanien liegt in steilem Abstieg 400 m unter dem Öl- berge. Von da bewegt man sich über eine sanft nach Osten geneigte Fläche bis etwa mittewegs Jerusalem — Jericho. Dann steigt man wieder steil hinab auf eine breite, flachwellige Hoch- ebene, auf welcher sehr willkommen als Rastort der Chan el Ha- trura liegt. Von diesem aus erreicht man im dritten steilen Ab- stiege die wüste Sohle des Ghor und auf derselben das noch 250 m tiefer gelegene Jericho. Weiter nach Süden, auf dem Wege vom Hebron zum Toten Meere sind vier solcher Stufen zu überschreiten, schärfer ausgeprägt, steiler, noch wilder durch- schluchtet. Am steilsten ist der letzte, so den Rand des Gra- bens bildende Abstieg am sogenannten Djebel Karantal, dem Quarantania Berge, der nordwestlich über Jericho aufsteigt. Dieser ist von der zweiten Hochfläche aus bequem zu erreichen, bis auf acht Minuten kann man zu Pferde herankommen, während er von Jericho aus als 300 m hohe, fast senkrechte Wand tafellagemder Schichten erscheint, die von zahlreichen Höhlen durchbrochen sind, mit den Resten an- und eingebauter Kapellen, Einsiede- leien, u. dergl., welche, da heute die sie verbindenden Treppen und Gänge zerstört sind, meist unzugänglich an der Felswand hängen. Auf nur 21 km Entfernung in Luftlinie steigt man 1200 m hinab. Eine gewaltige vulkanische Tätigkeit entwickelte sich nament- lich in Nordpalästina auf den Bruchspalten des Ghor, die, wenn auch wohl kaum bis in die eigentlich geschichtliche, so doch gewiß bis in eine dieser naheliegenden Zeit angedauert hat, da die jüngsten Lavaströme des Dscholan nach Noetling alt-alluviale Geröllschichten des Jordantales bedecken und ähnlich denen der Eifel schon vorhandene Täler benutzten, aus denen sie aber seit- dem zum großen Teil schon wieder ausgewaschen sind. Auch — 93 — die häufigen, heftigen Erdbeben, die namentlich dem Ghor folgen und in dessen Umgebung oft ungeheure Verwüstungen (Zerstörung von Tiberias und Safed 1837, wo 5000 Menschen umkamen) anrichten, die zahlreichen heißen Quellen des Ghor, im Flußbette des linken Jordannebenflusses Jarmuk auf einer Strecke von 2'^!^ Stunden nicht weniger als zehn, sprechen dafür, daß die Bil- dung dieses Grabens nicht weit zurückreicht und noch immer Bewegungen dieser noch nicht wieder in sich verfestigten Schollen der Erdrinde auf den Bruchspalten stattfinden. Der Westflügel sank zu größerer Tiefe ab als der Ostflügel, es überragt daher das Ostjordanland noch heute nicht nur im Süden, sondern auch im Norden das Westjordanland beträchtlich. Eine sehr wichtige Tatsache. Sowohl im West- wie im Ostjordanlande scheint sich nämlich die Kreidetafel auf Querverwerfungen (Ebene Jesreel, daher hier im Norden großartige vulkanische Tätigkeit) gegen die Südgrenze der mittelsyrischen Horste hinzuneigen, in der Weise, daß dieselbe im Südosten die größte Höhe hat und dort auch die älteren, die Kreideschichten unterteufenden Gesteine zutage treten. Während es aber im Süden zu beiden Seiten des Ghor nur zu ganz geringfügigen Durchbrüchen jungeruptiver Gesteine gekommen ist, bedecken solche im Norden die Kreideschichten in großer Ausdehnung, aber vorwiegend und in bei weitem größerer Mächtigkeit im Ostjordanlande, so daß dieses auch im Norden das Westjordanland weit überragt. Diese vulkanische Tätigkeit hat also auch ihrerseits wenigstens in Galiläa und in der Nordhälfte des Ostjordanlandes die Oberflächenformen beein- flußt, teils, wo es sich um Deckenergüsse handelt, wie zunächst östlich vom Tiberiassee in der Landschaft Dscholan, im Sinne der Erhaltung des Tafellandcharakters, teils, wie in Galiläa und im Hauran, durch Bildung von Kuppen und Kuppengebirgen. Die dem Meere zugekehrte Seite des Westjordanlandes ist naturgemäß die niederschlagsreichere. Hier mußte die allgemeine Abtragung rascher vor sich gehen, hier waren Flüsse und Bäche wegen der größeren Breite der Abdachung, trotz des reichlicheren Regens weniger erosionskräftig, sie haben ihre Täler weiter aus- gearbeitet und der Abfall des Hochlandes ist daher hier, auch unter dem Einflüsse der Staff'elbrüche, ein weit sanfterer als gegen das Ghor hin. Aber noch immer steigt dem sich Palästina nähernden Seefahrer, dem ursprünglichen Tafelland entsprechend, — 94 — das Hochland als wagerecht verlaufende blaue Profillinie am Horizonte empor. Schwierig, leicht zu verteidigen sind auch die Aufstiege von der Küste her, wenn auch nicht so schwierig wie durch die grausigen Schluchten, in welche der Steilabsturz gegen das Ghor hin zerrissen ist, da die Gewässer einen Höhenunter- schied von looo — 1200 m auf eine Entfernung von meist nur 15 km zu überwinden haben, während es sich an der westlichen Abdachung nur um Höhenunterschiede von 600 — 800 m auf 30 — 50 km handelt. Die Felswüste Juda westlich vom Toten Meere ist geradezu durch die tiefen Schluchten der zum Toten Meere eilenden Bäche und Flüsse gebildet, und ebenso liegen die Bäche und Flüsse des Ostjordanlandes gegen das Ghor hin in immer engeren und tieferen Schluchten. Für die Tiefenerosion der Gewässer war auch das allgemeine Trockenklima von Be- deutung, das an der Ghorseite schon mehr hervortritt wie an der Mittelmeerseite. Die Wasserscheide lag im Westjordanlande wohl ursprünglich gleich weit (etwa 15 km) vom West- wie vom Ost- rande, sie ist aber dadurch, daß die Täler an der Westseite rascher rückwärts verlängert wurden, mehr gegen das Ghor hin verschoben worden, also an dieser Seite kurze, tiefe, steile Täler, an der Westseite längere und flachere. Die Wasserscheide wird also noch der am wenigsten zergliederte Teil des ursprünglichen Tafellandes sein, die Linie, auf welcher der meridionale Verkehr des Westjordanlandes daher am wenigsten Schwierigkeiten zu über- winden hatte. An ihr werden also auch, wie noch näher aus- zuführen sein wird, die wichtigsten Siedelungen liegen. Anderer- seits an der Westseite am Ausgange der Täler in die Küsten- ebene. Die Zerschnittenheit ' des Geländes durch die fortge- schrittene Erosion und Denudation hat zahlreiche natürlich feste Lagen auf Höhen geschaffen, welche die Bevölkerung anzogen, so daß die meisten Siedelungen Palästinas malerisch auf und an Höhen liegen. Die Täler sind überall als Erosionsfurchen im Tafellande gekennzeichnet auch dadurch, daß sie kaum merkbar auf der Hochfläche oder in flachen Mulden beginnen und gegen den überall scharf ausgeprägten und auch vom Volke so bezeichneten Ausgang hin zu immer engeren und tieferen Schluchten werden. Allerdings spricht vieles für die besonders von Hüll vertretene Ansicht, daß die Bildung dieser Täler im wesentlichen in die — 95 — Glazialzeit fällt. Die recht kennzeichnend nicht etwa von einem hohen Kamme gebildete, sondern häufig in flachen Einsenkungen kaum erkennbare Wasserscheide ist jetzt etwa doppelt so weit vom INIittelmeere, 30 — 50 km, wie vom Jordan, 15 — 20 km, ins Innere zurückgeschoben und bildet eine nur mäßig gewundene Linie. Die Küstenebene. Es sind also ungeheuere Massen von Feststoffen, namentlich fast die ganze vorhanden gewesene Tertiärdecke, vom Hochlande abgetragen und vorzugsweise an dessen Westfuße, teilweise aber auch in den kleinen Becken und im Ghor abgelagert worden. In diesem ist namentlich zur Ablagerung gekommen, was bei Bil- dung der zahlreichen Schluchten und Täler, die ins Ghor ein- münden, vom rinnenden Wasser entführt worden ist. Die Sohle des Grabens muß also sehr viel tiefer gelegen haben wie heute, selbst wie die größte Tiefe des Toten Meeres. Am Fuße des Westjordanlandes kamen auch große Mengen von Sinkstoffen hinzu, welche die Küstenströmung, die auch die Mündungen der meisten Flüsse nach Norden abgedrängt hat, vom Nil her mit sich führte und da, wo sie senkrecht auf die Küste stieß, ähnlich wie in den Landes der Gascogne, zur Ablagerung brachte. Wesentlich war dabei, daß die kalkhaltigen Gewässer des Hoch- landes ein Bindemittel herbeiführten, so daß die losen Ablage- rungen vielfach rasch zu festem Gestein, einem an Muscheln, besonders Pectunculus glycineris und dessen Trümmern reichen Kalksandstein verkittet worden sind: eine Erscheinung, welche sehr häufig ähnliche Bildungen an den Küsten der in großer Ausdehnung aus Kalkfels aufgebauten Mittelmeerländer kenn- zeichnet. Doch muß wohl eine auch von den Geologen Lartet und HuU angenommene Hebung des Landes damit Hand in Hand gegangen sein, da die Aufschlüsse, welche für den Bau der 1892 eröffneten Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem nötig wur- den, 2 — 4 km östlich von Ramie, also etwa 17 km vom heutigen Meeresufer, unter einer wenig mächtigen Humusdecke i — 4 m mächtige Lager von Flußkies, die Schuttkegel der vom Hochlande herabkommenden diluvialen Flüsse, und unter diesen altquartären gelben Meeressand ergaben. So ist dem Hochlande des West- jordanlandes als ein neues, die Mannigfaltigkeit der geographi- - 96 - sehen Bedingungen vermehrendes Glied die Küstenebene vor- gelagert worden, die im Mittel etwa 20 km breit wie zu erwarten sich von Norden nach Süden verbreitert und wenigstens im Süden, wo (von Hüll als eozän bezeichnete) rötliche Kalksandsteine in vereinzelten bis 100 m und mehr hohen Hügeln, die hier und da wohl auch fest gewordene Dünen sein dürften, unter den jüngeren Auflagerungen als Zwischengürtel, dem Hochlande vor- gelagert, zutage treten. Die Küstenebene macht daher dort, zu- mal auch die vom Hochlande kommenden Gießbäche das Land in flache Täler gegliedert haben, durchaus nicht den Eindruck einer einförmigen Schwemmlandebene. Überall aber besitzt sie große, geradezu sprichwörtlich gewordene natürliche Fruchtbarkeit, namentlich in dem Saron genannten Teile nördlich von Jaffa, da das Hochland ihrem auf weite Strecken tiefgründigen dunkeln Humusboden seine am Rande des Hochlandes noch einmal von starken Quellen genährten und daher hier ausdauernden Ge- wässer zusendet, die somit zu Berieselungszwecken dienen können, neben denen aber auch das in geringer Tiefe erreichbare Grund- wasser durch Brunnen emporgehoben in Fülle zur Verfügung steht und beispielsweise die Schaffung der üppigen Apfelsinenhaine von Jaffa ermöglicht hat. Gegen das Meer hin wird die Küstenebene durch einen häufig recht breiten und bis 40 m Höhe erreichenden Dünen- gürtel völlig abgeschlossen, hinter welchem sich hier und da Binnengewässer stauen und Sümpfe bilden. Ja selbst kleine* Seen kommen vor. An der Außenseite der Düne treten hier und da, wie bei Jaffa, Cäsarea, 'Atlit, zu festem Gestein verkittete Ab- lagerungen auf, die die Lage' dieser Küstenplätze bestimmten und die Schaffung künstlicher Hafenanlagen ermöglichten. An anderen Stellen, wie bei Askalon, überschütten die nicht verfestigten Dünen, landeinwärts wandernd, das fruchtbare Land mehr und mehr. Die Küstenebene macht etwa 1 1 ^/^ der Bodenfläche von Palästina aus. Ihre größte Ausdehnung und Selbständigkeit er- langt sie im Südwesten. Doch hat sie in der Geschichte des Landes als Wohnsitz der Philister (d. h. der Eingewanderten) eine bedeutungsvolle Rolle gespielt, denn erst nach einhalbtausend- jährigem wechselvollem Kampfe wurden diese von den das Hoch- land bewohnenden Israeliten unterworfen. Der Name Palästina (bei Arabern und Türken Filistin) haftete ursprünglich nur an — 97 — diesem südlichen Teile der Küstenebene, wie auch der Name Kanaan ursprünglich nur der Küstenebene gegolten zu haben scheint. Auch darin prägt sich eine gewisse Selbständigkeit der- selben aus, daß die zu allen Zeiten ganz festländischen, meer- scheuen Israeliten sich erst spät zu Herrn derselben zu machen vermochten. Erst im 2. Jahrhundert v. Chr. wird Jaffa, bis dahin als Stützpunkt ihres Handels nach Ägypten und des palästinen- sischen Außenhandels, den sie bis in römische Zeit völlig be- herrschten, in den Händen der Phöniker, völlig jüdisch. Es scheint, daß die Phöniker ähnlich an der Küste von Palästina saßen und allen Seeverkehr der durchaus binnenländischen Is- raeUten beherrschten, wie noch heute die Griechen den der Bul- garen und Türken. Ursprünglich reich gebuchtet und keineswegs dem Seeverkehr ungünstig gestaltet, ist durch Ausgleichung aller Buchten und Vorsprünge durch Küstenströmung, Küstenversetzung und landbildende Tätigkeit der Flüsse die heutige eiserne Küste entstanden. Nur von außen her konnte an dieser Küste Seever- kehr heimisch gemacht werden. Jaffa war dafür noch der günstigste Punkt, da hier vor einer felsigen, natürlich festen An- höhe (phönik. Jope) eine Reihe flacher Klippen kleinen Schiffen Schutz gewährte. Freilich ist die nur 8 m breite Einfahrt in die von den Klippen gebildete Reede schwierig und gefahrlich. Cä- sarea, weiter nach Norden, in römischer Zeit die bedeutendste Stadt Palästinas, 'Atlit und 'Akka, Hauptsitze des Verkehrs in den Kreuzzügen ähnlich an felsige Höhen geknüpft, entbehrten selbst dieses Schutzes und vermochten daher nur in günstigen Zeiten ihre Kunsthäfen und damit ihre Bedeutung zu erhalten. Gaza, die größte Stadt der Küstenebene, obwohl ganz nahe am Meere gelegen, ist doch ohne alle Beziehungen zu demselben. Westjordanland. So von der Küstenebene sanfter, vom Ghor steil aufsteigend erscheint das Westjordanland als ein von Norden nach Süden an Breite und Höhe zunehmendes Hochland. Bei einer mittleren Breite von 50 — 60 km und einer Höhe von 600 — 800 m erheben sich auch die höchsten, 1000 m nur wenig übersteigenden Punkte durchaus in sanften Wellenlinien. Die sich rasch mindernde Höhe, dadurch bedingt auch die Verringerung der Niederschläge, der Pflanzendecke und der Anbaufähigkeit setzen dem West- Fischer, Mittelmeerbilder. 7 - 98 - jordanlande und damit ganz Palästina ungefähr unter den 3 1 . Pa- rallel, seine Südgrenze auf der Grenze von Kulturland und Wüste (Et Tih), während seine Nordgrenze jenseits des ;^^. Parallels durch den rasch zu großer Höhe aufsteigenden Libanon und die als Grenzgraben davor gelegene tiefe Erosionsschlucht des Nähr Kasimije, des Flusses von Mittelsyrien gebildet wird. Trotz der geringen absoluten Höhen macht das waldarme, ja meist geradezu kahl erscheinende Land einen reich geglieder- ten Eindruck, häufig, namentlich gegen das Ghor hin ein schwer zu entwirrendes Chaos von Berg und Tal, dessen Grundform nur die in den Tälern aufgeschlossenen wagrecht liegenden Schichten zu erfassen erlauben. Wenn auch dem Kalkfels und dem Klima entsprechend arm an dauernd rinnenden Gewässern; ja überhaupt an Wasser, erscheint es doch überall auch wegen der großen Höhenunterschiede , die den meist plötzlich hereinbrechenden Wassermassen noch heute große Erosionskraft verleihen, tief durch- schluchtet und, wie die meisten Kalkgebiete der Mittelmeerländer, arm an Humus. Es herrscht also in großen Landesteilea die nackte Felslandschaft vor, nur von oasenartigem Anbau unter- brochen, ja der südöstliche Teil von Judäa, die hier ziemlich breite, im Regenschatten gelegene Abdachung zum Toten Meere hin, östlich der Linie Jerusalem— Hebron wird geradezu zur Fels- wüste, der Wüste Juda, die, auch wegen der Armut an Quellen und schwer zu findenden Wasserlöchern, auch im Altertume ohne seßhafte Bewohner, im Sommer ein Glühofen, mit ihren tiefen, unzugänglichen Schluchten und Höhlen die Zufluchtsstätte von Verfolgten und Räubern, wie noch heute die hier ihre Herden weidenden Beduinen als Raubgesindel gefürchtet sind. In früh- christlicher Zeit war diese Wüste Juda ein wahres Paradies für selbstquälerische Einsiedler. Das Kloster Mar Saba, ein fast un- zugängliches Felsennest, ist die einzige noch erhaltene dieser einst zahlreichen Siedeleien. Wie schon erwähnt, entspricht der vorherrschende Steinbau und Bogenwölbung der Fülle der vorhandenen leicht zu be- arbeitenden Bausteine und Kalkmörtel, nächstdem dem Mangel an Bauholz. Die Häuser sind klein, würfelförmig, mit flachem oder Kuppeldach. Im Haurau, wo ein jungeruptives plattiges Gestein zur Verfügung steht, baut man sogar völlig unter Ausschluß von Holz. Selbst die Türen sind aus Stein. Nur wo die tonigen Verwitte- — 99 — rungsrückstände des Kalkfels oder andere geeignete Bodenarten vorhanden sind (in den Ebenen) wird der Steinbau vielfach durch den noch bequemeren Luftziegelbau ersetzt. Freilich sind letztere Bauten trotz der Beimischung von Stroh wenig haltbar, die Wände selbst nicht einbruchsicher, die Dächer im Winter so undicht, wie jeder Reisende unliebsam feststellen kann, daß sie unab- lässiger Überwachung bedürfen und schon in der Bibel sprich- wörtlich gebraucht wurden. Viele der zahllosen sogenannten Teil sind nichts als Trümmerhügel solcher Luftziegelsiedelungen. Die Dürftigkeit der Humusdecke ist, wie wir sahen, eine zunächst petrographisch bedingte Erscheinung, der aber auch die khmatischen Verhältnisse entsprechen: halbjährige Regenlosigkeit, während deren die aufgerissene, von Menschen und Tieren noch weiter gelockerte Humusdecke vom Winde verwehrt wird, wech- selt mit darauf folgender Regenzeit, deren heftige Güsse den losen Boden wegspülen. Gewiß ist aber die heutige Humus- armut etwas im Laufe von Jahrtausenden durch diese Vorgänge, durch Waldverwüstung, Rückgang des Anbaus, Verfall der Ter- rassen, durch die man seit uralten Zeiten mit der ersten Verdichtung der Bevölkerung die fruchtbare Erde zurückzuhalten gelernt hatte, erst Gewordenes. Indessen, ein Land, wo Milch und Honig fließt, konnte schon im Altertume Palästina nur in den Augen von Wüstenbewohnern sein, genau so wie man sich bei den Schilde- rungen der Oase von Damaskus als irdisches Paradies seitens der arabischen Dichter gegenwärtig halten muß, daß sie von Wüstenbewohnern ausgehen. Nachdem einmal geschichtliche Vor- gänge, der Sieg der Wüstenbewohner über die verweichlichten Kulturlandbewohner einen jähen Rückgang des im Laufe einer langen Reihe friedlicher, glücklicher Jahrhunderte von vielen Ge- schlechtem stetig und sorgsam gesteigerten Anbaues und der Bewohnerzahl herbeigeführt hatten, mußten sich in wesentlich kürzerer Zeit den heutigen ähnliche Verhältnisse ausbilden, wo Ackerbau und Weidewirtschaft einander ungefähr die Wage halten, jener auf die Täler, die sanften Hänge und die Ebenen, dieser auf die humusarmen Felslandschaften begründet. Fruchtbare Ebenen und Becken sind aber auf dem Hochlande nur in ge- ringer Zahl und Ausdehnung vorhanden. In Judäa fehlen sie so gut wie ganz; mehrfach, im Winter sich zum Teil in flache Seen verwandelnd, treten sie in Samaria, namentlich aber in Galiläa — lOO — auf, das durch vulkanische Tätigkeit wechselvoller gestaltet ist und fruchtbareren Boden besitzt, wegen der nördlicheren Lage, beträchtlicher Höhen an der Nordgrenze — der Djebel Dschermak ist mit I200 m der höchste Punkt des Westjordanlandes — und der Nähe des Libanon auch niederschlags- und quellenreicher. So ist Galiläa durch diese und andere Sonderzüge — Ebene Jesreel, See von Tiberias — , wie auch in der Geschichte hervor- tritt, eine zu Judäa in noch höherem Maße, wie das auch schon reicher ausgestattete Mittelland Samaria eine vielfach gegensätz- liche Landschaft, freilich nur von etwa 4000 qkm Flächeninhalt. Ihre Südgrenze bildet das steil über der großen, durch vulkanische Zersetzungsstoffe und Wasserreichtum fruchtbaren Ebene Jesreel aufsteigende Bruchgebirge des Karmel. Diese größte, in einem Engtale vom Kison nach Westen entwässerte Ebene des West- jordanlandes hat darum und wegen der verhältnismäßig leichten Beziehungen zum Ghor und zum Ostjordanlande als Durchgangs- land des Verkehrs die Rolle des großen Schlachtfeldes von Pa- lästina gespielt, auf welchem von Barak und Debora an bis auf Bonaparte (1799) so und so oft die Würfel über die Geschicke des Landes geworfen worden sind. Ihrer leichten Zugänglichkeit von Osten her verdankte sie es aber auch, daß sie so oft von den Beduinen geplündert wurde und daher bis vor kurzem ent- völkert war. Über ihr erhebt sich in Galiläa der auch geschicht- lich so wichtige, wenn auch nur 562 m hohe vulkanische Kegel des Tabor. Aus der reichlichen Durchschluchtung des Landes ergibt sich eine ganze Reihe wichtiger geographischer Tatsachen. Zu- nächst seine geringe Wegsamkeit. Bis vor kurzem gab es nur eine einzige durch Europäer gebaute Straße, die von Jaffa nach Jerusalem, auf welcher deutsche Unternehmer und Kutscher den Verkehr vermittelten. Sie ist nach Jericho verlängert und 1892 durch eine Eisenbahn ersetzt worden, zu welcher neuerdings, namentlich in Verbindung mit der Reise des deutschen Kaisers, Fahrstraßen von Haifa und Akka nach Nazareth und Tiberias und die im Bau begriffene und bereits bis zum Ghor vollendete Eisenbahnlinie von Haifa nach Damaskus hinzugekommen ist. Damaskus ist auch der Anfangspunkt von zwei das Ostjordan- land erschließenden Eisenbahnen geworden, einer älteren nach dem Haurau, die jetzt mit der von Haifa ausgehenden ver- lOI — bunden wird, und einer jetzt von der türkischen Regierung nach Arabien in Angriff genommenen und bereits bis in die Breite des Nordendes des Toten Meeres in Betrieb befindlichen. Aber bis vor kurzem war Wagenverkehr in Palästina seit römischer Zeit unbekannt. Man mußte zu Fuß gehen oder zu Esel, zu Maul- tier oder zu Pferd reisen. Aber selbst die Reitwege sind hals- brechend in dem gebirgigen, felsigen Lande. Nur in römischer Zeit war Palästina mit einem Netz von Straßen überzogen, die aber nur bei sorgsamer Pflege erhalten werden konnten und von denen man heute nur noch Spuren erkennt. Der uns schon aus der Zeit um 1400 v. Chr. auf einem ägyptischen Papyrus recht drastisch geschilderte Versuch eines hohen Beamten des Pharao, das Hochland von Palästina, wie er es in Ägypten gewohnt war, im Wagen zu bereisen, würde auch heute noch mit der baldigen Zertrümmerung des Wagens ein klägliches Ende finden. Selbst die Verwendung von Streitwagen war im Altertum nur örtlich möglich. Doch mag es später teilweise besser geworden sein, da Wagen in der Bibel erwähnt werden. Eine zweite Folgewirkung der Durchschluchtung des felsigen Landes war die Schaffung zahlreicher, natürlich fester, luftiger, gesunder Lagen, die durch Anlage von Zisternen dauernd be- wohnbar wurden und an welche fast alle älteren, geschichtlich wichtigen Siedelungen geknüpft sind. Eine dritte das Vorhanden- sein einer natürlichen, die verhältnismäßig geringsten Gelände- schwierigkeiten bietenden Verkehrslinie in nordsüdlicher Richtung auf der Wasserscheide, eine Verkehrslinie allerdings nur für den inneren Verkehr, obwohl das als Damaskustor bezeichnete Nord- und Haupttor von Jerusalem auf weitere Beziehungen hinzuweisen scheint. Daraus ergibt sich als vierte Folgeerscheinung, daß die wichtigsten Siedelungen des Westjordanlandes, ja, von den Küsten- städten Gaza, das tatsächlich eine nur Landhandel treibende Ackerstadt, der Schlüssel Palästinas von Ägypten her war, Jaffa und 'Akka, die aber alle in der eigentlich jüdischen Zeit nicht in jüdischem Besitze waren, abgesehen, überhaupt alle wichtigeren Orte Palästinas recht im Gegensatze zu Mittelsyrien als Binnen- orte in einer dem Ghor nahen nordsüdlichen Linie zu allen Zeiten lagen und noch liegen. Um nur die größten zu nennen: Safed, Nazareth, Dschenin, Nabulus, Jerusalem, Bethlehem, Hebron. Nabulus liegt so augenfällig auf der Wasserscheide, daß der Ort — 102 davon seinen älteren Namen Sichern == Schulter erhalten hatte. Allen aber ist bedeutende Meereshöhe eigen. Hebron liegt sogar 927 m über dem Meere. Einzelne größere Siedelungen des Ost- jordanlandes (El Kerak 1026 m), namentlich aber im Hauran (El Kanawat 1244 m) liegen noch höher. Die kleineren steileren Höhen dieser Nordsüdlinie, namentlich die gegen das Ghor vor- springenden, sind ausnahmslos mit den Trümmern von Burgen aus den verschiedenen Zeiten, besonders aus den Kreuzzügen, gekrönt. Diese Linie ist somit in jeder Hinsicht die geschichts- reichste des geschichtsreichen Landes. In besseren Zeiten war allerdings auch die Reihe der Küstenstädte eine vollständigere. Und ihr entsprach eine dritte künstlich geschaffene und nur in der friedlichsten Zeit vorhandene Reihe von Siedelungen in den Berieselungsoasen an der Westseite des Ghor, eine vierte im Ost- jordanlande. Eine besonders zähe Lebenskraft besaßen aber nur die Siedelungen der Wasserscheidereihe. Die Lage an diesem von den Römern ehemals auch als Heerstraße ausgebauten Ver- kehrswege, auf und an felsigen Höhen, welche die weißen Stein- würfel der Häuser zu erklimmen scheinen, eine fruchtbare Um- gebung, das sind die entscheidenden Umstände für die Entwick- lung dieser Siedelungen. Als besonders günstig kommt noch die Kreuzung des Meridionalweges durch einen Querweg hinzu. Jerusalem. Daß Jerusalem seit den ältesten Zeiten die bei weitem wichtigste Stadt Palästinas geworden und geblieben ist, erklärt sich aus der natürlichen Festigkeit seiner Lage und dem Umstände, daß hier die nordsüdliche Verkehrslinie von der bequemsten ostwestlichen ge- kreuzt wird, die, Jerusalem in die engsten Beziehungen zum Ghor und zum Ostjordanlande setzend, das Ghor und den Jordan unmittel- bar am Nordende des großen Verkehrshindernisses des Toten Meeres überschreitet. Die Oase von Jericho und das Engtal des unteren Wadi Kelt bestimmen ihren Aufstieg aufs Hochland. So muß auch aller Verkehr nach dem Ostjordanlande von der Küste her, von Gaza bis Cäsarea, in Jerusalem zusammenlaufen. Jeru- salem ist eine Bergstadt in gebirgigem Lande, Felsige Kalk- gebirge ringsum, wie ein Blick vom Ölberge über die Stadt und das Gewirr kahler Berge und Schluchten, besonders nach Osten bis zum 1200 m tiefer gelegenen Toten Meere zeigt. Die Wein- — I03 — Pflanzungen und Olivengärten, die dem Felsboden abgerungen sind, sind von Trockenmauern aus den zusammengelesenen Ge- steinsbrocken umgeben. Felsengräbern begegnet man allenthalben, ebenso steinreichen Friedhöfen. Jerusalem ist ursprünglich Festung und hat als solche in allen Zeiten, immer und immer wieder in wahrhaft bewunderns- werter Weise hergestellt und verstärkt, eine Rolle gespielt. Noch heute ist es von gewaltigen 12 m hohen Mauern und von 34 Tür- men umgeben, die Sultan Soliman 1542 hat errichten lassen. Sie sind natürlich heute um so wertloser, als die Stadt, die allent- halben über die Mauern hinausgewachsen ist, von dem um 67 m höheren Ölberge und anderen Höhen beherrscht wird. Die zahl- losen Belagerungen, bei denen die Umgebung verwüstet wurde, haben gewiß sehr viel dazu beigetragen, daß diese selbst für Judäa recht öde erscheint und namentlich bis vor kurzem er- schien und so der Pilger, der nicht etwa auch die nördlichen Landschaften kennen lernt, einen doch gar zu ungünstigen Eindruck vom Heiligen Lande erhält. Die Lage von Jerusalem ähnelt in gewissem Grade derjenigen unseres mittelalterlichen Schmuckkästchens Rothenburg ob der Tauber. Es liegt an der Nordwestecke 789 m, im Tempelberge 744 m über dem Mittel- meere, in mehr als Brockenhöhe über dem nur 2 1 km entfernten Ghor, auf einer an drei Seiten durch steile und noch heute tiefe Bachtäler (Kidron- und Hinnomtal) aus der wasserscheidenden Hochfläche herausgeschnittenen, hügeligen Halbinsel, deren ur- sprüngliche Formen allerdings durch Unterbauten, Einebnungen und Abtragungen der Felsen, künstliche Bearbeitung der Fels- wände zu senkrechten Abstürzen u. dgl. , vor allem aber durch die ungeheure Schuttanhäufung der Zerstörungen vielfach verwischt sind. Mehrfach erreicht diese überall erkennbare Schuttschicht eine IMächtigkeit von mehr als 10 m, ja die Täler, besonders das Tyropöon, das den Osthügel, Moria-Zion, auf dem David eine Burg hatte, wo der Tempel lag, von dem Westhügel trennte, sind durch dieselbe um 25 m aufgehöht. Die heutige Via dolorosa liegt 12 — 15 m über der alten Straße. Bei Ausgrabungen und Funda- mentierungen entdeckt man eine geschichtliche Periode mit ihren Trümmern unter der anderen, oft Säulentrümmer und Werkstücke von gewaltigen Ausmessungen: grelle Gegensätze zu der dürftigen Gegenwart! Die Stadt macht vielfach einen verfallenen Eindruck. — I04 — Kuppelgewölbe herrschen vor, doch sind auch Ziegeldächer häufig. Von den künstlichen, neben den fast unter jedem Hause angebrachten Zisternen so wichtigen großen offenen Wasser- behältern ist der am höchsten gelegene Mamilateich vor dem Jaffatore meist noch mit Wasser gefüllt, aber der Birket Israin in der Stadt, in dem man früher den Teich Bethesda sah, ist derartig mit Schlamm und Unrat gefüllt, daß er im Sommer mehr einem stinkenden Pfuhle gleicht. Auch der sogenannte Patriarchenteich, der von ersterem gespeist wird, liegt im Sommer meist trocken. Gegen den östlichen Steilabsturz zum Ghor vorgeschoben liegt Jerusalem heute nahe der Grenze des der festen Siede- lungen entbehrenden Gebietes. Nur nach Norden und Nord- westen bedurfte die Stadt stärkerer Befestigungen durch starke und hohe Mauern und Türme und in den Felsen gehauene Gräben, gegen die aber stets als dennoch schwächsten Punkt die Belagerer ihre Angriffe zu richten pflegten. Die ehemals starke Zitadelle am wichtigsten Jaffatore, aus dem zugleich der Verkehr nach Süden geht, umfaßt wohl noch zwei von den Türmen, welche den Palast des Herodes umgaben. Der Davidsturm dürfte der Turm Phasael sein, den Josephus beschreibt. Er läßt noch seine für jene Zeit erstaunliche Festigkeit erkennen. Die Zitadelle liegt da, wo das Hinnomtal sich nach Westen wendet und verflacht, der natürliche Schutz, den es gewährt, also auf- hört, zugleich aber auch ein Tor für den Verkehr nach Westen und Süden liegen muß, daher von den Christen Jaffator, von den Muslim Bab-el-Chalil, Hebrontor, genannt. In der Zeit der größten Ausdehnung unter Herodes, also zu Christi Zeit, dehnte sie sich weiter nach Norden aus, die einzige Stelle, an der sie organisch wachsen konnte, über die heute außerhalb der Soli- manischen Mauer gelegene, aber jetzt auch wieder bebaute Hoch- fläche, andererseits aber auch nach Süden, wo sie jetzt nicht mehr in den Winkel zwischen Kidron- und Hinnomtal hinein- reicht, wenn auch noch Häuser dort stehen, vor allem aber sich Begräbnisplätze finden. Diese Gunst der Lage erklärt, daß sich hier schon in weit zurückliegender Zeit eine Siedelung entwickelt hat. Schon in vorisraelitischer Zeit, um 1400 v. Chr. wird eine solche mit dem gleichen Namen Urusalim, Friedensstadt, auf den in Tell-el- — I05 — Amama in Ägypten gefundenen, in babylonischer Keilschrift und in assyrischer Sprache geschriebenen Tontafeln erwähnt, Briefen, deren mehrere von dem damaligen Ägypten unterworfenen Herr- scher von Jerusalem herrühren, die heute zum Teil im Berliner ]\Iuseum aufbewahrt werden. Daher ließ es sich David soviel Mühe kosten, die Stadt der jebusitischen Urbewohner zu erobern, die sich, dank ihrer Festigkeit, Jahrhunderte lang nach der Ein- wanderung der Israeliten unabhängig zu behaupten vermocht hatte. Mit richtigem Blicke machte er sie zu seiner Hauptstadt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Übergewicht des im übrigen am dürftigsten ausgestatteten Judäa in erster Linie auf dem Besitze eines so wichtigen Mittelpunktes beruhte, nächstdem auf dem langen Kampfe mit den Urbewohnem und den Phi- listern. Die geschichtliche Bedeutung und die Gunst der Lage erklären schließlich auch, daß immer wieder ein neues Jerusalem auf den Trümmern eines zerstörten erstanden ist. Seit David trat nämlich ein neuer Faktor in Wirksamkeit: Jerusalem wurde als Hauptstadt zugleich auch Hauptsitz des jüdischen Monotheismus und somit eine heilige Stadt, zunächst der Juden, dann aber auch der Christen, der Mohammedaner, bei denen sie geradezu El Kuds, die Heilige, genannt wird. Als Herren haben diese die Höhe, welche den Tempel trug, zu einem heiligen Bezirke mit der berühmten Aksa-Moschee und dem Felsen- dom, Kubbet-es-(^achra, über dem geheiligten Felsen, von dem aus Mohammed gen Himmel gefahren sein soll, umgeschaffen, wohin zu wallfahrten dem frommen Muslim nur die Pilgerfahrt nach Mekka nachsteht. Die geschichtliche Bedeutung bedingt seitdem in erster Linie das Wohl und Wehe von Jerusalem und des ganzen Landes. Auf Schritt und Tritt begegnet man daher in Palästina geschichtlichen Denkmälern, zahlreicher, verschiedenartiger als in Griechenland und Italien (Sizilien vielleicht ausgenommen), wenn auch nicht so großartig und wohlerhalten. Teils absichtlich zer- stört, teils von späteren Geschlechtern als bequeme Steinbrüche benutzt, bieten sie freilich, außer im Ostjordanlande, nur dürftiges Trümmerwerk. Palästina ist geradezu das geschichtsreichste Land der Erde und es begreift sich, daß ähnlich wie in Griechenland, aber in noch höherem Maße, bis vor kurzem die geschichtliche Erforschung desselben bis zum Überdruß die geographisch-natur- wissenschaftliche völlig überwucherte. — io6 — Die geschichtliche Bedeutung, die Eigenschaft Jerusalems als heilige Stadt für alle christlichen Bekenntnisse, für Juden und Mohammedaner dürfte aber wohl noch niemals sich in so hohem Maße aufgedrängt haben wie in der Gegenwart mit ihren er- leichterten Verkehrsverhältnissen. Unter den 60 000 Bewohnern, die man in der in der Neuzeit rasch gewachsenen und wachsen- den Stadt jetzt annimmt, sind die mohammedanischen Herren, Araber imd wenige Türken, mit etwa 7000 Köpfen schon weit in der Minderheit, während man die Zahl der Juden, überwiegend wieder zugewanderte, zu 40 000, die der Christen zu 1 3 000 an- nimmt. Die Juden verfügen über mehr als 70 Synagogen und über zahlreiche Hospize; Christen aller Bekenntnisse und der ver- schiedensten Nationen aus vier Erdteilen haben hier ihre Kirchen, ihre Klöster, die griechische deren allein 21, ihre Hospitäler, Waisenhäuser, Schulen u. dgl., oft eigenartige Bauwerke, ganze Stadtteile, wie das große alte armenische Kloster in der Süd- westecke der Stadt, das 3000 Pilger aufzunehmen vermag, oder die von einer hohen Mauer umschlossene russische Ansiedelung nordwestlich von der Altstadt, die hochgelegen die Stadt wie eine Festung beherrscht. Auf der Hochfläche im Nordwesten der Altstadt dehnen sich 2 km weit weitläuftig gebaute, große Höfe und Gärten umschließende europäische Niederlassungen aus. Ab- gesehen von den verschiedenen deutschen protestantischen und katholischen Anstalten innerhalb und außerhalb der Altstadt, das Johanniterhospiz, das Hospital der Kaiserswerther Diakonissen usw. haben deutsche Ackerbauer und Handwerker, eine Niederlassung der Templer, zu 400 Köpfen vor den Südtoren der Stadt ein geschlossenes Gemeinwesen gebildet, neben welchem sich jetzt der Bahnhof erhebt. Die deutsche protestantische Gemeinde zählt 200 Köpfe. Nicht weniger als 24 verschiedene Religions- gesellschaften, wovon allein 12 christliche, beherbergt die Stadt, deren eng gebaute, steile, winklige, schmutzige Straßen in ihrem 4 km messenden unregelmäßigen Mauerviereck längst nicht mehr genügen. Sie zerfällt in vier Viertel nebst dem zu allen Zeiten für heilig gehaltenen Bezirke des heutigen Haram-esch-Scherif. Die Straßen sind schmal, winkelig, oft überdacht oder überspannt, unsauber, mit vielen Sackgassen und wenigen freien Plätzen. Jerusalem trägt heute mit den unablässig wechselnden Bildern seines Straßenlebens, da sich auch die Nationen und Religionen, — I07 — namentlich die zahlreichen Priester, auch durch ihre Tracht unter- scheiden, mehr als jemals den Charakter einer ganz eigenartigen Weltstadt, grundverschieden von denen etwa Westeuropas, nämlich einer heiligen Stadt, des Sitzes und Ausgangspunktes dreier Welt- religionen, in welcher sich das ganze Leben um Religion und Bekenntnis, meist in wenig erfreulicher Weise dreht, deren Be- wohner geradezu von der Heiligkeit ihrer Stadt leben. Wirklich erwerbende Bewohner hat Jerusalem nur wenige. Das Ghor. Das Ghor, d. h. das Tiefland, wird gekennzeichnet durch den drei Seen verbindenden Jordan, der in geringer Entfernung >ron seiner eigentlichen Quelle in dasselbe eintritt und zunächst «die zum Teil wohl erst durch seine Sinkstoffe gebildete, frucht- bare, aber zum Teil versumpfte und von Papyrusdickichten be- deckte, daher ungesunde Ebene am Nordende des Hulesees, ein Paradies für Büffel, Wildschweine und Wasservögel durchfließt. Wohl durch vulkanische Massen, die sich in das Ghor ergossen, aufgestaut, ist der See heute noch 6 km lang und 5 km breit, seine Tiefe gering. Sein Spiegel liegt nur 2 m über dem Mittel- meere. Der Tiberiassee, in welchem die Gewässer zum zweiten Male eine Ruhelage annehmen, liegt bereits 208 m und das an- nähernd an Fläche einem doppelten Bodensee gleiche Tote Meer, wo sie dauernd in Ruhelage gelangen, bei mittlerem Wasser- .stande 394 m unter dem Mittelmeere. Südlich vom Toten Meere steigt die Sohle des Grabens von rund 800 m unter dem Mittel- meerspiegel wieder über denselben empor, so daß die wasser- scheidende Schwelle im Wadi Arabah, etwa zwei Drittel Weges nach Akabah 1000 m über jenem tiefsten Punkte, nämlich 229 m über dem Mittelmeere liegt, Jenseits dieser kaum merkbaren Schwelle bilden sich wenigstens während des Winters noch an zwei Stellen Seen an der Sohle des Grabens. Das Gefäll des die Lahn an Lauf länge nur wenig übertreffenden, aber noch windungsreicheren Jordan muß somit bei einem Höhenunterschiede zwischen Quelle und Mündung von 914 m und mit Rücksicht auf die beiden eingeschalteten Seespiegel ein sehr bedeutendes sein. Reißenden Laufs mit 210 m Gefälle auf 16 km, also eigentlich in ununterbrochenen Stromschnellen durchfließt er zwi- schen dem Hule und dem Tiberiassee das hier zum Teil durch — io8 — vulkanische Massen ausgefüllte Ghor in tiefer Erosionsschlucht bis er am Nordwestufer des Tiberiassees in die fruchtbare und wohlbewässerte, aber heute unbebaute Ebene El Ghuweir (das kleine Ghor), einst ein großer Garten, eintritt. Das Tal und der Lauf des Jordan, der treffend benannt ist, hebräisch Jarden, der Herabeilende, beginnt weit im Nord- westen des Hennon, im AntiUbanon, im sogenannten Wadi-el- Tein, der eigentlichen Heimat der Drusen, nahe der Straße und Eisenbahn von Berut nach Damaskus, in einer Breite, die noch, acht Bogenminuten nördlich von Damaskus liegt, also in ^^^ 38' N. Bis zum Hule beträgt seine Lauf länge 73 km, zwischen Hule und Tiberiassee 16 km, vom Tiberiassee bis zum Toten Meere 144 km, also die ganze Lauf länge 330, die beiden Seen ein- gerechnet 357 km. Aber das oberste Tal führt nur im Winter Wasser, so daß man als fernste Quelle die nördlich von der Hermonstadt Hasbeya hervorbrechende Quelle des Nähr Hasbani in 520 m Meereshöhe ansieht. Von da an ist ein dauernder Wasserlauf in enger Erosionsschlucht vorhanden, die sich erst 18 km nördlich vom Hule zu dem breiten Graben des Ghor ausweitet. Diesem rinnen von Nordosten her zwei noch wasser- reichere Bäche zu, der Nähr el Leddän und der Nähr Banijas,. die sich 1 1 km nördlich vom Hule , in seiner heutigen Aus- dehnung, in bereits nur mehr 43 m Meereshöhe miteinander und mit dem Nähr Hasbani vereinigen. Diese beiden Quell- bäche, von denen el Leddän der wasserreichere ist, führen die Wasservorräte des Hermon herbei, an dessen Fuße sie, eigent- lich als zutage tretende bisher unterirdische Flüsse aufzufassen^ hervorbrechen, die el Leddän in einem fast kreisförmigen, 50 m im Durchmesser messenden kristallklaren Becken, die von Banijas; aus einer Höhle in steiler Felswand: echte Karstbäche. Die Quelle von el Leddän führt doppelt so viel Wasser, wie die vork Banijas, dreimal so viel wie die des Nähr Hasbani. Jene liegt 154 m hoch, diese 32g m. In dem Namen der ersteren ist noch der alte Name Dan erhalten, denn über dem Quellbecken erhebt sich ein wohl künstlicher Hügel Tell-el-Kadi, auf dem das alte Dan lag, die nördlichste Grenzstadt von Palästina. Banijas ist das alte griechische Paneas, weil die Quellgrotte des Jordan dem Pan geweiht war, später Cäsarea Philippi genannt, wohl der nördlichste Punkt, welchen Christus besucht hat. Beide sind ge- — log — schichtlich wichtige Orte, reich an Altertümern, Inschriften usw. Über der alten Feste von Banijas erhebt sich noch eine gewaltige Kreuzfahrerfeste, Kalat es-Subebe, die eine wundervolle Aussicht auf den Hermon und den Hulesee bietet. Das Nordende des Ghor, in welchem sich so die drei Quell- bäche des Jordan vereinigen, wird von einem großen Sumpfe, dem Ard el Hule eingenommen, der teils von offenen Wasser- flächen, teils von Rohr- und Papyrusdickichten von größter Üppig- keit gebildet wird, durch welche sich der Jordan hindurchwindet: ein Paradies für Büffel und Wasservögel, im Sommer aber ein Malariaherd. Der Hulesee, der mit dem Merom des Altertums kaum identisch sein kann, ist ein kleines flaches Becken, höch- stens 5 m tief. Die Ebene ist durch Anschwemmung auf seine Kosten gebildet, so daß der ursprünglich ebenfalls dem Ghor entsprechend lange, schmale See in ein kleines Dreieck ver- wandelt ist. Wenig unterhalb des Hule ist der zwar reißende, aber schmale Jordan noch leicht furtbar. Hier überschritt ihn die uralte Karawanenstraße, die von Damaskus ans Meer und nach Ägypten führte, der erste, daher auch strategisch wichtige Übergang über den Graben südlich vom Hermon. Heute steht hier eine aus Basaltblöcken erbaute Brücke, Djisr Benät Jaküb, Brücke der Töchter Jakobs genannt, einst befestigt und viel um- kämpft, dabei ein großer Chan. Die Ufer des Flusses sind von Dickichten von Oleandern, Tamarisken und Papyrus begleitet. Der Tiberiassee ist ein hübsch ovales Wasserbecken von 171 qkm Größe, bis 50 m tief, 20.5 km lang und 9.5 km im Höchstbetrag breit. Sein klares, trinkbares Wasser ist außer- ordentlich fischreich und wird jetzt auch wieder von einigen Fischerbarken befahren. Die ihm eigenen plötzlichen Windstöße sind jedoch nicht ungefährlich. Sein blauer Spiegel ist heute in einen Rahmen kahler, nur hier und da mit Trümmern übersäter felsiger Ufer gespannt, dem die wenigen dürftigen Siedelungen der Gegenwart keineswegs als Schmucksteine eingefügt sind. Im Sommer ist es furchtbar heiß und schwül am See. An der Ost- seite findet sich ein schmaler, fruchtbarer Landstreifen, an der Nordwestseite die schon erwähnte kleine Küstenebene, Geneza- reth, nach welcher der See in den Zeiten der Makkabäer be- nannt wurde. Heute gibt es am Tiberiassee nur wenig bewohnte Orte und auch nur am Westufer. Außer Tiberias ist nur noch HO Medschdel (Magdala, Geburtsort der Maria Magdalena) zu nennen. Teil Hum, nahe der Einmündung des Jordan, ein elender aus Basalthütten bestehender Ort ist das alte Kapemaum. Tiberias^ auf schmaler Ebene am See war die glänzende Hauptstadt des Herodes Antipas zu Christi Zeit, ein römisch-heidnischer Ort, nach dem Kaiser Tiberius benannt. Nach der Zerstörung von Jerusalem war es ein Hauptsitz der Juden, jüdischer Überliefe- rung und Gelehrsamkeit. Auch jetzt ist es vorwiegend von Juden bewohnt, enthält aber auch christliche Klöster. Zwei Kilometer südwärts liegen die heißen Bäder von Tiberias mit 62^ C, die wieder mit leidlichen Badeanlagen versehen sind. Geläutert verläßt der Jordan den See, aber bald trübt sich sein Wasser wieder durch die von den Ufern losgelösten Sink- stoffe. Die Sohle des Ghor wird hier nämlich von vorzugsweise mergeligen Ablagerungen, den sogenannten Lisanmergeln , ge- bildet, die sich am Grunde des großen Sees niederschlugen, der in der Glazialzeit das ganze Ghor in einer Länge von etwa 250 km, fast so lang wie die mittelrheinische Tiefebene zwischen Basel und Mainz, und bis 400 m über dem Spiegel des heutigen Toten Meeres ja bis 30 m über dem Mittelmeere füllte, aber nach HuU niemals mit dem Meere in Verbindung gestanden hat. Da die Schwelle im Wadi Arabah 229 m über dem Meeres- spiegel liegt, so lag der Spiegel dieses großen diluvialen Ghor- sees noch immer 235 m tiefer. Die drei heutigen Seen, oder wenigstens die zwei großen, sind die die tiefsten Stellen der Hohlform füllenden Reste jenes. Derselbe hat allenthalben Spu- ren seines Daseins in der Form von Terrassen bildenden Ab- lagerungen hinterlassen, die einen zeitweilig verschiedenen Stand andeuten. Bei Jericho lassen sich deren drei unterscheiden. Eine Niederterrasse bildet die Ebene von Jericho. Sein Spiegel war in der Pluvialzeit bedeutenden Schwankungen unterworfen. Die heutige breite Sohle der Lisanmergel bildete sich in der dritten Pluvialzeit, während deren der Ghorsee wahrscheinlich den Tiberiassee nicht mehr umfaßte. Dieselbe hat im Mittel eine Breite von 15 km, verengt sich aber unterhalb der fruchtbaren Talebene von Besan noch einmal auf 2 km. Sie liegt im all- gemeinen 1000 m unter der Umgebung. Die seitlich einmünden- den Flüsse und Bäche haben die ursprünglich ebene Talsohle reich gegliedert und zerschnitten und der Jordan selbst hat in — III — derselben, hin und her pendelnd, Inseln bildend, aber auch an Stromschnellen reich ein etwa 2 km breites, oft recht steilwandiges, alluviales Flutbett etwa 15 m tief ausgewaschen. Heute genügt ihm aber meist innerhalb desselben eine etwa 30 m breite, 3 — 4 m tiefe Rinne. Diese füllt er im Frühling bei der Schnee- schmelze im Antilibanon bis zum Rande, ja ausnahmsweise über- spült er wohl örtlich auch einmal das Flußbett. Ein echter Galeriewald, Ez-Zör genannt, aus Tamarisken, Oleandern usw. hier und da 300 — 400 m breit begleitet den Fluß. Im Herbste ist der Fluß unterhalb des Tiberiassees an vielen Stellen leicht zu überschreiten, bis ihn der Jarmuk wieder wasserreich macht. Er bildet mehrfach üppig grüne Inseln. Auch erkennt man, daß er seinen Lauf mehrfach geändert hat. Das entspricht den zahl- losen, seinen Lauf verlängernden Windungen, da tatsächlich die Entfernung beider Seen voneinander wenig über 100 km beträgt. In römischer Zeit wurde er von mehreren Brücken überschritten, deren Reste noch erhalten sind. Heute sind deren zwei vor- handen, die eine bei Jericho, die andere unterhalb des Tiberias- sees, Dschisr el Mudschami, wo ihn auch die Eisenbahn über- schreiten wird. Kein Boot belebt denselben, und sein Fisch- reichtum wird fast gar nicht ausgebeutet. Die Befahrung des Flusses ist der Stromschnellen wegen äußerst gefährlich. Die ersten Befahrer desselben, Costigan 1837 und Molineux 1847, die leichte Schiffsboote vom Meere herübergebracht hatten, gingen an den überstandenen Strapazen zugrunde. Auch von der dritten Expedition unter Lynch 1848 erlagen mehrere Teilnehmer. Auch im Altertum waren die Ufer des Jordan wenig belebt, niemals hat an seinen Ufern ein größerer Ort gelegen. Jetzt liegen unterhalb des Tiberiassees einige kleine Dörfer an ihm. Dennoch war er der Stolz der Israeliten und heute ist er für die ganze Christenheit ein so zu sagen heiliger Fluß. Auch zu künst- licher Berieselung ist er niemals, eben der reißenden Strömung und der tiefen Lage des Wasserspiegels wegen verwertet worden. Jetzt benutzt man ihn unterhalb des Tiberiassees dazu, indem man niedere, etwas urwüchsige Wehre errichtet, die freilich nach jedem Hochwasser wieder hergestellt werden müssen. Doch können so nur kleine Flächen im Sommer und im Herbst berieselt werden. Aber wenn man dazu schreiten wird, den Stand des Tiberiassees durch ein Schleußenwerk zu regeln, wie an den — 112 — oberitalischen Seen, dann wird man einen großen Teil des Ghor in einen Garten verwandeln, in welchem man die Früchte der Tropen ziehen kann. Das gleiche gilt von den Nebenflüssen des Jordan, die allenthalben aus Engtälern in das Ghor eintreten und an denen Talsperren leicht zu errichten wären, so daß Wasser für Berieselungszwecke und für elektrische Anlagen hin- reichend zur Verfügung steht und man dem Ghor eine Zukunft in wirtschaftlicher Hinsicht voraussagen kann, welche die größte Blütezeit des Altertums in Schatten stellen würde. Der Jarmuk, der größte linke Nebenfluß, der unterhalb des Tiberiassees ein- mündet, steht an Wasserfülle dem Jordan kaum nach. Ehemals waren es fast ausschließlich diese Nebenflüsse und Quellen, welche Berieselungen und die Schaff"ung von Oasen ermöglichten. Allenthalben sind noch Trümmer dieser Bewässerungsanlagen vor- handen. Es kennzeichnet das Ghor, daß allenthalben an der West- wie an der Ostseite am Fuße des Steilabsturzes starke, meist warme Quellen hervorbrechen. Alle Nebenflüsse sind auch, soweit sie ausdauernde sind, von solchen gespeist. Der Dscha- lud z. B., der im Altertume die ganze breite Ausweitung des Ghor bei Besan (Scythopolis) in einen blühenden Garten ver- wandelte, entspringt in der gleichnamigen, starken, einen Teich bildenden Quelle unter der Schwelle von Zerin. Es ist wohl die Quelle von Jesreel, wo Saul und Jonathan vor ihrer letzten ver- hängnisvollen Schlacht ihr Lager hatten. Scythopolis war zugleich dadurch wichtig, daß hier von der Ebene Esdrelon (jetzt Merdsch ihn 'Amir genarmt) und vom Mittelmeere her ein verhältnismäßig bequemer Weg über die Schwelle von Zerin (123) ins Ghor und über Dschisr el Mudschami ins Ostjordanland führte. Reste von Kanälen und Brücken, Trümmer von Bauwerken aus dem Alter- tum und Mittelalter weithin verstreut zeugen von der Bedeutung dieses Punktes. Besan gegenüber, jenseits des Jordan, in der Schlucht, über welcher die kleine Veste Pella thronte, bricht noch eine starke Quelle hervor. Von ähnlicher Bedeutung, auch auf der obersten Talterrasse des Ghor gelegen und von starken Quellen ins Leben gerufen war auch die Oase von Phasaelis, südlich von Besan. Dort kreuzt der Weg von Es Salt, dem Hauptorte des Ostjordanlandes, nach Nabulus das Ghor. Die größte Berieselungsoase des Ghor war jedoch die von Jericho, der wichtigste Punkt im ganzen Ghor, der denn auch zuerst — 113 — wieder aufzuleben beginnt. Jericho liegt da, wo der das ganze südliche Ostjordanland jenseits dem Verkehrshindernis des Toten Meeres mit dem Westjordanlande und Jerusalem am Nordende des Toten Meeres das Ghor kreuzen muß, zumal die Schlucht des Wadi el Kelt einen verhältnismäßig bequemen Aufstieg auf das Hochland gewährt. Der Eingang in die Schlucht war durch zwei Vesten gesperrt, der Bach selbst, der sein Dasein einer in der wilden Schlucht hervorbrechenden Quelle, Ain el Kelt, ver- dankt, wurde zur Berieselung nach Jericho geleitet und über die oberste Talterrasse des Ghor ausgebreitet. Noch früher aber wird man zu gleichem Zwecke die starken, hier am Ostrande einer abgestürzten Scholle von Kreidekalk am Fuße der Felswand des Dj. Karantal hervorbrechenden Quellen Ain es-Sultan und Ain Duk verwertet haben. Jericho selbst liegt auf der Scholle. Wasser- leitungen, zum Teil auf hohen Aquädukten über Wadi el Kelt geführt, durchfurchen die Ebene in allen Richtungen, zahlreiche Sammelteiche sind noch erkennbar. Mit Hilfe dieser reichen Wasservorräte war es möglich, in dieser tiefen Erdsenke, die mit großer Lufttrockenheit bei milden Wintern ungeheure Sommer- hitze verbindet, also ein wahres Dattelpalmenklima besitzt, den denkbar üppigsten Pflanzenwuchs und die höchsten Erträge zu erzielen. In der Tat müßte hier die Dattelpalme Früchte herv'or- brüigen, die zu den besten gehören, die man überhaupt kennt. Während heute nur wenige wieder neu angepflanzte Dattelpalmen vorhanden sind, lag hier im Altertume und zum Teil noch im Mittelalter ein großer Palmenhain und blühte namentlich im Mittelalter hier Zuckerrohrbau. Jericho war die prachtvolle Win- terresidenz des Herodes. Die Ernte ist dort vier Wochen früher wie bei Jerusalem. Weniger begünstigt erscheint die Osthälfte des Ghor, obwohl dort größere und wasserreichere Nebenflüsse einmünden und es auch an heißen Quellen nicht fehlt. Auch die Talsohle ist strecken- weise 4 km breit. Wie die von Jericho und von Tiberias hatten auch diese heißen Quellen im Altertume zur Entwicklung von Badeorten den Anstoß gegeben. So die Quellen von El Hammi in dem Talkessel des unteren Jarmuktales, nahe seinem Ausgange ins Ghor. Noch sind hier die Trümmer alter Prachtbauten er- halten. Da auf der Höhe darüber die altberühmte Festung Ga- dara lag, von der auch noch großartige Trümmer erhalten sind, Fischer. Mittelmeerbilder. 8 — 114 — so nannte man sie wohl auch die Bäder von Gadara. Andere berühmte heiße Quellen waren die 63^ C warme Kallirrhoe im unteren Tale des Wadi Zerka und die Ain es-Sara unmittelbar am Ufer des Toten Meeres. Viele dieser Quellen sind schwefel- und kochsalzhaltig. Solche geben unterhalb Phasaelis einem Bache Ursprung, der geradezu danach Mellaha, der Salzbach, genannt wird. Eine erwähnenswerte Erscheinung ist es, daß alle Neben- flüsse des Jordan bei ihrem Eintritt ins Ghor einen Winkel tal- abwärts machen, also ganz wie die Nebenflüsse des Rheins in der so ähnlichen mittelrheinischen Tiefebene. Natürlich alles im kleinen. Ja, selbst Gegenstück von 111 und Moder, die dem Rheine lange parallel fließen, finden sich in dem eben genannten Wadi Mellaha und im Wadi Fara, der die Mukhraebene ent- wässert. Er fließt dem Jordan 9 km weit parallel. Neben der Stoßkraft des Hauptflusses dürften wohl Berieselungskanäle bei dieser Erscheinung eine Rolle spielen. Heute Hegt das Ghor, abgesehen von Jericho, noch öde und unbelebt da. Selbst die arabischen Nomaden, die hier im Winter ihre schwarzen Zelte aufschlagen und ihre Herden weiden, auch ein wenig Ackerbau treiben, vertreibt die sengende Glut des Sommers. Die Trümmer, auf die man auf Schritt und Tritt stößt, und die zahlreichen Teils, die durch das Ghor verstreut sind, zeugen aber von der dichten Besiedelung im Altertume und er- wecken Hoff"nungen für die Zukunft. Das Tote Meer ist die Verdunstungspfanne für alle Ge- wässer des ganzen südlichen Drittels des syrischen Grabens und eines meridionalen Landstreifens, der an der Westseite des Ghor schmal, an der Ostseite 50, ja im Hauran 100 km und mehr breit ist und auch den ganzen südlichen Antilibanon umfaßt. Schon diese Eigenschaft als Verdunstungspfanne vermöchte den hohen Salzgehalt von 24 — 2 6*yo» wovon 7% Kochsalz, zu er- klären, nach dem es von den Israeliten das Salzmeer (Bahr Lut bei den Arabern) genannt wurde. Sehr viel tragen aber auch die an Kochsalz und Chlorkalzium sehr reichen Thermalquellen von Tiberias, El Hammi u. a. bei. Von diesen stammen auch die im Seewasser enthaltenen Brommagnesium und Bromkalium her. Die Farbe des Sees ist dunkelblau. Die ätzende Salzlauge macht die Verwendung kleiner Ruderboote unmöglich. Sie greift — 115 — Holz wie Metall an. Zwei Metallboote, die 1894 auf den See gebracht worden waren, wurden bald unbrauchbar. Ein kleiner Dampfer, der 1897 auf den See gebracht war, namentlich zur Unterhaltung des Verkehrs mit dem aufblühenden Kerak, ist auch bald unbrauchbar geworden. Ein kleines Dampfboot des grie- chischen Klosters bei Jericho fährt ein Stück auf dem Jordan und dem See. Die Ufer des Sees sind auch meist so steil, daß das Landen und der Verkehr auf dem See überhaupt schwierig ist. Auch kentern die Boote, da sie bei dem schweren Wasser nicht tief einsinken, bei den alle derartigen Seen kennzeichnenden plötzlichen Windstößen sehr leicht. Wie bei Gewitterschwüle beängstigend liegt es bei der Hitze und dem hohen Luft- drucke von 785 — 790 mm auf dem Menschen. An den Ufern und auch mitten auf dem See kommen Schwefelwasser- stoffaushauchungen vor. Bei niedrigstem Stande ist der See rings von einem Salzkrustensaume umgeben, den die Umwohner ausbeuten. Ja, sie legen kleine Teiche an, in denen sie das Seewasser verdunsten lassen. Namentlich am Südende dehnt sich eine Salzebene (Es Sebcha) aus, die nur bei höchstem Wasserstande überflutet ist. Man erkennt allenthalben, daß der See vor nicht langer Zeit weiter nach Süden reichte und bei geringem Steigen seines Spiegels wieder so weit reichen würde. Dort gibt es gute Winterweide und auch ausgedehnte Bestände von Tamarisken, Akazien u. dgl. Hier erhebt sich südwestlich vom See der Dj. Usdum, ein 30 — 45 m hoher Berg, in den un- teren Schichten aus bläulichem, kristallinischem Salze, darüber Mergelschichten, die hier und da in eine schützende feste Kalk- kruste übergehen, noch 18 m über dem Seespiegel, von den Regenwassern wild zerrissen, reich an Löchern und Höhlen und zu phantastischen Formen gegliedert. Eine dieser Salzsäulen hat das Volk mit dem Namen Tochter des Schechs Lot bezeichnet. Auch an Asphalt ist die Umgebung des Toten Meeres reich. Die Gesteine erscheinen mit Asphalt durchtränkt, nach heftigen Erdbeben steigen wohl Asphaltschollen von der Sohle des Sees auf. Der asphaltdurchtränkte Kalkstein von Nebi Musa (Moses Grab) bei Mar Saba wird in Bethlehem als Mosesstein zu Schmuck- steinen verarbeitet. Nach dem Geologen Blankenhorn, wohl dem besten Kenner des Toten Meeres, würde hier eine bedeutende Asphaltgewinnung möglich sein. Das Wasser des Toten Meeres, — ii6 — das so schwer ist, daß der Mensch darin nicht untersinkt, ist für alles Tierleben ungeeignet. Die Fische, welche der Jordan hinein- trägt, sterben sofort. Den jeweiligen Wasserstand des Sees kenn- zeichnen hier und da vorhandene Lagen von Treibholz. HuU ist der Meinung, daß sich der Spiegel des Sees noch immer senkt. Die Länge des Sees beträgt 76 km, also so viel wie der Genfer See, seine größte Breite 15.7 km, der Flächeninhalt 915 qkm. Nach Süden hin verengt er sich, indem von Osten eine flache Halbinsel, El Lisan, die Zunge genannt, vorspringt, auf 4.5 km. In der so abgetrennten südlichsten Bucht beträgt die größte Tiefe nur 3.6 m, ja, bei niedrigstem Wasserstande im Spätsommer kann man hier zuweilen den See queren. Im Hauptbecken ist eine größte Tiefe von 399 m bekannt. Im Frühling hebt sich der Wasserspiegel infolge der dann reichlichen Wasserzufuhr durch den Jordan um 4 — 6 m über den niedrigsten Stand. Man schätzt die Wasserzufuhr durch den Jordan auf 6 Mill. Tonnen im Tagesmittel, so daß also eine Schicht von 13.5 mm täglich verdunsten muß. Eine dicke Dunstschicht, die sich bisweilen über den See lagert, macht die Verdunstung förmlich sichtbar. Der See ist so steil in das Tafelland eingesenkt, daß man an vielen Stellen fast auf ebenem Wege bis nahe an den See heran- kommen kann, ohne es zu ahnen, bis man ihn plötzlich 1000 — II 00 m tief unter sich liegen sieht. So liegt El Lisan gegenüber auf steiler Höhe die alte Veste Masada der Makka- bäer und des Herodes, die letzte Zufluchtsstätte der jüdischen Kämpfer nach Jerusalems Zerstörung. Und auf der Ostseite ähnlich die Veste Machärus. Die Ufer des Sees sind daher völlig unbelebt. An der Westseite gibt es überhaupt nur eine einzige Süßwasserquelle, A'in Dschidi (Engedi, Bocksquelle), 120 m über dem See. Sie hatte im Altertum eine kleine üppige Oase geschaff"en, und ist noch heute reich an seltenen tropischen Pflan- zen. Ein schmaler Felspfad führt am Westufer entlang. Sodom und Gomorrha. Eine besondere Beachtung verdient das Südende des Sees. Der Name des Dj. Usdum erinnert an Sodom. An Stelle der südlichen seichten Bucht und des anschließenden Salzmorasts sei das Tal Siddim und die Stätte von Sodom, Gomorrha, Adama, — 117 — Zebojim und Zoar zu suchen. Hier lag offenbar nach den Worten der Bibel eine üppige Berieselungsoase. Zoar, die fünfte nicht untergegangene Stadt, lag im Osten am Rande der Oase auf festem Felsboden, vielleicht an Stelle des heutigen Chirbet es Safije, das noch heute in einer kleinen üppigen Berieselungs- oase liegt, die der vom Hochlande von Moab herabkommende gleichnamige Fluß am Südostende des Sees schafft. Daß es sich bei dem Untergange von Sodom und Gomorrha, an deren Stelle das Salzmeer trat, um ein geschichtliches Ereignis handelt, unter- liegt keinem Zweifel, ja man glaubt das Ereignis mit Rücksicht auf die in der Bibel erwähnte Sonnenfinsternis und andere Um- stände vielleicht auf 1780 v. Chr. festlegen zu können. Die versunkene und überflutete Fläche mag 50 — 100 qkm betragen haben. Über die Deutung ist ein wissenschaftlicher, der Sache jedenfalls förderlicher Streit zwischen den beiden orts- und sach- kundigen deutschen Geologen Blankenhorn und Nötling ent- brannt. Nötling bringt das Ereignis mit einem vulkanischen Aus- bruche in Verbindung, wie solche in geschichtlicher Zeit hier noch stattgefunden hätten. Ganz in der Nähe in Moab zeigen sich überall Spuren vulkanischer Tätigkeit. Durch das Erdbeben sei ein verstopfter Eruptionskanal geöffnet worden, ein Ausbruch habe Asche und LapiUi ausgeschüttet und habe eine Rauchsäule aufsteigen machen: die Rauchsäule, die Abraham am Rande des Hochlandes bei Hebron im Osten aufsteigen sah, „glich der Rauchsäule aus einem Schmelzofen". Blankenhorn dagegen bringt das Ereignis in Verbindung mit einer weiteren Entwick- lung der Grabenversenkung durch Untersinken längs der Spalten. Er sieht in demselben die Fortsetzung oder das letzte Stadium der Vorgänge, die die ganze Grabenversenkung gebildet haben. Den Feuer- und Schwefelregen erklärt er durch hervordringende, durch Selbstentzündung in Brand geratene Kohlenwasserstoff- gase und Schwefelwasserstoffgase. Die Bibelworte deuten auf Niederwerfen und Einsturz der Städte durch Erdbeben. Die ersten leichten Stöße warnten Lot. Die Städte wurden „um- gekehrt". Die losen Massen auf der Talsohle setzten sich zu- sammen, das Grundwasser brach hervor und das Tote Meer überflutete die Niederung, Erscheinungen, die ähnUch auch in neuerer Zeit, z. B. 1862 am Südende des Baikalsees beobachtet worden sind. — ii8 — Ostjordanland. In höherem Maße als das Westjordanland ist das Ostjordan- land noch als Tafelland und Hochebene erhalten. Nur gegen das Ghor hin in einem etwa 50 km breiten Gürtel ist es je näher am Ghor um so mehr zerschnitten. Die tiefen, engen Flußtäler haben auch hier kleine Sonderlandschaften geschaffen, die alle ihr Gesicht, so zu sagen, dem Ghor und dem West- jordanlande zukehren. Der Arnon (Modschib), der wasserreichste Zufluß des Toten Meeres, kommt Am Dschidi gegenüber aus einer engen Felsschlucht heraus, die heute die Grenze zwischen Kerak und Belka, wie im Altertum zwischen Moab und den Amoritern bildet. Nördlich davon liegt die Landschaft Belka nordwärts bis zum Jabbok, zwischen diesem und dem Jarmuk Adschlun. Der Jarmuk, dessen unteres Tal auf einer langen Strecke ungangbar ist, wird im Sommer von den Quellen von El Muzerib, den Sümpfen bei Dilly und dem Allan genährt. Im Winter führt er die Gewässer des Hauran und der ihm vor- gelagerten Hochebene zu. Nördlich vom Jarmuk bis zum Her- mon liegt östlich vom Tiberiassee die Landschaft Dcholan. Ost- lich von dieser liegt En Nukra, die im weiteren Sinne schon zum Hauran, dem sich östlich davon auftürmenden vulkanischen Ge- birgslande gerechnet wird. Die südlichen Landschaften sind einförmige Kreidekalktafel- länder, deren höchste stets dem Ghor nahegerückte, aber wenig ausgeprägte Erhebungen 11 00 ja 1200m übersteigen. Sie be- sitzen zum Teil wie Moab eine fruchtbare Decke von Terra rossa, dem unlöslichen, tonigen Rückstande des verwitterten Kalkfels, und haben so ausgezeichneten, von dem Winterregen befruchteten Weizenboden. Treten auch schon in Moab vielfach und in größerer Ausdehnung vulkanische Gesteine auf, so verschwinden jenseits des Jarmuk die Kreidegesteine unter ungeheuren Basalt- decken, Lavaströmen und den Zersetzungsstoffen jungeruptiver Gesteine. So steigt auch das Dscholan mit etwa 700 m mittlerer Höhe, Galiläa um etwa 100 m überhöhend, nach Norden und Osten bis auf etwa 1000 m an, wo sich einzelne eine ^;^ km lange südsüdöstliche Reihe bildende Vulkankegel, alle als Teil bezeichnet, mit wohlerhaltenen Kratern bis nahe an 1300 m, höchstens 300 m relativ erheben und selbst kleine, dauernd — 119 — (Birket Ram) oder nur im Winter gefüllte Maare vorkommen. Obwohl meist steinig, ist der Boden doch auch hier außerordent- lich fruchtbar. Noch mehr gilt dies von der sich ostwärts bis zum Fuße des Haurangebirges von 550 m im Westen sich auf 42 km allmähUch zu 880 m im Osten erhebenden Hochebene En Nukra. Sie wird so, die Höhlung, genannt wegen ihrer von Bergen und Hügelzügen umgrenzten fiachkess eiförmigen Ober- fläche. Es ist die Landschaft Basan, das weiche Land, der Israeliten, ein Name, den man auch mit dem arabischen batne, betene, steinloses, daher fruchtbares Land in Beziehungen setzt. In der Tat herrscht hier rotbrauner, tiefgründiger, lockerer Boden, die bekannte Hauranerde (ard hamra), vor, ein vulkanischer Zer- setzungsstoff, der das herrlichste Weizenland liefert. Wird doch noch heute das nur im Winter Wasser führende Wadi Zedi, die größte aus dem Hauran zum Jarmuk gehende Wasserrinne, Wadi ed Deheb, d. h. die Goldaue genannt. Wunderbare Farben- gegensätze bietet dieses Land im ersten Frühling, wenn sich unter intensiv blauem Himmelszelt die schwarzen Steinmassen der Ortschaften inmitten der üppig grünen Weizenfelder ringsum auf- fällig abheben. Im Sommer herrscht nur eine Farbe: rotbraun. Diese jetzt wieder besiedelte und fast durchaus angebaute Land- schaft ist etwa 3000 qkm groß. Um die reichen Weizenernten derselben zur Ausfuhr zu bringen, wurde von Damaskus her bis El-Muzerib, dem wasserreichen Rastplatze an der großen Pilger- straße, ins Herz dieser Weizengefilde die erste Eisenbahn gebaut. Über En Nukra hat hochgradige vulkanische Tätigkeit auf etwa 900 m hoher Unterlage das Haurangebirge, nach seinen jetzigen Bewohnern wohl auch Drusengebirge genannt, aufgetürmt, teils aus losen Auswurfsmassen, teils aus Laven, ein sich auf 80 km bis 35 km Breite in nordsüdUcher Richtung erstreckendes Gebirgsland, ein Wechsel mächtiger Kegel oft mit noch wohl- erhaltenen Kratern und sanft geneigten, steinigen Lavafeldern. Der höchste dieser Kegel, der Teil ed Dschena erreicht 1839 m Höhe, die höchste Erhebung von Palästina überhaupt. Das Hau- rangebirge bewirkt hier die Verbreiterung des Ostjordanlandes (und Palästinas) von etwa 50 km, Grenze des Kulturlandes und der Wüste, auf 130 km, indem durch dieses Gebirge als Wolken- verdichter das Kulturland so weit nach Osten vorgeschoben wird. Zu Palästina muß dies Gebiet gehören und hat es auch fast stets — I20 historisch gehört, da es sich nach Westen zum Ghor neigt und dorthin entwässert wird, das große Lavafeld El Ledscha auch von Damaskus scheidet. Durch dies Gebirge ist Palästina um drei kleine Sondergebiete bereichert worden: die bereits ge- schilderte Landschaft En Nukra, steinloses ebenes Weizenland, Hauran, durch Aufsammeln der Steinbrocken zum großen Teil anbaufähiges Gebirgsland und El Ledscha, eine Felslandschaft mit eingestreuten kleinen anbaufähigen Flecken. Durch die Ar- beit vieler Geschlechter ist in einem großen Teile des Hauran die Fülle lose herumliegender Steinbrocken, die den Boden be- deckten, zu Feld- und Flurgrenzwällen aufgetürmt — die gleiche Absicht gab in Schleswig-Holstein Anlaß zur Bildung der Knicks — ■ und die War (griech. Trachon) in Kulturland umgewandelt wor- den. Dieses Gebiet war vor allem in den Jahrhunderten vor dem Einbruch der nomadischen Träger des Islam aus Arabien ein dicht bevölkertes Kulturland. Bostra, heute Bosra eski Scham genannt, war im 4. Jahrhundert n. Chr. nach Ammian ein ingens oppidum, dessen Umfang auf 6 — 7 km geschätzt werden kann. Es mag, wenn man die niedrigen Häuser, die großen Teiche innerhalb der Stadt in Betracht zieht, 80000 Einwohner gehabt haben. Und andere Siedelungen standen Bostra nur wenig nach. Eine letzte Sonderlandschaft haben die gewaltigen, von den Hauranvulkanen nach Nordwesten geflossenen Lavamassen ge- schaffen, El Ledscha, d. h. die Zuflucht, nämlich der Drusen gegenüber den räuberischen Beduinen, wohl auch Kalat Allah, Festung Gottes genannt. Es ist ein ungeheures, sich von goo auf 600 m nach Nordwesten abdachendes Lavafeld. Mit seiner scharfkantigen, von Sprüngen durchsetzten Oberfläche, daher in hellenistischer Zeit Trachon, Trachonitis genannt, gleicht es einem wild erregten, plötzlich erstarrten Meere und ist es namentlich für Kamele und Pferde ganz ungangbar, nur schmale Fußpfade winden sich hindurch. Die Römer freilich hatten von Damaskus her eine Straße hindurchgelegt. Mit einem etwa 10 m hohen Steilrande, Lohf genannt, steigt es auf der ebenen Umgebung auf und ist so, namentlich mit Hilfe schon vorher aufgehäufter Steine leicht zu verteidigen. Zahlreiche Höhlen und sonstige Verstecke finden sich, natürliche durch Zisternen ergänzte Wasser- löcher, die nur dem Einheimischen bekannt sind, kleine, mit fruchtbaren Zersetzungsstoffen gefüllte und daher fruchtbare Ver- 121 — tiefungen, die ehemals mit Reben und Fruchtbäumen bepflanzt waren, sind durch die Felswildnis verstreut, ermöglichen dauernde Bewohnung. Noch 1838 bestürmte Ibrahim Pascha von Ägypten mit seinem ganzen Heere den von 5000 Drusen verteidigten Lohf neun Monate lang mit einem Verluste von 20 000 Mann ver- gebens. Ähnlich ein türkisches Heer 1850. Das Klima. Das Klima von Palästina ist nicht lediglich von der Lage des Landes im südlichen INIittelmeergebiet und am Mittelmeere bedingt, auch die wechselnden Oberflächenformen, die Höhe, die Entfernung vom Ozeane und die Umgebung ausgedehnter Wüsten- gebiete üben ihren Einfluß aus. Obwohl man es noch als medi- terran bezeichnen muß, hat es doch bereits nach dem Wärme- gange in der täglichen und jährlichen Periode, nach dem geringen Ausmaß der Niederschläge und der das ganze Jahr herrschenden ziemlich bedeutenden Lufttrockenheit einen ziemlich festländischen Anstrich. Die mittlere Jahreswärme von Jerusalem beträgt bei nicht ganz 800 m Meereshöhe 17.1° C und dürfte ungefähr der- jenigen des ganzen West- und Ostjordanhochlandes entsprechen, ebenso die des Februar mit 8.8° C, des August mit 24.5** C. Pie Küstenebene dürfte demnach im Jahresmittel 2 2 '^ C, in den extremen Monaten 12° C und weniger als 30" C haben, im Ghor dagegen, etwa Jericho, dürften dieselben Werte 24° C, 13 — 14*^0 und S-^ ^ betragen. Das Ghor wäre also thermisch den aus- gezeichneten Datteloasen des Wed Rirn und Wed Suf in der algerischen Sahara zur Seite zu stellen. Wie in Jerusalem in etwa 4 — 5 Nächten jeden Winter leichter Frcst (absolutes Mini- mum — 4° C) eintritt und Schneefälle dort mindestens jedes dritte jähr vorkommen, wenn auch eine andauernde Schneedecke selten ist, so ähnlich auch sonst auf dem Hochlande. Im Ost- jordanlande sind freilich Fröste und Schneefälle häufiger und intensiver. Ganze Karawanen sind dort schon im Schnee zu- grunde gegangen. Die Küste und das Ghor erfreuen sich sehr milder Winter und sind als von Frösten und Schnee frei an- zusehen. Dagegen steigt im Sommer die Wärme außerordentlich, besonders werm heiße Winde von Süd und Südost her wehen. Ihretwegen verhüllen sich die Weiber im Hauran bei der Feld- arbeit das Gesicht völlig bis auf die Augen. Leichte Aufbaue — 122 aus Matten auf den flachen Dächern, besonders als luftige Schlaf- gemächer in der heißen Zeit, hier und da wohl auch wegen der dann das Innere der Häuser unsicher machenden Skorpione, sind daher sehr beliebt. Doch mildert im Sommer, wenigstens in freien Lagen des Westjordanlandes, aber auch noch im Hauran, die am Tage fast immer bewegte Luft, besonders der feuchte, kühle Seewind die Hitze sehr wesentlich, die daher des Morgens vor Durchbruch des Seewindes, des Abends nach Abflauen des- selben am empfindUchsten zu sein pflegt. Das Ausbleiben des Seewindes wird daher sehr empfunden und das Ghor ist im Sommer unerträglich heiß, weil es so tief liegt und dem Einfluß der Seewinde ganz entzogen ist. Die wunderbare Klarheit der Luft, der hell leuchtende Mond und die funkelnden Sterne bieten gerade im Sommer einen gewissen Reiz. Der Herbst zeichnet sich infolge häufiger südöstlicher Winde durch angenehme Wärme aus. Wichtiger als das Ausmaß der Wärme, die in dieser Breite unter allen Umständen genügen muß, ist die Menge und die jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge. Diese sind, wie überhaupt in den südlichen Mittelmeerländern, auf die kühlere Jahreshälfte beschränkt, weil nur in dieser regenbringende ver- änderliche Winde, vorherrschend Südwest- und Westwinde, also vom Mittelmeere her wehen, während im Sommer dauernd Winde nördlicher Richtung, der Passat, wehen, die keinen Regen bringen können. Die Übergangsjahreszeiten sind sehr kurz, wie man auch schon in der Bibel meist nur Sommer und Winter unter- schied. Die Regenzeit beginnt ini Oktober, nimmt bis Ende Januar, der in Jerusalem im Mittel zehn Regentage, jeden mit 14 mm Niederschlag, hat, zu und endigt im Mai. Die mittlere Dauer der Regenzeit ist im 33jährigen Mittel nach einer Berechnung von Hilderscheid 192 Tage, so daß also auf die Trockenzeit 173^2 Tage kommen. Es nehmen die Niederschläge im allgemeinen von Norden nach Süden, von Westen nach Osten ab und das Ghor ist der niederschlagsärmste Teil des ganzen Landes. Der Januar ist fast überall der Hauptregenmonat. Im Küstenlande fallen allein in den drei Wintermonaten (Dezember-Februar) 65% der ganzen Niederschlagsmenge, auf dem Hochlande 67 ^q, im Ghor 63"/(,. Die Zahl der Regentage ist an der Küste 58, auf dem — 123 — Hochlande 55, im Ghor 49 und auf die drei Wintermonate kommen in diesen drei Landgürteln ^;^, 31, 11 Regentage. Die mittleren jährlichen Niederschlagsmengen können nach den bisher vorliegenden Messungen in den Küstenstationen Gaza zu 447 mm, Jaf^'a 559, Sarona 517, Haifa 604, Karmel 611 mm angenommen werden. An den Hochlandstationen Bethlehem zu 593, Jerusa- lem (im Mittel von drei dort bestehenden Beobachtungsstationen) zu 596, Nazareth zu 709 mm, während die einzige Beobachtungs- station im Ghor, Tiberias, nur 433 mm aufweist, aber wegen der Lage am See gewiß mehr als dem Ghor im allgemeinen zuteil werden dürfte. Im Ostjordanlande, von wo noch keine Beobachtungen vorliegen, ist im allgemeinen die winterliche Niederschlagshöhe, eben weil dasselbe das Westjordanland etwas überragt und somit nicht in seinem Regenschatten liegt, trotz der schon größeren Meerferne noch genügend für Getreidebau ohne künstliche Berieselung, d. h. es muß dieselbe nach Be- obachtungen, die in Tunesien ungefähr unter gleichen Verhält- nissen gemacht worden sind, mindestens 400 mm betragen. Das Haurangebirge bedeckt sich allwinterUch reichlich mit Schnee, dessen Schmelzen im Frühlinge lange Zeit die Bäche reichlich speist und so Berieselungen in der vorliegenden Hochebene er- möglicht. Tagelang anhaltende Regen sind in Palästina selten, sie fallen meist in kurzen, heftigen Güssen, nach denen die Sonne rasch wieder hervortritt und den durchfeuchteten Boden erwärmt. Auch noch heute legt man, wie in der Bibel, das größte Ge- wicht auf die Frühregen, im Oktober und November, die den harten Boden durchfeuchten und ihn zu pflügen und zu bestellen erlauben, und die Spätregen, im April und Mai, welche dem Getreide die Körnerentwicklung ermöglichen. Schon in der Bibel wird der Gegensatz der so gut wie regenlosen Niloase Ägypten zu dem sich regelmäßiger Regen er- freuenden Palästina treffend geschildert. Als Moses das Volk Israel nach dem Gelobten Lande führte, beschrieb er es ihnen im Unterschiede von Ägypten: denn das Land, da du hinkommst, ist nicht wie Ägypterland, davon ihr ausgezogen seid, da du deinen Samen säen und selbst tränken mußtest, wie einen Kohl- garten, sondern es hat Berge und Auen, die der Regen vom Himmel tränken muß. Denn der Herr, dein Gott, führet dich 124 — in ein gut Land, ein Land, da Bäche und Brunnen und Seen inne sind, die an den Bergen und in den Auen fließen. Wie überall im südlichen Mittelmeergebiete sind die Nieder- schlagsmengen von einem Jahre zum andern sehr verschieden und INIißernten infolge ungenügender Winterregen nicht selten. In den so fruchtbaren Landschaften Dscholan, En Nukra und Hauran rechnet man alle vier Jahre auf eine Mißernte, die man aber bei dem ungeheuren Ertrage der übrigen Jahre leicht ver- schmerzen kann. Während der langen Trockenzeit ist die Pflan- zenwelt, wo nicht künstliche Berieselung stattfindet, auf die reich- lichen Taufälle angewiesen, welche Palästina kennzeichnen. Der Seewind führt große Mengen Wasserdampf ins Land hinein, die sich dann bei der bedeutenden nächtlichen Abkühlung, die in- folge von Wärmestrahlung einzutreten pflegt, derartig verdichten und sich als Tau niederschlagen, daß ein Übernachten im Freien unmöglich ist und selbst die Zelttücher meist so naß werden, daß man sie erst von der hochsteigenden Sonne wieder trocknen lassen muß, ehe man sie zusammenpacken kann. Daß Gideon eine Schale Tau aus dem Fell drücken konnte, war keine un- gewöhnliche Erscheinung. So wertvoll sind diese Taufälle, die allerdings bei der Beständigkeit des Wetters im Sommer selten ausbleiben, daß man ihr Ausbleiben als ein Zeichen des gött- lichen Zornes deutete. Sehr häufig lagern im Sommer am frühen Morgen über Ebene und Hügeln dichte Nebel, aus denen nur die höchsten Berge wie Inseln aus wogendem Meere aufragen. Die steigende Sonne zerteilt sie bald, als flatternde weiße Wolken steigen sie an den Bergen empor und lösen sich im Blau des Himmels auf: „die Morgenwolken und der Tau, der frühmorgens vergeht" (Hos. 6, 4). Dennoch darf man erwarten, daß das Land bei der langen Regenlosigkeit und hohen Wärme im Sommer selbst da öder, sonnenverbrannter Steppe gleicht, wo im Winter und Frühling üppiggrüne Weizen- und Gerstenfelder Tal und Hügel, selbst den Ölberg bis zum Gipfel bedecken. Wer eine richtige Vorstellung von Palästina haben will, darf es nicht im Sommer oder Herbst besuchen, am besten im Frühling, im April und Mai. Es leuchtet ein, daß Palästina bei so lange andauernder Regenlosigkeit überhaupt an Wasser, aber namentlich an dauernd fließenden Bächen und Flüssen arm sein muß. Demnach wird — 125 — es auch an Wasserkräften und an diese geknüpften gewerblichen Anlagen in der Gegenwart und in der Zukunft arm sein. Immer- hin kann man hier und da in Galiläa und auch im Ostjordan- lande kleine Wassermühlen klappern hören, angeblich eine Hinter- lassenschaft der Kreuzfahrer. Ja, sogar Wasserfälle, Zukunftsmusik elektrischer Kraftübertragung, kommen vor, wie am Modschib und Jabbok des Ostjordanlandes. Auch sind dauernd fließende Bäche und Flüsse, meist als Nähr von Wadi unterschieden, abgesehen vom seengespeisten Jordan, nicht so selten, als man nach der zeitweiligen Regenlosigkeit schließen möchte, weil das Kalkgebirge die Meteorwasser verschluckt, zu unterirdischen Wasserläufen ver- einigt und an geeigneten Stellen, besonders am Fuße des Hoch- landes als starke Quelle zutage treten läßt. Dr. Schumacher, der hochverdiente Erforscher des nördlichen Ostjordanlandes, zählt im Westhauran nicht weniger als 13 ausdauernde Bäche und Flüsse. Und die meisten Flüsse, die vom Westjordanhochlande herabkommen, werden am Fuße desselben von Quellen verstärkt zu ausdauernden. An starken Quellen, wie sie alle Kalkgebiete rings um das IMittelmeer kennzeichnen, ist Palästina nicht arm. Der häufig wiederkehrende Name Ras eKAin deutet auf solche hin. Er ist gleichbedeutend mit dem italienischen Capo d' acqua, dem griechischen Kephalarion, dem spanischen Nacimiento. Nicht selten bilden diese Quellen Quellbecken, die von dem herrlich- sten, kristallklaren Wasser gefüllt sind, ähnlich der papyrus- umwachsenen Cyane bei Syrakus. So die Quelle des Jordan bei Tell-el-Kadi, die des Nähr el-'^Audscha, des wasserreichsten Mittelmeerflusses von Palästina, der unter Kalat Ras el '^A'in, dem alten Antipatris, mit solcher Wasserfülle hervorbricht, daß er nicht durchritten werden kann und im Sommer dem Jordan an seiner Mündung gleichkommt. Noch größer, 2 km im Umfange, also ein kleiner See, ist das fischreiche Quellbecken des Jarmuk bei El Muzerib, das dadurch zum großen Rastplatze der Pilgerkara- wanen geworden ist. Eine Quelle ist daher in Palästina ein kostbarer Besitz. Viele Siedelungen sind an solche, wenige, fast keine, an Flüsse gebunden, ein grellster Gegensatz zu Mitteleuropa. Doch ge- nügten der sich mehrenden Bevölkerung bald die Quellen nicht mehr. Man legte Zisternen an, worauf die natürlichen Wasser- ansammlungen und Felslöcher hinwiesen. Fast jedes Haus hat 126 seine Zisterne. Viele sind von gewaltiger Größe, die Felsdecke von Pfeilern gestützt. Dazu kommen ehemals in ungeheurer Zahl, namentlich im Ostjordanlande, vorhanden gewesene offene Sammel- teiche, denen in in den Felsen gehauenen und zementierten Rinnen das winterliche Regenwasser von allen Seiten zugeführt wurde. Sie unterlagen freilich in hohem Grade der Verdunstung und mögen wohl alle zu Ende der Trockenzeit leer gelegen haben. Der höhlenreiche, zugleich guten Zement Hefernde Kalk- boden, in welchem härtere und weichere Schichten wechseln, eignete sich besonders für solche Anlagen. Die Frostfreiheit begünstigte sie. Weit verbreitet ist namentlich eine 1.5 m mäch- tige, feste, die Oberfläche bildende Kalkschicht, unter welcher eine zuweilen bis 14 m mächtige weichere Schicht liegt. Man bohrte daher nur ein enges, einem Flaschenhalse ähnliches Loch in die erstere und arbeitete die Zisterne darunter aus. Es ist geradezu staunenswert, was viele Geschlechter an solchen Arbeiten in Palästina geleistet haben, im Ostjordanlande, wo es noch nötiger war und ganze fruchtbare Landschaften durch Aufspeiche- rung und Zusammenleitung von Wasser erst dauernd bewohnbar gemacht worden sind, noch mehr wie im Westjordanlande. Die so fruchtbare Landschaft En Nukra wäre ohne solche künstliche Wasserbeschaffung zum großen Teil im Sommer nicht einmal für Nomaden, geschweige für eine so dichte, hochgesittete Bevölke- rung bewohnbar wie in frühchristlicher Zeit. Fast allenthalben lebt die heutige verkommene Bevölkerung von den mehr oder weniger gut erhaltenen Resten der Anlagen einer besseren Zeit. Noch heute werden wie in alter Zeit die im freien Felde oder an den Wegen gelegenen Zisternen und Brunnen — ■ es ist oft nicht leicht zu unterscheiden, ob man eine Zisterne oder einen Brunnen mit dauerndem Zustrom aus dem Grundwasser vor sich hat — zu jedermanns Benutzung als Zeichen der Kostbarkeit des Wassers mit einem so schweren Steine verschlossen, daß nur mehrere Hirten vereinigt denselben wegzuwälzen vermögen, damit nicht ein einzelner alles Wasser für seine Herde verbrauchen kann. In Jerusalem hat jedes Haus seine sich flaschenförmig nach unten erweiternde Zisterne, die gegen Licht, Sonne und Unrat geschützt kühles, gutes Wasser das ganze Jahr hält. Quellen besitzt die Stadt nur eine, die schwachsalzige Marien- oder Jung- frauenquelle, deren Wasser unterirdisch zum Siloahteiche geleitet — 127 — und von dort durch einen Tunnel, wohl schon im 8. Jahrhundert V. Chr. in die Stadtbefestigung einbezogen wurde. Daneben wur- den aber noch sehr früh die schon erwähnten Sammelteiche an- gelegt, die auch zum Baden, wie zur Schafwäsche und zum Be- wässern der Gärten verwendet wurden. Wenn das Wasser eine gewisse Höhe erreicht hatte, gab es ein Teich an den anderen ab. Die ganze Fläche des Harem-esch-Scherif ist von Zisternen unterhöhlt, welche gewaltige Wassermassen zu fassen vermögen, die von den Salomonsteichen hergeleitet wurden. Diese 1865 wiederhergestellte Wasserleitung dürfte doch vielleicht in den ersten Anlagen bis auf Salomo zurückführen. Ihr eigentlicher Erbauer ist aber Herodes der Große. Sie führt Wasser von den so- genannten Salomonsteichen, drei Stunden südlich von Jerusalem bei Bethlehem, ja noch weiter aus der Gegend von Hebron herbei. Jeder einsichtige Herrscher war bemüht, die Wasservorräte zu vermehren, wie König Mesa von Moab auf seiner erhaltenen be- rühmten Steininschrift mitteilt, daß er jedem Hauswirte von Kircha Dibon befohlen habe, in seinem Hause eine Zisterne anzulegen. So kam es, daß die Belagerer von Jerusalem stets unter Wasser- mangel sehr zu leiden hatten, während die Belagerten Wasser in Fülle hatten. Wasserleitungen, wie diese Jerusalem speisende, scheinen aber nur ausnahmsweise angelegt worden zu sein. Am reichsten daran war das nördliche Ostjordanland, wo vom Haurangebirge her die Wasservorräte, welche die winterlichen Schneemassen lieferten, weithin geleitet und in großen Sammelteichen auf- gespeichert wurden. Den Anstoß zur Anlegung solcher gaben die match genannten natürlichen Vertiefungen im Felsboden, in denen sich die Winterwasser sammelten und lange hielten. Auch große unterirdische und so gegen die große Verdunstung ge- schützte Zisternen legte man an. Einzelne Gemeinden gaben nach den noch erhaltenen Inschriften große Summen für diese Anlagen aus. Es war kein Ort ohne ein oder mehrere solcher Sammelbecken, die in den hellenistischen Zeiten XCiivtj oder Aaxoj genannt wurden. Die Wasserleitungen machten Gegenden seß- haft bewohnbar, die im Sommer nicht einmal für Nomaden be- wohnbar waren. Die eine, der Luwakanal, hatte in der östlichen Ledscha auf 35 km 20 blühende Ortschaften ins Leben gerufen, von denen heute nur noch eine einige wenige Einwohner hat. — 128 — Die größte war der 80 km lange Kanat Firaun, die auf mäch- tigen Basaltlagen ganze Täler überschritt und von dem noch heute vorhandenen reichen Quellbecken El Gab bei Dilli aus, mitten in En Nukra, nach Derat (Adroa) und von da nach Westen bis Mukes oder Um Kes (Gadara), 5 km von der Mündung des Jarmuk führte. Eine andere war von Trajans Feldherrn Corne- lius Palma erbaut. Auf diesen Anlagen also beruhte die hohe Kultur dieses Landes in vorarabischer Zeit: in der Tat eine zarte, stetiger Pflege bedürftige Pflanze! Pflanzenwelt. Solche klimatische Verhältnisse müssen ihren Ausdruck auch im Charakter der Pflanzenwelt finden. Vor allem wird dieselbe Schutz gegen die lange Trockenheit suchen. Dies geschieht in derselben Weise, wie sonst in der Mittelmeerflora. Die Holz- gewächse sind verhältnismäßig zahlreich und tragen immergrüne, lederartige Blätter meist mit kleiner Blattfläche, so daß sie gegen Verdunstung geschützt sind. Einjährige Gewächse, denen die Winterregenzeit genügt, und Zwiebelgewächse spielen eine Rolle. Die Blattarmut der Holzgewächse steigert sich oft zu einer Be- domung, wie schon die Bibel immer und immer wieder der Dornen und Disteln gedenkt. Domige Vertreter der Steppenflora Vorder- asiens sind bis ins Westjordanland verbreitet. Auch aromatisch sind sehr viele Pflanzen von Palästina. Dadurch, daß im Ghor sich noch tropische Formen, wie sie am Südrande der Sahara vorkommen, zum Teil aber auch solche mit indischen Beziehungen beimischen, erscheint die Flora des kleinen Landes mit etwa 3000 Arten als sehr reich. Von den der Mittelmeerflora fremd- artigsten Formen tritt die Papyrusstaude massenhaft in den Sümpfen nördlich vom Hulesee auf, während Salvadora persica und Calotropis procera (der Oschurstrauch, der den sogenannten Sodomsapfel trägt) nur nahe dem Toten Meere vorkommen. Die merkwürdige sogenannte Jerichorose, Anastatica hierochuntica, eine Crucifere, kommt auch nur im Ghor und erst im Süden von Engedi vor. Weiter verbreitet im Ghor ist Acacia seyal, die ägyptische Sykomore und Melia Azedarach, besonders im Küsten- gebiet. Die Dattelpalme ist in ganz Palästina keine seltene Er- scheinung, selbst in Jerusalem kommt sie noch vor, aber nur als Zierbaum , kaum daß sie in Gaza und einigen noch weiter süd- 129 — wärts gelegenen Oasen als Fruchtbaum gelten kann, so aus- gezeichnete Datteln das Ghor im Altertume auch hervorbrachte und heute hervorzubringen imstande wäre. Im allgemeinen macht das Pflanzenkleid von Palästina einen dürftigen Eindruck, den klimatischen Verhältnissen, dem vorherr- schenden Felsboden und der langen, wechselvollen Geschichte entsprechend. Kahle Felslandschaften sind nicht selten, namenthch nach dem Ghor hin. Üppigen Pflanzenwuchs findet man, ab- gesehen von den heute so seltenen Berieselungsanlagen, heute nur auf reich bewässertem Boden, namentlich längs des Jordan, der von einem Saume von Pappeln, Tamarisken, Oleandern, Keuschbäumen, Elaeagnus usw. begleitet ist, ein schwacher Ab- glanz der Galeriewälder des tropischen Afrika. Der Keuschbaum, der Oleander, auch der Ricinus sind die steten Begleiter der Wasserläufe. Geringer Höhenwuchs kennzeichnet alle Holz- gewächse des trockenen Landes, das überhaupt, von Frucht- bäumen abgesehen, als baumarm und namentlich als arm an Bauholz, wie schon im Altertume, angesehen werden kann. Wo noch einzelne Bäume oder Gruppen solcher, namentlich immer- grüne Eichen, vorkommen, da werden sie fast als heilig betrachtet. Wälder, die man aber besser als lichte Haine bezeichnen sollte, besonders von immergrünen Eichen (Quercus ilex und Quercus aegylops), niedrigen, aber stämmigen Wuchses kommen noch heute in Samaria, im Dscholan, Belka, am Westhange des Hauran, be- sonders aber in Galiläa vor. In der nördlichen Saronebene gibt es noch einen Eichenwald von 14 km Umfang. In Galiläa be- zeichnet man i37o des Bodens als waldbedeckt. Noch heute sind ausgedehnte Waldungen, vorherrschend Eichen, aber auch andere Laubbäume und Wachholder eingestreut, in 800 — 1000 m Höhe in den Tälern um Es Salt, jetzt dem größten Orte des Ostjordan- landes, vorhanden. Im südlichen Haurangebirge ist der Wallnuß- baum, auch der wilde Mandelbaum als Waldbaura zu betrachten. Vereinzelte, an Quellen auftretende mächtige Platanen, auch Terebinthen, sind nicht selten. Nadelhölzer gibt es, wenn man von den angepflanzten Pinien und Zypressen absieht, in Palästina eigentlich nicht. Nur der Wachholder kommt vor. Die Wald- verwüstung schreitet aber noch immer fort. Meist von Triest eingeführtes Bauholz ist sehr kostbar und wird daher wenig ver- wendet. Fischer, Mittelmeerbilder. q — ISO — Größere Flächen sind mit den für die Mittelmeerländer charakteristischen Gestrüppdickichten, den Machien, bedeckt, niedrigen, hier stets domenreichen Sträuchem. Der Sidr, Zizy- phus lotus, aus dessen Domen die Dornenkrone Christi bestanden haben soll, ist besonders häufig. Daneben Myrthen, Pistacia Lontiscus, Arbutus, immergrüne Eichen u. dgl. Brennholz und Holzkohle liefern allein diese Gestrüppe. Getrockneter Dünger muß es ergänzen. Die offenen Flächen sind, wo sie nicht völlig kahl sind, mit Halbsträuchern, Stauden, Zwiebelgewächsen und einjährigen Gräsern bedeckt. Sie vermögen selbst im Frühling dem Boden nur einen grünen Schimmer zu verleihen, der Nähr- wert dieser Matten, auf die die Herden allein angewiesen sind, ist ein geringer. Schon im Mai erliegt dies Grün dem Sonnen- brande. Von jeher müssen Brände während der langen Sommer- dürre der Vegetation höchst schädlich gewesen sein. Absicht- liches Anzünden der Gestrüppe wurde daher schwer bestraft, da, wie oft in der Bibel erwähnt wird, die reifen Saaten davon er- griffen wurden. Die Beduinen des Ghor töten heute noch un- weigerlich jeden, der einen solchen Brand anfacht. Selbst in der heftigsten Fehde darf keine Partei des Feindes Land in Brand stecken. An Kulturgewächsen ist Palästina reich, alle auch sonst in den Mittelmeerländern vorkommenden sind vorhanden. Der Öl- baum, der Feigenbaum, die Apfelsine sind die wichtigsten Frucht- bäume, der Johannisbrotbaum, der Granatbaum, der Maulbeer- baum, Pfirsiche, Aprikosen sind weniger häufig, die Zucht der Rebe schreitet vor. Sie wird besonders auf terrassierten Hängea gezogen, wie um Bethlehem und Hebron, und Wein wird ein immer wichtigerer Gegenstand der Ausfuhr. Die Trauben er- reichen oft eine außerordentliche Größe. Alte, in den Felsen, gehauene Keltern zeugen häufig von nicht mehr bestehenden Weinbergen. Selbst Ortschaften sind danach benannt, wie Karjet- el-Eneb, die Traubenstadt, auf dem Wege von Jaffa nach Jeru- salem. Im Hauran selbst blühte im Altertum der Weinbau, wie man schon aus den häufig in den Felsskulpturen verwendeten Reben schließen kann. Ähnlich in dem heute verödeten „Süd- lande", dem Landstreifen an der Südgrenze von Judäa. Haine südlicher Fruchtbäume, die der Landschaft etwas Gartenartiges verleihen, finden sich nicht gar so selten, sei es aus besseren — 131 — Zeiten erhaltene, sei es, wie die großen Apfelsinenhaine der deutschen Ansiedler bei Jaffa, neu angepflanzte. Namentlich Bet-Lehein, hebräisch Haus des Brotes nach der Fruchtbarkeit seiner Umgebung, ist von seinen christlichen Bewohnern wieder weithin von Oliven- und Feigengärten, Weinpflanzungen und Weizenfeldern umgeben worden. Der Ölbaum ist ein uralter Besitz des Landes. In den ältesten Zeiten, bis in welche die biblische Überlieferung zurückreicht, erscheint das Land schon überreich an Ölbäumen. „Ölbäume, die du nicht gepflanzet hast", werden den Juden unter den Gütern genannt, die ihnen im Lande der Verheißung zufallen sollen. Neben Wein und Getreide wird der Ölbaum als die Quelle des Wohlstandes in der Bibel oft hervorgehoben. Wie im Altertume, so ist noch heute der Öl- baum der Charakterbaum des Heiligen Landes und Olivenöl ein wichtiger Gegenstand der Volksnahrung. Noch heute ist der Ölberg bei Jerusalem mit einzeln stehenden Ölbäumen übersäet und von den acht uralten im Garten Gethsemane, von denen der stärkste in Brusthöhe 2 m im Durchmesser hat, — der Ölbaum erreicht in der Tat ein sehr hohes Alter und galt schon den Griechen als unvergänglich — wird behauptet, daß sie aus by- zantinischer Zeit stammen, ja, daß Christus unter ihnen gewandelt sei. Von dem einst im Mittelalter im Ghor blühenden Zucker- rohrbau werden noch heute von den Arabern alte Bauwerke als Zuckennühlen bezeichnet. Die Opuntie ist nicht so häufig und wichtig wie sonst in den südlichen Mittelmeerländern. Unter den Getreidearten steht der Weizen bei weitem obenan, nächstdem Gerste; weniger wichtig sind Mais, Reis und Hirsearten. Die verschiedenen Höhenlagen bedingen anselinliche Unterschiede der Erntezeit. Im Ghor erntet man die Gerste Ende April, den Weizen Mitte Mai, auf dem Hochlande anfangs und Mitte Juni. Der Anbau von Bohnen, Kürbisen, Gurken, vor allem auch von Zwiebeln und Melonen, sowie von Gemüsen ist örtlich sehr wichtig. Die noch heute in großen Mengen auf der Trümmer- stätte von Askalon gebauten Zwiebeln, ascaloniae der Kreuzfahrer, ^chalottes, Schalotten haben davon ihren Namen. Von Handels- gewächsen eignet sich das Land vorzüglich für Baumwolle, Sesam und Tabak. Die Tierwelt Palästinas ist im allgemeinen dem Klima und der Pflanzenwelt angepaßt. Sie ist aber nicht gerade arm zu — 132 — nennen und bietet besondere Anziehung dadurch, daß die Fisch- fauna des Jordan und des Tiberiassees große Übereinstimmung mit derjenigen Afrikas, besonders des Nils hat. Selbst das auch im Altertume erwähnte Krokodil kommt noch heute im Nähr ez Zerka südlich vom Karmel vor, wie die Erlegung eines solchen von 3 m Länge im Jahre 1877 durch deutsche Kolonisten be- weist. Von Raubtieren dürfte der Bär am Hermon noch nicht ganz ausgerottet sein, was vom Löwen seit dem 12. Jahrhundert gilt. Der Panther ist in den Dickichten am Jordan nicht selten, der Wolf und der Fuchs finden sich allenthalben, der Schakal ist überaus häufig, so daß man auch heute ihrer leicht dreihundert fangen könnte, wie einst Simson. Auch die gestreifte Hyäne ist nicht selten. Von großen Jagdtieren ist das Wildschwein in den Jordandickichten häufig, da es nur als Verwüster der Saaten ver- folgt wird. Der Steinbock bewohnt noch die Felswüste Juda, Antilopen sind noch durch drei Arten, besonders im Süden und Osten vertreten, der Rothirsch und der Damhirsch sollen noch in Galiläa, das Reh am Karmel vorkommen. Der Klippschliefer (Hyrax syriacus), ein Vielhufer, der in den Felsklüften um das Tote Meer haust, das Kaninchen der Bibel, gehört zu den äthio- pischen Beziehungen, die sich auch in der Vogelfauna des Ghor (Sonnenvögel) ausprägen. Der Grundfarbe dieses Wohnraumes angepaßt sind alle Tiere hier rotbraun gefärbt: Füchse, Igel, Rebhühner, Lerchen. Außerordentlich zahlreich, wie schon im Altertume, kommt die Turteltaube in den Dickichten am Jordan vor, ebenso die Felstaube, wenn auch nur im Sommer. In den Felslöchem der Steilwände der Erosionstäler nisten sie massen- haft. Eines derselben nordwestlich von Tiberias heißt danach geradezu das Taubental. Sie wird in der Bibel sehr häufig erwähnt und durfte allein von allen Vögeln auf dem Altare ge- opfert werden. Als noch wertvolleres Federwild reihen wir das rotfüßige Rebhuhn an. Geier, Adler, Falken sind außerordent- lich häufig, ebenso der Storch und die Schwalbe. Wasservögel beherbergen die Dickichte am Jordan, am Tiberiassee und be- sonders am Hulesee in Menge. Der Strauß kommt im Ostjordan- lande noch zuweilen vor, der Wildesel jedoch nur noch in der nordarabischen Steppe. Den Boden durchwühlende Springmäuse und andere Nager kennzeichnen die Grenzen gegen die umgeben- den Wüsten; diese sind auch die Brutstätten der das Land von — ^33 — Zeit zu Zeit verwüstenden Heuschrecken. Aber wie in Arabien werden sie auch hier in Menge gesammelt, auf Platten leicht geröstet, in der Sonne vollends getrocknet und mit etwas Salz in Säcken aufbewahrt, um dann zur Stillung des Hungers zu dienen. Giftige Skorpione sind so häufig, daß sie im Spätsommer zum Teil die Häuser unbewohnbar machen. Von Haustieren ist das einhöckrige Kamel erst vom Men- schen eingeführt und allgemein verbreitet, aber doch mehr in den Grenzlandschaften. Das Pferd ist nicht häufig, wohl aber der Esel, der mit Recht hoch geschätzt wird. Dem Rind sagt die trockene Pflanzennahrung Palästinas nur wenig zu. Es wird zwar allenthalben gehalten, aber in geringer Zahl, und spielt, klein und struppig, als Milch- und Fleischtier eine untergeordnete Rolle. Nur in der südwestlichen Küstenebene kann noch von Rinder- zucht gesprochen werden. Sehr kleine Ochsen ziehen den Pflug, nicht selten auch ein Kamel und Esel nebeneinander. Der Büffel ist im Ghor nicht selten. Das wichtigste Haustier, sozusagen das Charaktertier Palästinas, ist wie in den ältesten Zeiten, so noch heute das (Fettschwanz-) Schaf, dem die vorhandene Pflan- zennahrung am besten zusagt. Es liefert Milch, Käse, Fleisch und Wolle. Es ist unmöglich, ein Landschaftsbild in Palästina aufzunehmen, ohne Schafe darauf zu haben. In der Bibel wird es 500 mal erwähnt, das Rind selten. In den ältesten Zeiten war die Zahl der Schafe ungeheuer, später mit wachsendem An- baue immer geringer. Selbst wir sprechen noch mit der Bibel vom Opferlamm. Nächstdem die Ziege, namentlich die schwarze, deren Haar die Decken für die Zelte der Beduinen liefert. Auch sie war im alten Palästina häufig. Der Dichter des Hohen Liedes vergleicht das reiche, schwarze Haar, das der Geliebten um die Schulter wallt, einer Herde Ziegen an den lichten Bergen von Gilead. Das Huhn fehlt im Alten Testament noch als Haustier, wird aber im Neuen erwähnt und heute in Menge gehalten. Bevölkerung. Die Bevölkerung Palästinas ist, wie die Lage des Landes und die reiche Geschichte erwarten läßt, eine ethnisch außer- ordentlich gemischte, wenn auch das Arabische, von der tür- kischen Amtssprache abgesehen, die allein herrschende Sprache ist. Den ältesten Bestandteil bildet gewiß die Landbevölkerung, — 134 — die man auch hier gewönlich als Fellachen bezeichnet und von denen man die am buntesten gemischte Stadtbevölkerung und die erst später eingewanderten Beduinen unterscheiden muß. So- viel die Herren und selbst die Sprache gewechselt hat, so dürfte die Landbevölkerung im wesentlichen als aus Nachkommen der vorisraelitschen, ursprünglich hamitischen, aber schon vor der Ein- wanderung der Israeliten wenigstens sprachlich semitisierten Ur- bevölkerung, der Kanaaniter, bestehend anzusehen sein. Sie vermochten sich, von der Landesnatur, wie wir schon sahen, be- günstigt, zäh am Boden haftend, als Ackerbauer auch den Er- oberen wertvoll, unter allen Überflutungen zu behaupten, die ja auch, soweit die Eindringlinge im Lande blieben, meist nicht kopfreich waren. Auch die Zähigkeit, mit welcher sich die alten Ortsnamen erhielten, bestätigt das. Die Bibel selbst bezeugt, daß viele Kanaaniter zwischen den eingewanderten Israeliten sitzen blieben. Sie waren als altansässig den zu Nomaden gewordenen Israeliten im Landbau und Gewerbe überlegen. Die Amoniter im nördlichen Ostjordanlande, die Jebusiter von Jerusalem, das unter ihnen schon eine wichtige Siedelung war, gehörten zu ihnen. Die Sprache der Kanaaniter war dem Hebräischen verwandt, wie das Phönikische von diesem nur mundartlich verschieden war. Den Israeliten verwandt waren die Edomiter im Gebirge Seir und im Wadi Arabah, die Moabiter, die Ammoniter nördlich von ihnen. In den Israeliten gingen schließlich nach jahrhunderte- langen Kämpfen noch die Philister auf, ursprünglich ihnen ganz fremd, zunächst auch aus Ägypten, weiterhin vielleicht aus Kreta eingewandert: Palischtim, die Eingewanderten. Als Cyrus 538 v. Chr. den Israeliten die Heimkehr aus der babylonischen Gefangen- schaft gestattete, kehrten fast nur Angehörige des Reiches Juda heim. Es blieben daher viele Fremde im Lande. In den Sitten, Gebräuchen und religiösen Vorstellungen der heutigen Fellachen ist noch viel uralt Heidnisches erhalten. Fetzenbäume, als welche besonders Eichen dienen, spielen bei ihnen eine große Rolle. Zum Dank für die Befreiung von Krank- heit bzw. zur Übertragung aller Krankheit und alles Übels von sich auf den Baum knüpft man an denselben einen Fetzen seines Gewandes. Ebenso werden noch heute Felskuppen verehrt, nur dem Islam angepaßt, indem ihnen kleine, weiße Kuppelbauten aufgesetzt sind, welche Gräber von Häuptlingen oder Propheten — 135 — sein sollen: die Nebi, die alten Ortsgötter. Diese Makamstationen sind die uralten Makam, gegen welche die Propheten eiferten. Wie vor 3000 Jahren opfert man noch Lämmer vor diesen Kup- pehi. Auch von den Dolmen, deren Errichtung man den Kana- anitem zuschreibt, haben sich im Ostjordanlande, besonders in Moab noch viele erhalten, die noch heute von den Arabern als Altäre angesehen werden. Die Nebi gelten für so heilig, daß selbst die nomadischen Araber im Schutze derselben ihre Vor- räte niederlegen. Dem Schutze und der Gunst des Orts-Makam — Makam bedeutet eigentlich Ort, d. h. heiliger Ort — , wird mehr Wert zugeschrieben wie Allah und Mohammed selbst. Viele Dörfer haben gar keine Moschee und mancher Fellache betritt sein Leben lang keine solche. Diese Fellachen sind eine körper- lich gut beanlagte Rasse. Namentlich sieht man unter den Fellachenmädchen oft Schönheiten. Freilich haben sie sonst alle Fehler lange geknechtet gewesener Völker. Im 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert fand eine große christliche Einwanderung aus den von den Barbaren venvüsteten Ländern des römischen Reiches statt, namentlich aus Nordafrika und Italien, da damals Palästina der friedlichste, gesichertste Winkel des ganzen Römerreiches war. Diese Einwanderung trug außerordentlich zum Aufblühen und zur Romanisierung des Lan- des bei. Geknickt wurde diese Blüte dadurch, daß auch hier endlich die allgemeine Schwäche des Reiches zutage trat und der uralte Kampf zwischen der Wüste und dem Kulturlande wieder einmal zugunsten der ersteren entschieden wurde. Der Einbruch der eben zum Islam bekehrten Araber hat Palästina aufs gründlichste und bis auf den heutigen Tag beeinflußt, den Islam und die arabische Sprache zur Herrschaft und rein semi- tische Volksteile ins Land gebracht. Denn reine Semiten sind die zeltbewohnenden, als halbseßhaft zu bezeichnenden, meist auch etwas Ackerbau treibenden Beduinen, die infolge mangeln- den Schutzes der Grenzen in neuerer Zeit ähnlich, wenn auch nicht so zahlreich wie im 7. Jahrhundert, in das Ostjordanland, ja selbst in das Ghor, von Süden her gegen Judäa und über die Schwelle von Zerin in das Westjordanland eingedrungen sind. Das Ghor ist in Galiläa ganz von arabischen Nomaden be- setzt und im südlichen Galiläa, in der Ebene Jesreel und in einigen umliegenden Dörfern ist die durchaus mohammedanische — 136 — Bevölkerung rein arabisch. Sie wissen, daß sie von jenseits des Jordan gekommen sind. Auch bei diesen Arabern findet sich viel uralt Heidnisches, z. B. Mondverehrung. Die 60000 Be- wohner von Zentralgaliläa gehören vielen Sekten an: Moham- medaner, Christen, Juden, Drusen und einige Metawilegeraeinden. Solche gibt es auch auf dem Karmel. Die jüdische Bevölkerung ist erst seit dem Mittelalter dort wieder eingewandert. Außer den Juden sind aber alle Bewohner reine Fellachen, die vom Landbau leben und die Fellachenmundart sprechen. Aus den allerverschiedensten Bestandteilen ist aber die Be- völkerung der Städte zusammengesetzt. In ihr findet die wechsel- volle Geschichte des Landes ihren Ausdruck. Es möge nur an die griechischen und römischen Militärkolonien erinnert werden, die ja auch aus den verschiedensten ethnischen Elementen be- standen. Durch sie vor allem wurde die griechische Sprache, wenigstens bei den Gebildeten, die herrschende, wie das Neue Testament zeigt. Das Volk sprach Aramäisch. Dann kam die arabische Überflutung, die Kreuzzüge, die eine außerordentliche Blutmischung und Zufuhr neuer ethnischer Bestandteile bedingt haben, die türkische Eroberung. Noch bunter gestaltet sich das Bild in allerneuester Zeit infolge des erleichterten Verkehrs und der geringeren Widerstandsfähigkeit der Türkei. Und bereits sind es nicht bloß die Städte, wenn auch sie vorzugsweise, welche aus religiösen Gründen zuwandernde Angehörige des jüdischen und der allerverschiedensten christlichen Völker aufnehmen, von den Abessiniern bis zu den Nordamerikanern, nein, es haben sich jüdische und deutsche Acker- und Weinbauer im Lande niedergelassen, letztere meist Angehörige der sich vorzugsweise aus Schwaben ergänzenden christlich-protestantischen Sekte der Templer, biedere, frommgläubige, fleißige und betriebsame Leute. Ihre erste Niederlassung wurde 1869 bei Haifa begründet, heute die größte und stattlichste von allen mit 600 Einwohnern. Andere folgten dieser, so eine auch 1869 in Jaffa, 1872 die große Ackerbau- und Weinbaukolonie Sarona bei Jaffa, dann 1883 die Niederlassung Rephaim bei Jerusalem. Dazu ist ganz neuerdings die Niederlassung Wilhelma in der Ebene östlich von Jaffa ge- kommen. Doch besteht in allen ein Teil der Bevölkerung aus sonstigen deutschen Protestanten, zusammen etwa 1500 Köpfe. Dieselben haben einen sehr wohltätigen Einfluß auf die Ein- — 137 — geborenen ausgeübt, namentlich in wirtschaftlicher Hinsicht. Daß heute in Palästina Wagen verwendet werden, wo sie zu brauchen sind, ist ihr Verdienst. Freilich haben sie in der Landesnatur und in der türkischen Verwaltung begründete große Schwierig- keiten zu überwinden gehabt. Aber Handel und Verkehr ist zum großen Teil in deutschen Händen. Deutsche Gasthäuser und Kaufläden mehren sich und das Deutsche beginnt mit dem Französischen immer erfolgreicher in Wettbewerb zu treten. Frankreich hat nur Kirchen und Ordensniederlassungen geboten, aber sein altgeschichtlicher Einfluß ist, wie in ganz Syrien, noch sehr groß. Auch erzielt die deutsche protestantische Mission immer größere Erfolge unter den Eingeborenen. In den beiden Waisenhäusern werden loo — 200 Knaben und Mädchen deutsch- protestantisch erzogen. Neuerdings haben sich auch große Ge- sellschaften zur Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern gebildet, jüdische Ackerbauschulen und jüdische landwirtschaft- liche Niederlassungen sind an verschiedenen Punkten gegründet worden. Erfolge sind freilich bisher noch nicht zu verzeichnen, gewiß zum Teil weil die Zeit noch zu kurz ist. Die jüdischen Einwanderer lassen sich auch hier am liebsten in den Städten nieder, vor allem in Jerusalem, und leben fast auschließlich von den Unterstützungen, die sie von ihren Volksgenossen in Europa erhalten. Bekannt sind die sogenannten zionistischen Bestre- bungen, welche Massenrückkehr der Juden nach Palästina be- zwecken. Ältere jüdische Gemeinden bestehen, außer in Jeru- salem, namentlich in Tiberias, das nach Jerusalems Zerstörung Hauptsitz der Juden in Palästina war, und in Safed, das seit dem 16. Jahrhundert an Stelle von Tiberias ein Hauptsitz jüdischer Gelehrsamkeit war. Viele Juden wandern auch im Alter nach Palästina ein, um im Heiligen Lande zu sterben. Die Zahl der Juden in Palästina wird jetzt auf 65 000 geschätzt. Abgesehen von den russischen Juden sendet Rußland zwar keine Ansiedler ins Land, wohl aber jährlich 30 000 Pilger. Dazu kommen nun schon seit längerer Zeit aus dem Liba- non eingewanderte Drusen im Hauran, im nordöstlichen Dscholan gegen den Hermon hin und in zwei Dörfern des Karmel, die sich allein von einer großen Zahl solcher zu erhalten vermocht haben, die hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden. Ferner sind in Belka, Adschlun und Dscholan Tscherkessen angesiedelt — 138 - worden, die ihre neuen Wohnsitze in Bulgarien nach der Abglie- derung Bulgariens von der Türkei wieder hatten räumen müssen, Sie haben eine ganze Anzahl Niederlassungen gegründet, die im Aufblühen begriffen erscheinen, namentlich den Hauptort El Ku- netra und zwölf Dörfer in der Umgebung, Sie sind die rechten Leute, um die räuberischen Beduinen im Schach zu halten. Selbst ein kleiner Turkmenenstamra wohnt im Dcholan. Bei Banijas gibt es auch drei Dörfer der syrischen Sekte der Ansai- rier, in Galiläa, wie schon erwähnt, Metawile. Die Zahl der Türken, fast auschließlich Beamte und Soldaten, ist gering. Vorherrschend ist natürlich durchaus der Islam, aber es haben sich viele alte christliche Dörfer und Gruppen solcher, meist am besseren Aussehen und besserem Anbau des Landes kenntlich, erhalten. Die Sekte der Samaritaner ist durch Inzucht im Aussterben und zählt nur wenig über loo Köpfe. Wirtschaftliche Verhältnisse, Die Bevölkerung von Palästina ist in erster Linie eine land- bauende. Daneben treibt sie Viehzucht, wenige diese allein. Beide aber in urtümlicher, wenig lohnender Weise, Dresch- schlitten, von Ochsen gezogen, unten mit harten Basaltsteinen als Zähnen, sind noch meist in Gebrauch. Sie zerschneiden das Stroh zu Häcksel. Nur in flachen Mulden und an sanften Hängen kann gepflügt werden, sonst wird der Boden mit der Hacke be- arbeitet. Die bekannte Art der türkischen Verwaltung und Be- steuerung, der Mangel an Schutz für Person und Eigentum, wie an Verkehrswegen sind natürlich einem Aufschwünge ungünstig. Wenn der arme Bauer von einem Ölbaume mehr Steuern zahlen muß, als er einbringt, haut er ihn lieber um. Bei aller Willkür und allem Steuerdruck geschieht nichts, um den Absatz der Er- zeugnisse zu erleichtern und damit den Anbau zu heben. Doch sieht man allenthalben, namentlich in der Umgebung der Städte, den Anbau des Bodens fortschreiten. Baumzucht, wenn wir die Rebe einschließen, steht obenan. Jaff'a ist auf mehrere Kilometer im Umkreise von wohlgepflegten Apfelsinenhainen umgeben, die die sogenannten Jerusalemapfelsinen, eine dickschalige, große, an Gestalt mehr der Limone ähnelnde Art liefern. In Jerusalem selbst kommt die Apfelsine nur unter winterlichem Schutze fort, Wassermangel schlösse ihren Anbau auch aus. Olivenhaine kom- — 139 — men an allen Punkten des Landes, selbst im Ostjordanlande vor, die größten im Südwesten in der Gegend von Gaza. Ägypten ist seit den ältesten Zeiten das nächste und wichtigste Absatz- gebiet für Öl und Wein aus Palästina gewesen. Auch Feigen- zucht ist nicht unbedeutend. Mehr und mehr dehnt sich auch der Weinbau wieder aus, für welchen sich das Land ausgezeichnet eignet. Schon im Altertume spielte neben dem Öl- und Feigen- baume die Rebe die erste Stelle, ihrem Anbau galten in erster Linie die heute meist nur noch in Spuren erhaltenen Terrassie- rungen, die in ihrer ungeheuren Ausdehnung eine großartige Kultur- und Arbeitsleistung darstellen. Um die friedliche Wohl- fahrt des Volkes zu veranschaulichen, braucht die Bibel mehrfach die Wendung: ein jeder werde unter seinem Weinstocke und Feigenbaume wohnen. Um Haifa, Jaffa, Jerusalem, Es Salt und an anderen Punkten wird jetzt Weinbau im großen getrieben, am meisten und von altersher am Hebron. Stundenweit ist diese Stadt hügelauf, hügelab von meist ummauerten Weinpflanzungen mit Wachttürmen darin umgeben, sorgsam sind die Terrassen erhalten und die Steine zu Einfriedigungen gesammelt. Die meist riesigen Trauben werden sowohl frisch genossen, wie zu Sirup und Wein verarbeitet, namentlich aber auch getrocknet. Der Karmel ist von den deutschen Ansiedlern in Haifa in großer Ausdehnung terrassiert und mit Reben bepflanzt worden. Wie wichtig die Baumzucht ist, zeigt schon der Umstand, daß sie allein zwei Drittel der Ausfuhr liefert, trotzdem die ihr gewidmete Fläche klein ist. Die Baumpflanzungen gleichen mehr Oasen und sind in Galiläa und Samaria am häufigsten. Doch hat der Fleiß der christlichen Bewohner auch in dem felsigen Judäa die Umgebung von Bethlehem wie von Hebron in blühende Gärten venvandelt. So mag einst das ganze Land ausgesehen haben. Der Getreidebau, obwohl auch er mehr als den Bedarf der Bewohner hervorbringt, tritt neben Baumzucht etwas zurück, ebenso der Anbau von Sesam, Tabak und Baumwolle. Der Weizen von Palästina, namentlich die harte, glasig durchsichtige Art, die der vulkanische Boden des Hauran ohne jede Düngung hervorbringt, wird hoch geschätzt. Der Ertrag der Felder ist bei der Art der Behandlung trotz noch immer vorhandener natür- licher Fruchtbarkeit ein geringer, im Mittel etwa das 1 6 fache. — 140 — im Hauran, abgesehen von Mißernten, das 60 — 100 fache. Auch die dem Ackerbau überhaupt gewidmete Fläche ist nur ein Bruch- teil des anbaufähigen Landes. Derselbe wird im ganzen Lande durchaus ohne künstliche Berieselung bloß mit Hilfe der Winter- regen betrieben, doch hat man vielfach, besonders in dem regen- armen Judäa, die Seiten der Täler mit Querdämmen versehen, hinter denen die gute Erde aufgefangen und eine gründliche Durchfeuchtung des mit Getreide zu bestellenden Bodens er- zielt wird. Die Viehzucht wird ohne Ställe und Stallfütterung, ohne künstliche Wiesen lediglich mit Hilfe des natürlichen Weidelandes betrieben. Zur Entwicklung der Gewerbetätigkeit fehlen, wie wir sahen, im Lande selbst die Bedingungen fast durchaus. Immer- hin sind auch heute noch kleine Ansätze zu einer gewissen, selbstverständhch bodenständigen Gewerbetätigkeit vorhanden. So wird an mehreren Orten, welche bedeutende Olivenzucht besitzen, wie in Nabulus, Gaza, Jaffa das Olivenöl zu Seife verarbeitet. Die Salzpflanzen der Steppe des Ostjordanlandes liefern von altersher dazu die Soda. Der Müllerei gedachten wir schon. Doch herrschen durchaus Handmühlen für jeden Haushalt vor. Hebron verfertigt eigenartige Glaszierate, besonders Glasringe als Armbänder und Lampen, irdenes Geschirr, Lederschläuche, auch noch grobe Wollstoffe. Teppichweberei kommt noch vielfach vor. In Bethlehem nährt sich ein bedeutender Teil der Bevölke- rung von der Anfertigung von Andenken aus dem Heiligen Lande aus Olivenholz, Perlmutterschalen u. dgl. Rascheja am Hermon ist durch seine Töpfereien berühmt, deren Erzeugnisse trotz der felsigen Wege auf Eseln und Maultieren durch ganz Syrien ver- trieben werden. Daß ein großer Teil der Bevölkerung des Landes selbst nichts hervorbringt, sondern von dem Gelde lebt, welches Christen und Juden aus der ganzen Welt zu ihrem Unterhalte beisteuern, wurde schon angedeutet. Eine immer reicher fließende, überaus bequeme Erwerbsquelle bilden auch die Pilger. Bei dem Dar- niederliegen aller Erwerbszweige der überaus dünn gesäeten Be- völkerung kann naturgemäß die Hervorbringung von Waren (Roh- stoffen) zur Ausfuhr, wie die Kaufkraft für die Erzeugnisse europäischen Gewerbefleißes, demnach auch der Handel nur — 141 — gering sein. Die Summe, um welche es sich bei der Aus- und Einfuhr handelt, ist sehr gering, doch ist ein stetiger, wenn auch langsamer Fortschritt bemerkbar, der selbstverständlich von außen her bewirkt ist. Die Einfuhr findet vorzugsweise über Jaffa, die Ausfuhr über Jaffa, Haifa und 'Akka statt. Der Mangel an Wegen und Häfen war bisher und ist noch heute der Entwick- lung des Landes nachteilig. Hafenbauten sind wenigstens in Jaffa und Haifa unerläßlich^ wie die Römer Kunsthäfen in Cäsa- rea, die Kreuzfahrer in 'Akka und Atlit hergestellt hatten. Bei den zu überwindenden Schwierigkeiten würden freilich die Kosten so hohe sein, daß auf lange eine Verzinsung der angelegten Summen nicht zu hoffen wäre. Fahrstraßen verbinden heute Jaffa mit Jerusalem und durch die Ebene mit Haifa. Jerusalem ist auch mit Hebron durch Fahrstraße verbunden, Haifa und 'Akka mit Nazareth. Der 1892 fertiggestellten Eisenbahn Jaffa- Jerusalem folgte 1895 die Linie Damaskus-El Muzerib, Seitdem ist die von Haifa ausgehende Linie nach Damaskus bis zum Jordan, die türkische nach Arabien bis östlich vom Toten Meere vollendet worden. Der ganze heutige Zustand des Landes findet einen scharfen Ausdruck in der Volksdichte desselben. Wie groß dieselbe ist, kann nur geschätzt werden. Jedenfalls ist sie sehr gering, da recht gut bewohnbare Gebiete, wie z. B. der Karmel, heute fast menschenleer sind. Doch ist durch die starke Zuwanderung die Bevölkerungszahl beträchtlich gestiegen. Einen guten Anhalt für eine Schätzung hat uns die Feststellung einer Volksdichte von 21 — 22 Köpfen auf i qkm für die Landschaft Dscholan gegeben. Für Galiläa, dessen Volksdichte aber kaum größer sein dürfte als die von Judäa, wegen Jerusalem, Hebron, Gaza, hat neuer- dings Schwöbel auf Grund einer sorgsamen Untersuchung eine Volksdichte von 28 Köpfen angenommen. Ich glaube daher für das ganze Land eine mittlere Volksdichte von 25 Köpfen auf I qkm annehmen zu sollen, was bei rund 30000 qkm eine Ge- samtbevölkerung von 750000 Köpfen geben würde. Im all- gemeinen ist die Volksdichte an der Regenseite, der Westseite des West- wie des Ostjordanlandes am größten und nimmt sie mit der Höhe zu. Namentlich der tiefstgelegene Landstreifen des Ghor zeigt auch die größte Auflockerung der Bevölkerung. Es verteilt sich die Bevölkerung Palästinas entsprechend dem — 142 — überwiegen der ländlichen Bevölkerung über meist kleine Siede- lungen^ Dörfer, höchstens Landstädtchen in unserem Sinne. Klein- siedelungen herrschen durchaus vor, wenn auch heute schon weniger wie vor kurzem. In Galiläa wohnten in den siebziger Jahren nur 30 Prozent der Bevölkerung in Städten von mehr als 2000 Einwohnern. Großstädte sind naturgemäß nicht vor- handen, selbst Jerusalem mit seinen etwa 60000 Einwohnern kann erst seit kurzem als eine Mittelstadt bezeichnet werden. Bei allen anderen Städten überwiegt die ländliche Bevölkerung. Es fehlt überhaupt eine Individualisierung der Siedelungen etwa als Sitze des Handels, der Gewerbetätigkeit, als Badeorte u. dgl. fast ganz. Bei einzelnen tritt ihre geschichtliche Bedeutung auch in der Gegenwart schärfer hervor, indem diese sie, wie wir das ganz besonders bei Jerusalem sehen, zum Ziele von Pilgerfahrten machte, und Anlagen zur Aufnahme von Pilgern ihnen ein be- sonderes Gepräge verleihen. Das Fremdengewerbe beginnt bei ihnen ähnlich, wenn auch in bescheidenerem Maße und in anderen Formen wie etwa in der Schweiz eine Rolle zu spielen. Die Bedingtheit der wichtigsten Siedelungen kennzeichneten wir bereits. Die meisten sind an Quellen, deren Vielheit in Galiläa auch Vielheit der Siedelungen bedingt, im Wüstenlande an Brunnen gebunden, wenige an rinnendes Wasser, schon weil dies, wo vorhanden, meist in engen Schluchten fließt. Nicht wenige aber auch lediglich an Zisternen, welche Seßhaftigkeit zur Aus- beutung des fruchtbaren Landes oft allein, namentlich bei Höhen- lage, ermöglichten. Selbst in dem quellenreichen Galiläa sind noch 22^ Iq der Siedelungen an Zisternen gebunden. Besondere Hervorhebung verdient, daß die Seen im grellsten Gegensatze etwa zu mitteleuropäischen Verhältnissen in keiner Periode der Geschichte eine Verdichtung der Bevölkerung, keine Entwick- lung größerer Siedelungen herbeigeführt haben. Tiberias ist die einzige Ausnahme von dieser Regel. Hohe freie Lage, sei es auf vereinzelten Höhen, auf Bergspornen zwischen Fluß- tälern, wohl auch an freien Hängen, luftig, gesund und zugleich natürlich geschützt, kennzeichnet sehr viele Siedelungen Palästinas. Allenthalben strebt hier die Bevölkerung den Höhen zu, die Siede- lungsdichte nimmt allgemein mit der Höhe zu. In Galiläa wohnt die Hälfte der Bevölkerung auf 36°/^ der Fläche oberhalb der Isohypse von 300 m. Mit den meist kleinen weißgetünchten — 143 — Steinwürfeln der Häuser mit ihren flachen oder Kuppeldächern, eines über das andere getürmt, gleichsam die Höhe erklimmend, die ein alter Turm, das Haus des Schechs oder eine Moschee mit hohem Minareh krönt, mit hier und da zwischen den Häu- sern stolz aufragenden Dattelpalmen oder über die Mauern hängen- den Fruchtbäumen ist der Anblick dieser Ortschaften meist ein sehr malerischer. Im Inneren freilich wird dieser Eindruck durch die engen, von Schmutz und Unrat gefüllten Gassen rasch ver- wischt, die oft teilweise überwölbt oder mit mehr oder weniger schadhaften Matten überspannt sind und auf die sich die nach außen, meist fensterlosen Häuser nur mit dunklen höhlenähnlichen Hauseingängen öffnen. Die Höhle scheint auch vielfach das Vorbild dieser Häuser gewesen zu sein. Selten sind dieselben in tadellosem baulichen Zustande, halb oder ganz in Trümmern liegende findet man überall. Manche Dörfer, die mit ihren niedrigen Häusern an die Felswände geklebt sind, denen der Baustein entnommen ist, sind von fem kaum zu erkennen. Tal- und Kesselsiedelungen sind aus gesundheitlichen, wie aus Sicher- heitsgründen nicht häufig. Nur im nördlichen Ostjordanlande, besonders in En Nukra finden sich Siedelungen häufig in freier Ebene. Diese dürften aber wohl meist erst in der Zeit der höch- sten Sicherheit, die das römische Reich bot, entstanden sein, wie sie dann auch zuerst dem Ansturm der Wüste erlagen. Manche Siedelungen Hegen oder lagen auch auf sogenannten Teils, nied- rigen, vereinzelt aus der Ebene aufsteigenden Hügeln, die zuweilen natürlichen, häufiger aber künstlichen Ursprungs, namentlich durch übereinander gehäufte Schuttmassen von Lehmhäusern sind. Wie fast überall im Orient zerfällt jede etwas größere Siedelung in ganz gesonderte Viertel, wenn dieselben auch selten, wie in Marokko allgemein, durch Mauern und Tore voneinander ge- sondert sind. Jedes Viertel ist von Angehörigen einer anderen Religion oder Konfession bewohnt, die sich gegeneinander ab-, um so enger aber zu gegenseitigem Schutze zusammenschließen. Auch heute noch ist dieser unerläßlich, da ja jeden Augenblick reli- giöser Fanatismus und Unkultur zu blutigen Metzeleien, mit Vor- liebe der Christen untereinander führt. Auch die deutschen Templer bilden geschlossene Ansiedelungen für sich abseits der- jenigen der Eingeborenen. Einige wenige Chans und Mühlen an dauernd rinnende Bäche meist in engen Schluchten gebunden, — 144 — aber auch nur in Galiläa und im Ostjordanlande machen eine Ausnahme von der Regel des geschlossenen Wohnens. Die meisten etwas ansehnlicheren Siedelungen Palästinas dürften uralt sein. Zahllose Ruinenstätten, deren Schwöbel allein in Galiläa 460 zählt, neben 32g vorhandenen Siedelungen, zeugen davon, daß in der Blütezeit des Landes dasselbe viel dichter mit Siedelungen be- deckt war, von denen sich im allgemeinen wohl nur die lebens- kräftigsten erhalten haben und nur durch wenige Neugründungen ergänzt worden sind. Die Siedelungsdichte ist heute eine weit geringere als in der Blütezeit, jedenfalls auch die Größe der Siedelungen. In Judäa lassen sich nach Volksdichte und Siedelungen drei parallele Landstreifen unterscheiden, die ähnlich noch im Mittel- lande Samaria vorhanden sind. Im Osten die sich von Norden nach Süden von 15 auf 25 km verbreiternde Felswüste Juda, die, abgesehen von dem Kloster Mar Saba, heute völlig menschen- leer ist, und nur im Winter von Beduinen besucht wird. In der Mitte das sich ebenfalls von Norden nach Süden von 30 auf 35 km verbreiternde Hochland, ihm gegen das Meer hin vor- gelagert das Küstenland, Hügelland und Ebene 20 — 40 km breit. Die südliche Erstreckung Judäas und damit Palästinas überhaupt rechnet man gewöhnlich bis Beerseba, 40 km SSW von Hebron. Die Grenze seßhaften Wohnens war aber in der besten Zeit noch viel weiter nach Süden gerückt, während sie heute schon 15 km südlich von Hebron liegt. In der Niederung reicht sie, abgesehen von einem ganz schmalen, wasserreichen Streifen hinter den Küstendünen, der erst 25 km südlich von Gaza endigt, nicht ein- mal so weit. Die in der Bibel so viel erwähnten Brunnen von Beerseba, um die sich der Ort gruppierte, liegen im Bette des Wadi Gaza, der seinen Ursprung auf dem Hochlande bei Hebron hat, nach dem er dort auch genannt wird. Wenn wir von Gaza (c. 35000 E.) und Jaffa (c. 45000 E.) und den weniger be- deutenden Randstädten am Fuße des Hochlandes Er Ramie und Ludd absehen, liegen alle wichtigen Siedelungen, die wichtigsten in der ganzen Geschichte Palästinas, auf diesem schmalen, im Mittel etwa 800 m hohen Hochlandstreifen von Judäa. So das bereits geschilderte Jerusalem, ferner Hebron (arabisch El Chalil, d. h. die Stadt Abrahams, des Freundes Gottes), heute auch als nahe der Grenze des seßhaft bewohnten Landes wichtig, an den — 145 — Hängen eines Tales, das zwei große Sammelteiche enthält, eine heilige Stadt des Islam, welche die Gräber Abrahams, Isaaks und Jakobs enthält, wo infolgedessen die Bevölkerung besonders fanatisch und nur einer beschränkten Zahl von Juden der Aufent- halt gestattet ist. Es mag i8 — i g ooo Einwohner haben. Die Lage von Bethlehem, Christi und König Davids Geburtsort, ähnelt der von Jerusalem. Es hat heute etwa 8000 meist christliche Einwohner. Die Geburtskirche Christi ist ihr größtes Heiligtum. In Samaria liegen die Verhältnisse im allgemeinen ähnlich wie in Judäa. Auch dort ist der dem Ghor benachbarte Land- gürtel der ungünstigste, auf dem Hochlande selbst aber begünstigt größerer Quellenreichtum und das Vorkommen von kleinen, fruchtbaren Becken Anbau und Volksverdichtung. Das wichtigste derselben ist die INIachnaebene, an deren Nordwestende, in einem sich nach Norwesten öffnenden Tale, 570 m hoch das alte Sichem liegt, in hellenistischer Zeit Neapolis genannt, davon heute Na- bulus. In quellen- und baumreicher Umgebung, reich an mur- melnden Wasserrinnen, die Hänge ringsum bis Ebal im Norden, bis Garizim im Süden terrassiert und bepflanzt, macht Nabulus einen außerordentlich lieblichen Eindruck, wenn es auch fast ganz von fanatischen Mohammedanern (25 000) bewohnt ist. An der Nordgrenze von Samaria liegt Dschenin ähnlich über dem südöstlichen Zipfel des Merdsch el 'Amir, daher nur 158 m über dem Meere, inmitten palmenreicher Gärten. Zwischen beiden, näher an Nabulus, ist das alte Samaria, das zur Zeit der Makka- bäer dieser mittleren Landschaft des Westjordanlandes seinen Namen gab, als Sebastije (nach Augustus Sebaste genannt) heute ein kleines, einen aus der Hochebene aufragenden terrassierten Hügel krönendes Dorf. Die Sekte der Samaritaner hat aber ihren Sitz in Nabulus. In dem etwa 4000 qkm großen Galiläa nimmt die am Ras en Nakura am Südende der Scala Tyriorum anhebende Küsten- ebene um die Bucht von Haifa nur 7 Prozent der Landschaft ein. Historisch weit wichtiger als das es heute überflügelnde Haifa ist 'Akka, das im Altertum auch vielfach zu Phönikien gerechnet wurde und erst später eine jüdische Niederlassung erhielt. Seine größte Bedeutung erlangte es während der Kreuzzüge als Seetor von Palästina in der Hand der Christen. Nur durch eine Tal- enge geschieden schließt sich die Binnenebene Jesreel an die Fischer, Mittelmeerbilder. 10 - — 146 — - Küstenebene an. Da die östliche Abdachung sehr schmal, aber auch nur dünn bevölkert ist, so gehört fast Dreiviertel von Gali- läa dem Hochlande an, welches aber einerseits in ein südwest- liches Nieder- und ein nordöstliches Obergaliläa geschieden wer- den kann. Aber auch ersteres erhebt sich ziemlich steil aus der Querverwerfung von Jesreel und weitet sich nach Norden zu dem flachen Becken El Battof aus. Obergaliläa, etwa 44% ^^^^ Land- schaft, erscheint als eine etwa 600 m hohe von Tälern durch- schnittene Tafel mit Erhebungen bis zu 1200 m. Sie ist deshalb der niederschlags- und noch waldreichste Teil von Palästina und war wohl auch immer einer der dichtestbesiedelten. Hier liegt auch heute der größte Ort Safed, 838 m, mit 30000 Einwohnern, in für Obergaliläa besonders charakteristischer Lage auf und um einen vulkanischen Kegel. Dieser natürlichen Festigkeit und seiner Eigenschaft als heilige Stadt verdankt Safed seine Be- deutung und sein Wachstum in neuester Zeit, keineswegs etwa einer günstigen Verkehrslage. Es ist aber auch die einzige Siedelung Obergaliläas von über 2000 Einwohner. Nicht so groß, aber auch rasch gewachsen, wohl wesentlich wegen seiner größeren geschichtlichen Bedeutung als heiliger Ort, die zahlreiche christliche Gründungen veranlaßt hat, ist der Hauptort von Nieder- galiläa Nazareth, 349 m, mit 10 000 Einwohnern, in wasserreicher Umgebung, aber abgeschlossener, verborgener Lage. Die kleinen Becken und Ebenen sind auch hier teils wegen der Versumpfung, teils wegen des mangelnden natürlichen Schutzes keineswegs heute die dichtestbevölkerten Gebiete. Doch wird sich das wohl wieder rasch ändern. Im allgemeinen nimmt die Volksdichte mit der Höhe zu und ist namentlich in der Gegenwart durch Zuwande- rung auch hier vorzugsweise in die größeren Siedelungen im Wachsen. Sie erreicht heute bereits an der Nordgrenze, wo kleine Siedelungen am dichtesten gesäet sind und schon die günstigeren Verhältnisse des Libanon einwirken, bis 50 Köpfe auf I qkm, in Niedergaliläa etwa 30. Im Ostjordanlande, dessen Volksdichte durchweg eine ge- ringere ist, wo alle Kultur wegen der Nähe der Wüste dauernd kräftigen Schutzes bedarf, hat selbst die meridionale Verkehrs- linie, so wichtig sie ist, keine größeren Siedelungen in der Gegen- wart hervorzubringen vermocht, weil sie aus bodenplastischen Gründen sich, außer an der Westseite des Haurangebirges, auf — 147 — der Grenze von Wüste und Kulturland hält. In der vorarabischen Blütezeit hatte hier allerdings der Verkehr mit reich lohnendem Anbau des Bodens im Bunde an der Westseite des Hauran- gebirges selbst Großstädte geschaffen. Alle etwas bedeutenderen Siedelungen liegen heute westlich der großen Pilgerstraße nahe dem Ghor in einem noch verhältnismäßig niederschlagsreichen Gürtel in bedeutender Meereshöhe, mehr durch Anbau des Bodens als durch Verkehr bedingt. So im Süden jenseits des Toten Meeres, aber nur 12 km von und 1400 m über demselben El Kerak (Kir Moab der Bibel), auf einer Anhöhe der Hochfläche, hoch über dem tief eingeschnittenen Tale des zum Toten Meere eilenden gleichnamigen Flusses, natürlich fest und einen der Karawanenwege nach Arabien und Ägypten beherrschend, daher eine zu allen Zeiten wichtige Festung, heute wieder mit etwa 20 bis 22000 Einwohnern. Es ist Sitz der türkischen Verwaltung für den Südosten und einer starken türkischen Besatzung. Gegen die meist niedrigen Häuser und Hütten der vorzugsweise von Ackerbau und Viehzucht lebenden Bewohner sticht die gewaltige Mauer und das noch massigere Kastell auf der Höhe, von dem der Blick bis zum Ölberge schweift, das im wesentlichen als ein Werk der Kreuzfahrer angesehen werden kann, merkwürdig ab. Große Zisternen überall in der Stadt suchen dieselbe von den Quellen im Tale unabhängig zu machen. Es-Salt, der Hauptort von El Belka, liegt ebenfalls 835 m hoch am Hange eines von einem alten Kastell gekrönten Berges, auch über einem wasserreichen, sich zum Ghor öffnenden Tale und nur 10 km von diesem. Es ist ebenfalls vorwiegend Ackerstadt. Stammt Es-Salt wohl erst aus christlicher Zeit, so liegt weiter nach Norden, schon in Ad- schlun, das heute kleine und unbedeutende Dscherasch (5 1 6 m), erst durch Tscherkessen wieder besiedelt, inmitten des weiten, noch von mächtigen Mauern umschlossenen Trümmerfeldes von Gerasa, das in den ersten christlichen Jahrhunderten eine Großstadt war. Etwas größer (4000 Einwohner) ist Derät, das sehr alt ist und als Knotenpunkt der Hedschaseisenbahn wohl einer neuen Blüte ent- gegengeht. An seinen antiken Ringmauern trägt noch jeder Stein einen vier Zoll hohen griechischen Buchstaben, das Steinmetzeichen. Verwaltungseinteilung. Die im allgemeinen noch traurige Gegenwart Palästinas be- 10* — 148 — ruht im wesentlichen auf seiner Zugehörigkeit zum türkischen Reiche. Den wichtigsten Teil des Landes bildet das selbständige Liwa El-Kuds (Jerusalem), das also unmittelbar unter der Regie- rung in Konstantinopel steht. Das Ostjordanland, in die Liwas des Hauran und Maän (El Kerak) eingeteilt, gehört zu dem Vilajet Sürtja (Syrien), dessen Hauptstadt Damaskus ist. Samaria und Galiläa gehören als Sandschaks Nabulus und 'Akka zu dem Vilajet Berut. Zukunft des Landes. Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die Zukunft von Palästina, so können wir die früher viel erörterte Frage, ob die Länder des Orients nicht infolge einer Klimaänderung für alle Zeiten zu der Verwahrlosung verurteilt seien, in welcher sie heute zum großen Teile daliegen, als dahin entschieden ansehen, daß die Landesnatur wohl durch die alte Kultur, eine lange Ge- schichte und den Unverstand der Menschen beeinflußt worden ist, daß aber von einer Klimaänderung hier keine Rede sein kann und daß diese Länder vollends mit den technischen Hilfs- mitteln der Gegenwart unter einer guten Verwaltung wieder zu einer Blüte gebracht werden können, die der glänzendsten Zeit des Altertums gleichkommen könnte. In Palästina läßt sich schon heute der türkischen Verwaltung zum Trotz unter dem sich immer gewaltiger aufdrängenden Kultureinflusse Europas überall eine aufsteigende Bewegung erkennen. Am auffälligsten tritt dieselbe naturgemäß in den Städten, allen voran in Jeru- salem, entgegen. Aber sie macht sich auch in den kleinen Land- städten, auf dem Lande und selbst im Ostjordanlande geltend. Es sind gewaltige Summen, welche die christlichen Bekenntnisse durch die Pilger, durch dauernde Niederlassungen der ver- schiedensten Art, durch die Eisenbahnbauten usw. jahraus jahrein dem Heiligen Lande zuwenden und mit denen sie dessen Wirt- schaftsleben befruchten. Von Tag zu Tag zieht das Land mehr Vorteil von seiner Eigenschaft als heiliges. So besitzt beispiels- weise das kleine Nazareth allein drei Hospitäler, sieben Klöster, zwölf Schulen europäischer Völker, einzelne auch zur Ausbildung von Handwerkern in arabischer Sprache. Besonders anziehend zu beobachten ist, wie heute selbst das am meisten verödete Ostjordanland wieder aufzuleben be- — 149 — ginnt. Der englische Reisende Cyrill Graham besuchte 1857 im südwestKchen Hauran Um-ed-Dschimal (Mutter der Kamele), eine Gründung der christlichen Ghassaniden und eine der am besten erhaltenen unter den zahlreichen Ruinenstädten des Landes. Mit ihren zahlreichen unversehrten, ganz aus Stein erbauten Häusern, mit ihren gepflasterten Straßen und viereckigen Plätzen, das Ganze noch von starken Ringmauern umschlossen, machte es, völlig menschenleer, den Eindruck einer verzauberten Stadt. Der englische Reisende R. Lees fand sie 1893 wieder bewohnt und voller Leben! Ähnliches gilt von Es-Suweda (1078 m, an der Westseite des Hauran, Maximianopolis?), das 1860 noch menschen- leer war, aber 1893 nicht ein unbewohntes Haus mehr hatte, heute der bedeutendste Ort des Hauran ist und dessen Straßen ein echt orientalisch belebtes Bild bieten. Und so zahlreiche alte Ortschaften dieser Gegend. Die ersten neuen Zuwanderer besetzen die besten noch völlig bewohnbaren Häuser, spätere bessern die beschädigten aus, so daß eine Umwandlung wie bei den genannten und vielen anderen sich so rasch voll- ziehen kann. Was Palästina in der besten Zeit, dem 3. — 6. Jahrhundert n. Chr., gewesen ist, das zeigen am besten die über das ganze- Land verstreuten Ruinen, vor allem aber die so gut erhaltenen Ruinenstädte im ganzen Ostjordanlande, besonders im Hauran und Dscholan, ebenso aber in dem sogenannten Negeb oder dem Südlande der Bibel, an der Südgrenze von Judäa, kurz ringsum in den Grenzlandschaften gegen die Wüste, die heute menschen- leer daliegen oder höchstens von wenigen schweifenden Noraaden bewohnt sind. Südlich vom heutigen Kulturlande von Judäa findet man weithin bis in die heutige Wüste hinein Dämme in den Wadis, terrassierte Hänge, Spuren ehemaligen Weinbaues und Weinpressen, die sich ja in dem trockenen Klima lange erhalten, Trümmer von Siedelungen, namentlich in den Wadis Hanein und El Aujeh, die zum Wadi El Arisch gehören. Arabische Überlieferung nennt Wadi Hanein ein Gartental. El Aujeh und Sebaita müssen, nach den Trümmern zu schließen, bedeutende Städte gewesen sein. In letzterer fand der englische Forscher E. H. Palmer die großartigen Ruinen von drei Kirchen, wohl aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Jedes Haus besaß eine jetzt trockenliegende Zisterne, aber in weitem Umkreise ist keine - I50 — lebende Quelle zu finden. Auf engem Räume konnten die Trümmer von einem halben Dutzend Städten nachgewiesen wer- den. Ähnlich wie hier und im Ostjordanlande heute Steppe und Wüste herrscht, ist Mitteltunesien heute fast baumlose, aber mit zahllosen Trümmern großer und kleiner Siedelungen übersäete Steppe. In spätrömischer Zeit war es durch Aufspeicherung allen Wassers und durch Baumzucht, namentlich Ölbäume, reiches, dicht besiedeltes Kulturland. Diese Landschaften lehren, mit welchen Mitteln eine solche Blüte möglich war und die Unter- suchung der Landesnatur, wie sie heute ist, läßt keinen Zweifel aufkommen, daß mit denselben Mitteln ein gleiches Wieder aufblühen möglich ist. Der Vorgang des Verfalls und des Wiederauflebens mag sich in diesen Grenzlandschaften mehrfach wiederholt haben. Das letztere fand immer statt, wenn dieselben einem großen, starken, wohlgeordneten Staatswesen angehörten, das dem Kulturlande den nötigen Schutz gegen die Wüste zu gewähren und auch die günstige Handelslage zur Geltung zu bringen vermochte. Seit dem ig, Jahrhundert hat wenigstens im Ostjordanlande eine Neubesiedelung der alten Ruinenstädte be- gonnen, aber selbst in Galiläa hegen nach Schwöbel von je etwa fünf Siedelungen der Blütezeit noch drei in Trümmern. Mag auch in Palästina die Decke fruchtbarer Ackererde im Laufe der Jahrtausende und durch mangelnden Schutz dünner und lückenhafter geworden sein, mögen die Niederschläge wenig- stens unregelmäßiger, wenn auch nicht geringer geworden sein, es sind noch in vollem Maße die Bedingungen gegeben, um von innen heraus das Land einer neuen Blüte zuzuführen. Zieht man in Betracht, daß die Bedürfnislosigkeit der Bevölkerung süd- licherer Länder auch bei gleich hoher Gesittung stets größer, das Nahrungsbedürfnis geringer ist, so leuchtet ein, daß die Volks- dichte eines wärmeren Landes bei gleicher Fruchtbarkeit des Bodens größer sein kann wie die eines kälteren. Schwöbel nimmt für Galiläa in der besten Zeit eine Volksdichte von I20 Köpfen auf i qkm an, Socin für ganz Palästina 96 — 115. Jedenfalls erscheint uns eine Vervierfachung der heutigen Volks- dichte von 25 Köpfen, also 100 Köpfe auf i qkm und somit 3 Millionen für das ganze Land durchaus möghch, lediglich durch Entwicklung des Anbaus des Bodens, ohne Hinzutreten etwa von Handel und Gewerbetätigkeit, für welche in der Gegenwart die Bedingungen nicht gegeben sind. Freilich, eine Volksdichte, wie sie Sizilien besitzt, das man zum Vergleiche heranziehen könnte, 141 Köpfe auf I qkm, scheint mir für Palästina unmöglich, da dort auch Bergbau und Handel, schon wegen der günstigen Lage, der Länge und Beschaffenheit der Küsten, auch Gewerbe- tätigkeit ins Gewicht fallen, welch letzterer billige Zufuhr von Rohstoffen und niedrige Löhne günstig sind. Es scheint uns ausgeschlossen, daß Palästina jemals, wie auch behauptet worden ist, 5 Millionen Einwohner gehabt habe. Wenn wir die einzelnen Landschaften auf ihre Entwicklungs- möglichkeit untersuchen, so ist zunächst die ganze Küstenebene bei ihrem fruchtbaren Boden und den ungemessenen Wasser- vorräten, welche das Grundwasser, Bäche und Quellen darbieten, dichtester Besiedelung auf Grund von Apfelsinen-, Baumwollen-, Tabak- und Zuckerrohrbau zugänglich. Auch auf dem West- jordanhochlande bedarf es nur der Verwertung der vorhandenen und der Aufspeicherung der winterlichen Wassermengen, um neben Getreidebau Baumzucht (Ölbäume, Feigenbäume, Granat- bäume, Johannisbrot- und Mandelbäume usw.) und Weinbau in großer Ausdehnung zu betreiben, wie sie heute nur in der Um- gebung einiger Städte getrieben wird. Ebenso Tabakbau und Seidenraupenzucht. Beide spielen ja in Syrien eine große Rolle und ein großer Teil von Palästina eignet sich für Maulbeer- pflanzungen. Syrien ist ja die Heimat des edeln Ölbaumes. Die Opuntie, die beispielsweise in Tunesien ohne Pflege eine Fülle billiger Volksnahrung liefert, würde dies auch hier vermögen. Das Ghor ist in seiner ganzen Ausdehnung in einen tropischen Garten zu verwandeln. Hier könnten Wintergemüse der verschiedensten Art, Bananen, Apfelsinen, Zuckerrohr, Baumwolle, Datteln gezogen werden, die bei der hier herrschenden Lufttrockenheit, Wärme und möglichen reichen Bewässerung zu den besten der W^elt gehören würden. An Absatzmärkten würde es nicht fehlen, denn über Saloniki würde Berlin in fünf Tagen zu erreichen sein. Jericho, heute auf einem Morgenspaziergange von Jerusalem zu erreichen, aber 1050 m tiefer und im Januar um 2^ C wärmer als Kairo, kann wieder werden, was es zur Zeit des Herodes war, eine prachtvolle Winterresidenz, deren Wert noch durch die dicht dabei sprudelnden Thermen von Teil el Hammam (Ain es Sultan), durch das Tote Meer mit seinen großartigen Szenerien — 152 — und seinen Thermalquellen, wie ^Ain Dschidi, Hammam ez Zerka (Kallirrhoe), schon im Altertum ein Luxusbad, 'Ain es Sara u. a. m. durch eine Fülle anziehender Altertümer ringsum, durch den fischreichen Jordan usw. erhöht wird. Es kann hier eine Be- rieselungsoase von etwa 55 qkm Flächeninhalt geschaffen werden. Wenn ich i8g6, wo die Stätte von Jericho noch wüst lag, schrieb, es könne der Geograph ähnlich wie es dem weisen Thaies von Milet nachgesagt wird — er habe einem Spötter den Beweis geliefert, daß seine Philosophie auch großen praktischen Wert haben könne, indem er, eine reiche Olivenernte als Naturkundiger voraussehend, alle Ölpressen in lonien pachtete und dann, als dieselbe wirklich eintraf, mit großem Gewinne wieder ver- pachtete — den Rat zu lohnender Geldanlage in Jericho geben, so ist diese Voraussage sehr rasch eingetroffen: schon heute be- stehen neben dem russischen Hospiz vier Gasthäuser mit üppigen Gärten, die Anfänge einer neuen Entwicklung. Das Ostjordanland eignet sich nur örtlich beschränkt für Baumzucht, Baumwollen- und Tabakbau, da nicht genügend Wasser zu ausgedehnten Berieselungen vorhanden ist. Wohl aber ist es in großer Ausdehnung, vor allem in En Nukra, dem Hauran, aber auch noch in Moab, eines der reichsten Weizen- länder der Welt. Hier würden die fruchtbarsten Gebiete, die im Frühling unabsehbar wogenden Weizengefilden gleichen, im Sommer von den Bewohnern verlassen werden müssen, wenn nicht durch Aufspeicherung der Winterregen in Zisternen und Sammelteichen, durch Wasserleitungen wirklich seßhafte Bewoh- nung durch gesittete INIenschen ermöglicht wird. Das war in reichem Maße in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ge- schehen. Durch künstliche Berieselung war damals jedenfalls auch die unheilvolle Wirkung der bei ungenügenden Winterregen eintretenden Mißernten beschränkt. Wie das schon heute erkennbare Wiederaufblühen dieser Landschaften zu ermöglichen ist, das lehren uns die Römer, diese ausgezeichneten Verwalter und Organisatoren, die hier das Kulturland allenthalben so weit gegen die Wüste vorgeschoben hatten, wie es nur irgend möglich war. Der Gegensatz zwischen Kulturland und Wüste war damals hier ein weit grellerer wie heute. Fünf römische Legionen deckten die inneren Grenzen von Syrien, römische Kastelle umsäumten das Kulturland, römische — 153 — Straßen verbanden diese Grenzlandschaften mit dem inneren Kulturlande und dem Meere. Aber noch mehr, die Römer ver- folgten die Nomaden, die Hunger und Durst immer wieder zu Angriffen auf das Kulturland zwang, in die Wüste selbst bis in ihre anscheinend unangreifbaren Schlupfwinkel. Den nächsten hier in Frage kommenden bildet ein heute als Buchbe bezeich- netes, auf fruchtbarsten vulkanischen Zersetzungsstoffen im Winter reiche Weizenemten hervorbringendes Becken mitten in der un- gangbaren Lavawüste der Harra östlich vom Hauran. Hier wohnt jetzt der Araberstamm der Riath, der aber im Sommer, wo alles Wasser verschwindet und nur die einzige in der ganzen Harra vorhandene Quelle von Nemara solches in ungenügender Menge bietet, mit seinen Herden, nachdem die Getreidevorräte verborgen oder im sicheren Schutze eines Heiligen untergebracht sind, davonziehen muß. Unter unsäglicher Mühe wurde eine Straße durch die Steinwüste gebaut. Kastelle schützten die Quelle von Nemara und die Buchbe, ja selbst Ansiedler drängten nach und sicherten die Seßhaftigkeit durch Aufspeicherung der Winterregen. Mit dem Niedergange des oströmischen Reiches erlagen die schützenden Bollwerke dem gewaltigen Vorstoße der durch eine neue Idee begeisterten und zusammengeballten Söhne der Wüste im Jahre 635 n, Chr. Arabische Nomaden schlugen nun im Kulturlande ihre Zelte auf. So wurden die steinernen Städte fast unversehrt bis auf unsere Tage erhalten. Heute hält die Türkei wieder Besatzungen im Hauran, neue Einwanderer, Tscherkessen, selbst jüdische Ackerbauer nehmen Besitz von den toten Städten, die Eisenbahn, die die Weizen- emten an Stelle der teuren Kamelfrachten billig ans Meer liefert, macht die angebauten Flächen von Jahr zu Jahr wachsen. So scheint trotz des allgemeinen Niederganges des türkischen Reiches doch Palästina dadurch, daß hier im Heiligen Lande europäische Einflüsse sich unwiderstehlich geltend machen, wieder aufzublühen, und man kann es schon heute aussprechen: Palästina hat nicht nur eine große, geschichtsreiche Vergangenheit, nein! es hat auch eine hoffnungsreiche Zukunft! III. Italien. I. Italien. Eine länderkundliche Skizze.^) Unter den Reisezielen der Deutschen steht seit langem schon Italien mit obenan, und die Zahl derjenigen Deutschen, welche wenigstens einen Teil dieses Landes aus eigener Anschauung kennen j ist sehr beträchtlich. Dennoch fehlt es auch bei uns noch vielfach an einer besseren Kenntnis das Landes und an richtigem Verständnis des uns fremdartigen Volkstums. In der sehr reichen Reiseliteratur begegnet man immer wieder schiefen oder ungerechten Urteilen, wie sie flüchtig Reisende, der Landes- natur und Landessprache wenig Kundige nur zu leicht fällen. Werke wie Viktor Hehns „Italien; Ansichten und Streiflichter" oder Gregorovius' „Wanderjahre , in Italien" bilden Ausnahmen. Zu dieser Erscheinung trägt allerdings die auch heute noch un- vollkommene wissenschaftliche Erforschung des Landes bei. Die Grundlagen jeder Landeskunde, eine gute topographische Karte und die geologische Durchforschung, konnten erst nach Schaifung der politischen Einheit in Angriff genommen werden und harren, namentlich letztere, auch heute noch der Vollendung. Aber sehr viel und sehr Tüchtiges ist in der kurzen Spanne Zeit trotz der Knappheit der Mittel geleistet worden und noch mehr wird in der nächsten Zukunft geleistet werden, denn ähnlich wie der deutsche Geographentag hat gleich der erste italienische Geo- graphentag, welcher bei Gelegenheit der Kolumbusfeier in Genua 1892 versammelt war, die sofortige Inangriffnahme landeskund- l) Erschienen 1893 ^Is Heft 171 der von R. Virchow und W. Watten- bach herausgegebenen Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. — 155 — lieber Forschungen beschlossen. Indessen sind schon so wertvolle Bausteine aufgehäuft, daß ich es wagen darf, gestützt auf zahl- reiche Reisen und lange Aufenthalte in. Italien, eine Skizze dieses Landes zu entwerfen.^) Die Lage und Weltstellung Italiens ist eine sehr günstige, schon als die mittlere der drei südeuropäischen Halbinseln er- scheint sie den beiden anderen gegenüber bevorzugt. ^Mitten im Mittelmeere gelegen, das Nordwestbecken desselben vom Südost- becken trennend, beherrscht es zugleich die eine der Verbin- dungslinien beider und nimmt teil an der Beherrschung der großen Welthandelsstraße, welche der großen Achse des Mittelmeeres folgt. Eine lange schmale Landbrücke vom Rumpfe Europas hinüber zur Festlandsmasse von Afrika erscheint Italien als das Herzland des ganzen MittelmeergebieLes und zur Beherrschung desselben bestimmt. Italien schaut nach Westen, ist aber im- stande, von den vortreffhchen Häfen von Venedig, Brindisi, Ta- rent und Syrakus, welche mit dem nahen Gegengestade die Un- gunst der adriatischen Küste auszugleichen streben, auch zum Osten in Beziehungen zu treten. Mit einer Landgrenze von nur 1900 km Länge verbindet Italien eine Küstenlänge von 6785 km und ist so ein durchaus maritimes Land, denn selbst seine meer- fernsten Großstädte Turin und ^^Jailand haben nur eine Meer- ferne von 105 bzw. 120 km, d, h. gleich Hamburg, und 80 ^/^ der Landfläche hat weniger als 100 km ^Meerferne, die also in zwei Stunden zu überwinden wären. Die Küstengliederung Italiens ist namentlich im Westen eine reiche; küstennahe Inselgruppen, wie die toskanischen und kam- panischen, erhöhen den Wert derselben; die großen, nach der Gesamtheit ihrer Verhältnisse italienischen Inseln Sizilien, Sar- dinien und Korsika, teils küstennah, teils in Sehweite gelegen, bilden als Inselitalien eine wesentliche Ergänzung des eigentlichen Halbinsellandes, beide zusammen eine solche des mehr fest- i) Der Verf. hat seitdem eine umfassendere Darstellung von Italien in Bd. 3 der von A. Kirchhoff herausgegebenen Landeskunde von Europa, Leipzig 1893, und eine neue, wesentlich erweiterte und vertiefte in italieni- scher Sprache La Penisola Italiana, Torino 1902, erscheinen lassen. Auch ist diese Skizze in italienischer Übersetzung von R. Lovera mit einem Vorworte von General G. Riva Palazzi 1895 unter dem Titel Schizzo descrittivo d' Italia in Salö erschienen. — 156 — ländischen Charakter tragenden Polandes. Der Reichtum Italiens an natürlichen Häfen ist ein verhältnismäßig großer; wo dieselben den Anforderungen der Neuzeit nicht mehr genügten, wie in Genua, Neapel, Palermo, konnten sie durch Kunst verbessert werden; wo sie ganz fehlten, waren sie unschwer zu schaffen, wie bei Livorno, oder man vermißte sie weniger als in irgend einem der Mittelmeerländer, weil Italien wohl im wesentlichen dank seiner Oberflächengestalt, weit seltener von Stürmen heim- gesucht ist als Griechenland, Südfrankreich, Spanien oder gar Algerien. Ein sehr großer Teil auch des inneren Verkehrs voll- zieht sich so stets zur See, und selbst mit den Nachbargebieten verkehren Küstenfahrer, da die Meerenge von Otranto nur 72.8, die von Pantellaria nur 150 km breit ist, so daß man bei hellem Wetter von Sizilien aus wohl das hohe Kap Bon drüben in Tunesien erblicken kann. Zu allen Zeiten, von den Tyrrhenern an, hat daher Italien tüchtige Seeleute hervorgebracht, und mit richtigem Blick haben die Staatsmänner des neuen Italien er- kannt, daß die Gegenwart und Zukunft des Landes in der Be- herrschung des Meeres liegt. Italien hat sich daher eine Kriegs- flotte geschaff"en, welche an Größe der Schlachtschiffe wohl einzig dasteht. Es erscheint so dieses Land wie zum Ausgangs- und Brenn- punkte des Seeverkehrs im ganzen Mittelmeere geschaffen, wie es nahezu zwei Jahrtausende in der engeren Welt des Altertums und Mittelalters der Hauptsitz des Verkehrs gewesen ist. Und gleiche Bedeutung vermöchte es wohl wieder zu erlangen, wenn sich seine Gegengestade im Osten und im Süden einmal wieder beleben werden. Der Straße von Gibraltar und dem Suezkanal gleich nahe , vermag es auch am Weltverkehr der Neuzeit mit Erfolg teilzunehmen. Aber noch mehr, auch von wichtigen fest- ländischen Straßen wird Italien gekreuzt; in meridionaler Rich- tung von denen, die in Genua, Venedig, Neapel und Brindisi endigen, in äquatorialer von denen, welche über Mailand und Turin gehen. Mailand ist der eigentliche Kreuzungspunkt dieser Straßen, der Mittelpunkt aller Alpenstraßen, die dort vom Sim- pelnpasse im Westen bis zum Stilfser Joch im Osten radienförmig zusammenlaufen. Infolgedessen ist es heute auch einer der wichtig- sten Sitze des festländischen Handels von Europa. Und nicht, wie Spanien, nur zu einem ^'olke und Lande, zu einem Staate, nein, — 157 — zu deren einer ganzen Reihe, zu Frankreich, der Schweiz, dem Deutschen Reiche, Österreich und Ungarn, unterhält Italien un- mittelbare Beziehungen zu Lande. Vielseitigkeit der Be- ziehungen zur See wie zu Lande ist demnach der hervor- stechendste Charakterzug Italiens. Und wenn die Handelssprache fast aller Völker Europas noch heute die Spuren der beherrschen- den Stellung erkennen läßt, welche Italien bis ins i6. Jahrhundert im Welthandel hatte, so sind die Bedingungen, daß dies Land in Zukunft wieder einmal diese Stellung zurückerobert, zwar nicht mehr gleich günstig, aber immerhin keine durchaus ungünstigen. Entwicklungsgeschichte. Der Satz, daß man einen Gegenstand erst völlig kennt, wenn man weiß, wie er entstanden ist, findet vor allem in der wissenschaftlichen Geographie Anwendung. Wenn wir daher, nachdem wir uns in großen Zügen mit dem zu betrachtenden Lande vertraut gemacht haben, in die Geschichte desselben ein- zudringen suchen, so möchte ich zunächst die Tatsache feststellen, daß Italien, wie es politisch ein Neubau ist, auch erdgeschicht- lich ein sehr junges Land, in seiner Gesamtheit wohl das jüngste Europas ist. Man kann gewissermaßen sein Alter noch aus seinen Zügen herauslesen. Wohl nirgends vollziehen sich die Veränderungen des wagrechten Umrisses und des senkrechten Aufrisses so rasch wie hier. Nirgends kann man wie hier so- zusagen mit Augen sehen und mit Händen greifen, wie an der einen Stelle ein Berg aufgetürmt, an einer anderen ein Gebirge abgetragen und eingeebnet wird. In Italien sind in der Tat, um uns einer Wendung unseres unvergeßlichen Meisters Oskar Peschel zu bedienen, unsere besten Karten Bilder von vergäng- licher Wahrheit. Von jeher hat daher Italien die besondere Aufmerksamkeit der Geologen wachgerufen^ von denen wohl jeder einmal den Drang gefühlt hat, in diesem Lande sein Wissen zu bereichem. Unsere namhaftesten Geologen gehören daher auch zu den verdientesten wissenschafthchen Erforschem Italiens. Und ähnhch in England und Frankreich. Nur geringe Trümmer eines älteren Stückes der aufgetauchten festen Erdkruste sind in den Neubau ItaUen verarbeitet, und die Inschriften dieser alten Werkstücke sind so verwischt, daß wir nur mühsam zu entziffern vermögen, wie der alte Bau ausgesehen - 158 - haben mag, dessen Reststücke sie sind. Derselbe dehnte sich von Korsika-Sardinien, vielleicht vom äußersten Südwestende un- serer heutigen Alpen bis nach Kalabrien und Sizilien, nach Osten bis aufs Festland des heutigen Toskana aus. Längst bis auf jene stehengebliebenen Trümmer, auf deren Zusammengehörigkeit geologische und biologische Gründe zu schließen zwingen, in den tiefen Einbruchskessel des tyrrhenischen Meeres versenkt, be- zeichnen wir dieses demnach etwas westlicher gelegene Uritalien mit dem Namen Tyrrhenis. Nur im Bereich der alten Tyrrhenis kommen in Italien, von den Alpen abgesehen, überhaupt alte Gesteine vor, Gneise, kristallinische Schiefer, alte Granite, in noch geringerer Ausdehnung ihnen mantelförmig angelagert auch paläozoische Schichtgesteine. Auf sie fast allein ist, wenn wir von der Schwefelgewinnung Siziliens absehen, in Italien Bergbau beschränkt. Mit dem fast völligen Fehlen der Steinkohlenfonnation hängt der völlige Mangel an Steinkohlen zusammen, welcher die neuzeitlich großgewerbliche Entwicklung Italiens, die sich jetzt mehr und mehr auf Wasserkräfte und elektrische Kraftübertragung stützt, so außerordentlich erschwert hat. Gegen Ende des meso- zoischen Zeitalters begann der Niederbruch und die Zertrümme- rung der alten Tyrrhenis und entstand in einer langen wechsel- vollen Bauperiode, wo zeitweilig der Bau unterbrochen, ja wieder niedergerissen wurde, der Neubau Italien, der, seiner Gesamt- anlage nach erst mit dem Ende der Tertiärzeit vollendet, noch in der Quartärzeit wesentlich Zu- und Umbauten erfahren hat. In der zweiten Hälfte der Tertiärzeit wurde am energischten durch seitlichen, von Südwesten von der Tyrrhenis her kommen- den Druck das Appenninengebirge zusammengefaltet, zum Teil aber auch bald wieder durch auf peripherischen Bruchspalten erfolgende Vertikalverschiebungen zertrümmert, so daß nur noch, ähnlich wie beim größeren Teil der Karpathen, der äußere ge- schichtete Mantel erhalten ist. Kesseiförmig griffen diese Ein- brüche an der Westseite ein, und auf ihnen entwickelte sich gegen das Ende der Tertiärzeit jene großartige, noch heute nicht erloschene vulkanische Tätigkeit, die von dem Inselchen Capraja im Norden, am Eingang in das ligurische Meer, bis zum Etna ganze Reihen und Gruppen vulkanischer Kegel aufgetürmt hat. Ganze Meerbusen, wie in Latium und in Kampanien, wurden von den vulkanischen Auswurfstoffen ausgefüllt, ganze Gebirge, — 159 — wie das Albaner, und so gewaltige Kegel, wie der Etna, auf- getürmt. Besteht doch in der Umgebung von Rom ein Gebiet von 6000 qkm, gleich mehr als einem Drittel des Königreiches Sachsen, nur aus vulkanischen Ablagerungen. Und noch sind die Grundlagen des Neubaues nicht in sich verfestigt, noch unter- liegen die Schollen der festen Erdkruste auf den sie zerstücken- den Spalten Bewegungen, welche Italien zu einem der erdbeben- reichsten Länder der Erde machen. Gibt es hier doch Gegenden, in welchen im Durchschnitt einmal im Jahrhundert alle Siedelungen von Grund aus, dazwischen noch oftmals teilweise zerstört werden. Vulkanische Ausbrüche vernichten so periodisch Leben und Eigen- tum örtlich, Erdbeben in großer Ausdehnung, beide hemmen den Unternehmungsgeist, verlangsamen die Volksvermehrung und die Anhäufung von Wohlstand, sie gehören so zu den Landplagen Italiens, haben aber auch Italien zur hohen Schule für das Stu- dium dieser beiden so furchtbaren Naturerscheinungen gemacht. Zu beiden in engen Beziehungen steht auch der Reichtum Italiens an Thermen und Mineralquellen, Schätze, die man noch kaum auszubeuten begonnen hat. Die faltenden Bewegungen, welche dem Appenninengebirge den Ursprung gaben, scheinen nach Süden an Intensität ab- genommen zu haben, während die Bildung von Bruchlinien und darauf erfolgende Vertikalbewegungen dort unter den gebirgs- bildenden Vorgängen mehr in den Vordergrund treten. Jeden- falls scheint schon im Abruzzenappennin nur mehr leichte Fälte- lung vorzuliegen, welche Hochflächen schuf, ähnlich der des Limhochlandes drüben im illyrischen Faltensystem der südost- europäischen Halbinsel. Wir denken hier namentlich an die bedeutendste Massenanschwellung der ganzen Halbinsel, die den eigentlichen Abruzzen in SSW vorgelagert ist und die wir Abruzzenhochland nennen möchten. Brüche und Vertikalbewegungen treten hier neben der Faltung bereits bedeutungsvoll hervor, sie gaben der Kalkmasse der Abruzzen die bedeutende Höhe von noch heute 3000 m und scheinen im neapolitanischen Appennin geradezu zu übenviegen. Eine Hebung des ganzen Appenninen- gebirges zu Anfang der Quartärzeit, welche bis heute ungefaltet gebliebene, erst zu Ende der Tertiärzeit auf dem Meeresgrunde gebildete Schichten auf dem Festlande wie in Sizilien zu so be- deutenden Höhen erhob, daß sie noch heute 1000 ra und mehr — i6o — erreichen, trotz seitdem erfolgter Abtragung, hat hier im Süden erst wieder ein orographisch einheitliches Gebirge geschaffen, indem dadurch erst wieder die Trümmer der alten Tyrrhenis und die Schollen und Klötze jurassischer und kretazeischer Appenninengesteine miteinander verbunden wurden. Erst jetzt verwuchsen der Monte Gargano und die apulische Kreidetafel durch Schließung pliozäner Meerengen wieder mit dem Apen- ninenlande und kam so durch Anschweißung von Sporn und Ab- satz die bekannte Stiefelgestalt zur Ausbildung. Diese Hebung schuf zwar auch die kalabrische Meerenge zu einer niederen Landenge um, die auf einer tiefgreifenden Bruchspalte liegende Meerenge von Messina vermochte sie aber nur schmäler und seichter zu machen. Sizilien blieb dauernd vom Festlande ge- trennt und verlor auch in der Diluvialzeit seine Verbindung mit Tunesien, indem sich auch dort schon seit der Tertiärzeit ein Bruchgürtel auszubilden begonnen hatte, der am Nordrande Klein- afrikas nach O und SO verläuft, und auf welchem sich ebenfalls noch heute nicht erloschene vulkanische Tätigkeit zu regen be- gann. Die durch Bruchlinien und Grabenversenkungen zerstückte Maltagruppe und Lampedusa, flache tertiäre Tafeln, sind Reste des hier zertrümmerten Festlandes, für dessen bis in die geo- logische Gegenwart fortgesetztes Untertauchen die sorgsamen hydrographischen Forschungen der Franzosen in der kleinen Syrte so wunderbare Belege geliefert haben. Dagegen begann im Norden gegen Ende der Tertiärzeit durch Hebung und Zuschüttung die Verlandung des großen Senkungsfeldes an der Innenseite der Alpen, das im Laufe der Quartärzeit zur großen, noch immer auf Kosten der Adria wachsen- den Poebene ausgestaltet wurde. Ebenso sind an der Westseite der Halbinsel erst seit der Quartär-, ja zum Teil in geschicht- licher Zeit der Meerbusen, in welchen der Arno mündete, und einige kleinere verlandet. Italien ist so, bis auf jene wenig aus- gedehnten Trümmer der Tyrrhenis, ein junges Land, die Appen- ninen von allen größeren Gebirgen Europas das jüngste, denn erst in quartärer Zeit ist ihr Bau vollendet worden. Gesteine jugendlichen Alters bilden also vorwiegend den Boden Italiens, selbst von mesozoischen tritt nur die Kreide in etwas größerer Ausdehnung auf, das Tertiär ist die Charakterformation Italiens, nächstdem das Quartär. Mindestens zwei Drittel Italiens, von — i6i — Sizilien sogar vier Fünftel besteht aus Gesteinen, welche sich erst im Laufe der Tertiärzeit auf dem Grunde des Meeres oder noch später durch Anlagerung gebildet haben. Und unter diesen Ge- steinen überwiegen tonige und mergelige, also leicht zerstörbare Felsarten. So auffällig auch orographisch die kretazeischen und jurassischen Kalkgesteine in den Appenninen hervortreten, so ist es heute doch nicht mehr erlaubt, die letzteren danach ein Kalk- gebirge zu nennen, wir müssen es vielmehr ein Tongebirge nennen, denn was ihm seinen ganz eigenartigen Charakter auf- prägt, das sind die vorherrschenden tonigen Felsarten. Die wichtigsten Erscheinungen, welche man sich stets bei dem Begriff Kalkgebirge zu vergegenwärtigen pflegt und die im illyrisch- griechischen Faltensystem in seiner ganzen Ausdehnung so auf- fällig zutage treten, treten in den Appenninen, eben der geringen Verbreitung der Kalksteine wegen, nur in untergeordnetem Maße auf. Selbst in den älteren Formationen, im Archäischen und Paläozoischen Siziliens und Kalabriens, herrschen leicht zerstör- bare Gneise und Schiefer vor. Auf der weiten Verbreitung leicht zerstörbarer Felsarten im Bunde mit den klimatischen Verhältnissen und der weit fort- geschrittenen Entwaldung des alten Kulturlandes beruhen die er- staunlich rasch vor sich gehenden Veränderungen der Oberflächen- gestalt und der Küstenlinien ganzer Landschaften. Ganze Gebirge, wie das peloritanische Gneisgebirge bei Messina, sind in sicht- barer Abtragung begriff'en, immer tiefer greifen die Täler und Regenschluchten in das Gebirge ein, immer größere Geröllmassen schieben sich in den für gewöhnlich fast trocken liegenden Fiu- maren ins Meer. In dem Mergellande von Toskana werden durch erhalten gebliebenen Baumwuchs verfestigte Stellen in wenigen Jahren zu inselartigen Hügeln herauspräpariert, alle lO — 20 Jahre muß man die Grenzsteine neu setzen, da sich die ganze Ober- fläche unter den Winterregen in eine gleitende Breimasse ver- wandelt und die Flüsse zu Schlammströmen werden, welche Meerbusen füllen und die Küste vorrücken. Neuerdings ver- wertet man in Italien vielfach diese Schlammströme, welche dem Lande große Mengen kostbarer Düngstoff"e entführen — hat man doch in Frankreich den Wert der alljährlich dem Lande in den Sedimenten der Flüsse entzogenen Feststoffe auf 30 Mill. Eres, geschätzt — , zu künstlicher Auffüllung von Fieberdünste aus- Fischer, Mittelmeerbilder. II — 102 — sendenden Sümpfen und bekämpft damit die Malaria am wirkungs- vollsten. Das berüchtigte Chianatal zwischen Florenz und Rom ist dadurch fieberfrei geworden, daß man durch solche künstliche Ablagerung eine Fläche von 200 qkm um 2 — 5 m erhöht und damit den Gewässern Gefäll verschafft hat. Bergschlipfe, welche nicht selten große Flächen angebauter Felder, ganze Ortschaften und Menschenleben vernichten, sind in diesen tonigen Gebieten Italiens außerordentlich häufig, nament- lich in dem Gürtel der sogenannten Scherben- oder Schuppen- tone (argille scagliose) der Appenninen, deren Entstehungsweise so umstritten ist. Im Juni 1881 geriet, um nur einen Fall unter vielen hervorzuheben, ein Teil des zwischen zwei Flußtälern ge- legenen, 5000 Einwohner zählenden Städtchens Castelfrentano (bei Chieti) ins Gleiten und sank in Trümmer, der Rest war schwer bedroht. Selbst die Lage der Siedelungen wird von diesen Felsarten bedingt. Die Siedelungen schließen sich nicht, wie in Mitteleuropa, den Flüssen und Tälern an, denn diese sind von Gerollen und Schlammassen erfüllt, versumpft und fieberschwanger, auch nicht den Talgehängen, denn diese sind beweglich; hoch oben auf den meist von festen wagerechten Kalktafen gebildeten Bergrücken, Adlernestern gleich, thronen fast im ganzen Appen- ninenlande die Heimstätten der Menschen. Daß sich die Ma- laria in solchen Tongebieten ganz besonders entwickeln kann, liegt klar zutage. Auch den Verkehrswegen bieten sie besondere Schwierigkeiten, besonders den Eisenbahnbauten. Diese sind in denselben stets überaus kostspielig, da sie unablässig Ausbesse- rungen, Verlegungen u. dgl. erfordern und dennoch der Verkehr oft unterbrochen ist. In der winterlichen Regenzeit fließen die Dämme auseinander, die Einschnitte zusammen, an den Hängen kommen die Linien ins Gleiten. Nachdem man, namentlich in Sizilien, wo nicht weniger als 40 ^/^ der Oberfläche aus diesen gleitenden und nur So'^/q aus mäßig festen Bodenarten bestehen, die schlimmsten Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht hat, hat heute bei Feststellung der Linien in solchen Gebieten der Geo- loge das entscheidende Wort zu sagen, man umgeht dieselben soviel wie möglich. In solchen Gegenden kostet nicht selten ein Kilometer 500 — 600000 Lire, und bei Tunnelbauten, oft die letzte Zuflucht, der laufende Meter 4 — 5000 Lire! Auch die weit verbreiteten Tongesteine, namentlich da sie häufig auch noch — 103 — salzig und unfruchtbar sind, gehören so zu den Landplagen des Gartens der Hesperiden. Bodenplastik. Das so jugendliche Faltengebirge der Appenninen beherrscht die Oberflächengestalt in solchem Maße, daß man oftmals geradezu von der Appenninenhalbinsel spricht. In der Tat ist Italien überwiegend Appenninenland. Doch sind die Höhen, da eben nur der äußere geschichtete Mantel des Faltengebirges erhalten Ist, überall nur mäßige. Die höchste Erhebung, der Gran Sasso d' Italia, erreicht noch nicht voll 3000 m und steht somit dem Kegel des Etna mit 3274 m noch beträchtlich nach, aber zahl- reiche Gipfel, selbst bis nach Sizilien, erreichen oder übersteigen 2000 m. Die Paßhöhe ist überall gering, sie beträgt im ]\Iitte der 1 7 von Fahrstraßen benutzten Pässe nur goo m. Die Eisen- bahnen durchfahren die Kämme meist in noch geringerer Höhe in Tunnels. Es bieten so die Appenninen, besonders wenn man auch ihre geringe Breite und die südliche Lage in Betracht zieht, dem Verkehr nur geringe Schwierigkeiten. Als Klima- und Wetterscheide wird man ihre Bedeutung aber nicht leicht über- schätzen. Der Charakter des Berg- und Hügellandes wird daher in Italien überwiegen, nur 38,5 ^/q der Oberfläche ist als Ebene anzusehen. Die kennzeichnenden Züge des Faltenlandes sind im Appen- ninenlande vielfach verwischt und überhaupt nur in der Nord- hälfte schärfer ausgeprägt. Schon im Abruzzenappennin schaff't leichte Fältelung weite Hochländer, wie das von uns so genannte schon erwähnte Abruzzenhochland, westlich von den eigentlichen Abruzzen, südwärts bis zum Sangro und Volturno, die größte Massenanschwellung der Halbinsel. Parallelismus der Ketten kennzeichnet nur den Nord- und zum großen Teil noch den Mittelappennin. Dabei ist die Länge der einzelnen, meist den Faltenzügen genau entsprechenden Ketten stets eine geringe, immer nimmt eine innere südostwärts streichende an Höhe ab und verschwindet schließlich unter dem tyrrhenischen Senkungs- felde, das bei Florenz am tiefsten in das Gebirge eingreift. Die Wasserscheide springt nach Osten auf die nächste Parallelkette über, die dann dasselbe Schicksal erleidet. Die Gewässer folgen den Faltentälem und brechen so schließlich, sich zu größeren — 164 — Rinnen vereinigend, zu dem breiten Vorlande, dem sich noch über den Meeresspiegel erhebenden Rande des Senkungsfeldes, durch, um das tyrrhenische Tief becken zu erreichen. Alle Flüsse haben daher hier den gleichen Bau: ein langer, dem Gebirgsstreichen folgender, und ein kurzer, dazu senkrechter Schenkel. Nur dieser kulissenartige Bau der Appenninen bewirkt das südöstliche Streichen des Gebirges zwischen Genua und Ancona. Ganz anderen Bau besitzt der neapolitanische Appennin. Hier fehlen parallele Ketten fast ganz; wir haben ein unregelmäßiges Berg- und Hügelland von geringer Höhe vor uns, in welchem die Wasserscheide sich bald mehr dem Adriatischen, bald mehr dem Tyrrhenischen Meere nähert und über vielen, meist pliozänen Hochflächen (von Ariano, Campobasso usw.), welche nur das rinnende Wasser gegliedert hat, nur mächtige Jura- oder Kreide- kalkschollen und -Klötze (der Matese z. B.), die lebhaft an die ähnlichen, nur großartigeren Gebilde der Ostalpen, Dachstein, Totes Gebirge usw., erinnern, sich mit prallen, weißlich schim- mernden Wänden erheben. Nur das ungefaltete, gehobene Plio- zän verbindet hier diese älteren Kalkschollen. Hier in dem Berglande der alten Samniten handelt es sich nicht um eine Übersteigung des Gebirges, um aus der kampanischen in die apulische Ebene zu gelangen, sondern mehr um eine Durch- querung; nur die engen Eingänge in das Gebirgsland, wie die Furculae caudinae und das Cervarotal, bieten Schwierigkeiten. Wiederum verschieden ist der Bau des kalabrischen Appennin. Er besteht lediglich aus zwei großen Trümmerstücken der alten Tyrrhenis, den Gneismassivs der Sila und des Aspromonte, die lediglich von gehobenen und. erodierten Pliozänschichten umhüllt und miteinander verbunden sind. Der kalabrische Appennin bietet daher in seinen Oberflächenformen auffallende Gegensätze zum neapolitanischen, die man in dem Bruchgürtel des Cratitales, etwa auf der geröllüberschütteten Stätte des alten Sybaris stehend, mit einem Blick überschauen kann. Gen Norden steigt der Monte PoUino (2271 m) mit kahlen Steilgehängen zu seinen kühnen, bald weißlich schimmernden, bald intensiv gefärbten Kalkzinnen von doppelter Brockenhöhe empor, gefurcht von engen, kanonartigen Schluchten, in welchen geröllarme, aber aus- dauernde, weil von starken Capi d' Acqua des Kalkgebirges ge- nährte Flüsse zum Crati eilen. Im Süden dagegen erhebt sich - i65 - die unserem Harz ähnliche Gneismasse der Sila, die mit sanfter, von üppiger, aber keineswegs südlichen Charakter tragender Vege- tation bedeckter Böschung zu gerundeten Hochgipfeln von nicht ganz doppelter Brockenhöhe ansteigt. Wasserarme, aber geröll- reiche Flüsse durchirren die breiten, flachen Täler. Der sizilische Appennin verbindet mit wesentlich appenninischen Zügen, dem tyrrhenischen Steilabbruche und der sanften, Afrika zugekehrten Abdachung, auch eigenartige. Namentlich treten auch hier mesozoische Stöcke, bis zur Trias, und jungeruptive Durch- brüche in beträchtlicher Zahl auf. Wenn wir so das Appenninengebirge auch als ein einheit- liches auffassen, so bildet dasselbe doch mehr das Rückgrat der Halbinsel, es füllt dieselbe nicht ganz aus. Zu beiden Seiten lagern sich auf weite Strecken noch Landschaften an, welche nur in loseren Beziehungen zu den Appenninen stehen und in Italien meist als subappenninische bezeichnet werden. Sie sind dem Appenninenlande erst zu Ende der Tertiärzeit und noch später angegliedert, bzw. angelagert worden. Wir sprechen so von einem tyrrhenischen und einem adriatischen Appenninen- vorlande. Letzteres umfaßt die auf weite Strecken von Terra rossa, hier Bolo genannt, bedeckte und daher sehr fruchtbare apulische Kreidetafel und die mit ihr durch die apulische Ebene verbundene Scholle des Gargano. Beide sind nach ihrem inneren Baue und ihren genetischen Verhältnissen nicht voneinander zu trennen, dürften aber auch in immer engere Beziehungen zu den Kalkschollen des letzteren gesetzt werden. Die Gründe, nach welchen man den Gargano für ein dem Appenninenland an- gegliedertes Stück des illyrisch-griechischen Faltensystems hat erklären wollen, erscheinen uns schon heute nicht mehr stich- haltig. Das tyrrhenische Gegenstück der apuhschen Kreidetafel sind die lepinischen und cepreischen Berge, nur daß hier, der t)-rrhenischen Abbruchseite entsprechend, Störungen mehr hervor- treten. Die kampanische und die latinische Ebene sind aus- gefüllte Einbruchskessel, während das Hochland von Toskana und vielleicht auch die apuanischen Alpen im wesentlichen als Teile der alten Tyrrhenis aufzufassen sind. Die große Aus- dehnung, welche das tyrrhenische Appenninenvorland vom Horst von Sorrent bis zum Golf von Spezia durch Ausfüllung der Ein- bruchskessel, durch Bildung jungeruptiver Berge und Berggruppen — i66 — und durch Angliederung von Trümmern der Tyrrhenis erlangt hat, hat hier weite, offene, dichter Besiedelung zugängliche Land- schaften und namentlich größere hydrographische Becken ge- schaffen, wie das des Tiber, des Arno, Garigliano u. a., welche teils dem appenninischen Faltenlande, teils dem Vorlande angehören, in diesem aber erst ihre volle Entwicklung und Bedeutung er- langen. Hier liegen daher die größten und geschichtlich wichtig- sten Siedelungen der Halbinsel, Neapel, Capua, Rom, Florenz, Siena, Pisa, Livorno u. a. nahe beieinander. Die Trümmer der Tyrrhenis bilden überwiegend Inselitalien, das Appenninenland entspricht Halbinselitalien. Zu diesem, wenn auch berg- und hügelerfüllten, doch vorzugsweise maritimen Italien steht in vielfachem Gegensatze die Poebene, Festlands- italien. Dieselbe läßt sich einem zwischen Alpen und Appenninen eingesenkten, namentlich an der Westseite von den Alpen noch umwallten, sich nach Osten sanft neigenden und verbreiternden Troge vergleichen. Doch weist auch die Sohle des Troges nur selten jene Einförmigkeit auf, welche sonst Ebenen zu kenn- zeichnen pflegt. Zunächst erheben sich kleine vulkanische Hügel- gruppen, wie die Euganeen, oder abgeschnittene äußerste Rand- stücke der Appenninen, wie der Hügel von St. Colombano, mitten aus dem Schwemmlande, ja das ganze ausgedehnte Hügelland von Monferrat, auch ein Teil der Appenninen, ist als ein durch das breite Tanarotal abgegliederter Einschluß der Ebene auf- zufassen. Aber auch sonst läßt der Baumreichtum und die ganze Art der Bodenverwertung nirgends den Eindruck des Einförmigen aufkommen, und fast überall bieten die hohen, zackigen, weiß leuchtenden Kämme und Hochgipfel der Alpen, im Westen zu- gleich auch die Rücken der Appenninen dem Auge willkommene Rastpunkte. Ein großes Senkungsfeld, in welchem die Gletscher der Eiszeit und die Flüsse der Alpen und Appenninen, nament- lich in diluvialer Zeit, ungeheure Geröllmassen abgelagert haben, deren Mächtigkeit im Innern noch nirgends durch Bohrungen hat festgestellt werden können, zerfällt die Poebene nach den Ober- flächenformen, welche diese Ablagerungen hervorrufen, den Boden- arten und der Art der Bebauung in mehrere parallele Gürtel. Ein Gürtel hügeliger, an kleinen Seen, Mooren und auch wirt- schaftlich ins Gewicht fallenden Torfstichen reicher Moränen- ablagerungen bildet den Übergang vom Alpenland zur Ebene. - i67 - An ihn schließt sich der Gürtel der groben diluvialen Flußgerölle und des umgelagerten Moränenschuttes an, unter welchem all- mählich die feinen, vorwiegend tonigen, undurchlässigen Schwemm- gebilde der inneren Ebene hervortreten, auf ihnen die in den Gürteln der gröberen Ablagerungen in die Tiefe gesunkenen Meteorwasser. So bildet sich hier ein besonders wasserreicher Gürtel, der sogenannte Gürtel der FontaniU, in welchem teils von selbst, teils künstlich gesammelt große Wassermengen, Quellen und Flüssen Ursprung gebend oder die Flüsse zum Teil bis zur Schiff- barkeit verstärkend zutage treten und, zu künstlicher Berieselung verwertet, den Ertrag des Bodens außerordentlich steigern. Hier liegen die Reisfelder und jene üppigen, bis achtmal im Jahr zu mähenden Rieselwiesen, auf welchen die bedeutende Viehzucht der Lombardei beruht, die so große Mengen Butter und Käse in den Handel liefert. Bei der Fruchtbarkeit des Bodens drängte sich wohl sehr früh das Bedürfnis auf, die meist den Charakter von Wildwasser tragenden Flüsse zu bändigen oder durch künst- liche, die dann wirklich dem Verkehr, zugleich aber auch der Bewässerung des Landes dienten, zu ersetzen. Diese Wildwasser, die noch heute mit ihren breiten, geröllreichen, veränderlichen Betten wichtige strategische Linien bilden, scheuchen den Men- schen von ihren Ufern, während die künstlichen Wasseradern ihn anziehen. So ist Mailand heute, ähnlich Berlin, der Mittelpunkt eines bewundernswerten Kanalnetzes. Ein großer Teil der in Berieselungen über die Ebene ausgebreiteten Wassermassen geht am unteren Ende der Ebene unterirdisch dem Po wieder zu, der so auf der 80 km langen Strecke von Valenza-Olonetta bei niedrigstem Wasserstande ca. 300 cbm Wasser in der Sekunde von unterirdischen Zuflüssen erhält, d. h. fast so viel, wie der Tessin bei seinem Austritt aus dem Langensee führt. Klima und Pflanzenwelt. Bevölkerung. Zu den am meisten anziehenden Eigenschaften und zu den Schätzen Italiens gehört sein orographisch auffällig bedingtes Klima. Doch sind gerade über dieses unter den Nordländern sehr irrige Vorstellungen verbreitet, die bei praktischer Erprobung zu bitteren Enttäuschungen und falschen Urteilen über das Land führen. Italien ist durch seine Lage sozusagen im Mittelmeer, durch den Schutz, welchen Alpen- und Appenninenwall, einem — i68 — großen Teile des Landes sonnige Südlage verleihend, bieten, auch durch die Einflüsse, welche das heiße Afrika ausübt, klimatisch in hohem Grade bevorzugt und besitzt, örtlich durch die Oberflächengestalt hervorgerufen, wahre klimatische Oasen. Die Umgebung der oberitalischen Seen und das ligurische Küsten- land sind nur die bekanntesten und größten. Das Ausmaß der Wärme ist überall ein bedeutendes, die Menge der Niederschläge überall für das Pflanzenleben ausreichend und wenigstens in der Nordhälfte des Landes fast gleichmäßig über die Jahreszeiten verteilt. Freilich, der große Trog der Poebene, der nur im Osten, aber auch nur in geringem Maße dem Meere zugänglich ist, trägt auch in klimatischer Hinsicht festländischen Charakter. Im Som- mer steigt dort die Wärme in dem Maße, daß sie derjenigen Siziliens gleichkommt und lange genug andauert, daß selbst ein- jährige Erzeugnisse der Tropen, wie der Reis, hier gezogen werden können; im Winter dagegen, wo das Mittelmeer, das ja auch in seinen Tiefen niemals weniger als 12 — 13° C hat, im übrigen Italien wärmeerhaltend wirkt, hier aber nicht einwirken kann, sammeln sich hier auf der Sohle des Troges die kühlen, schweren Luftmassen, die nur langsam zur Adria abfließen können, und namentlich bei Schneebedeckung bilden sich gar nicht selten sehr niedere Tem- peraturen durch Wärmestrahlung aus, zumal der Winter hier auch die niederschlagsärmste, heiterste Jahreszeit ist. Es kommen hier Perioden bis zu 30 Tagen vor, in welchen das Thermometer unter Null bleibt, und in Mailand bietet sich oft genug Gelegen- heit zum Schlittschuhlaufen. Nur hat die kalte Jahreszeit im all- gemeinen kürzere Dauer. Infolge seiner kalten Winter, die nur an den Seen wesentlich gemildert sind, besitzt die Poebene nur wenige Vertreter der mittelländischen Pflanzenwelt, selbst der Ölbaum ist ihr fremd; sie kann höchstens als eine Vorhalle des Südens angesehen werden. Aber auch in dem natürlichen Treib- hause an der ligurischen Küste, so groß und unvermittelt auch der Gegensatz gegen die Poebene ist, kommen Fröste und Schneefälle oft in recht empfindlicher Weise vor, so mild im all- gemeinen die Winter auch sind. Man findet dort in der Mitte des Winters diejenige Wärme, die zu dem Gefühl des Behagens, vollends beim Sitzen im Freien, gehört, keineswegs, namentlich ist die Temperatur bei der reichlichen Besonnung — meist ist im Winter jeder dritte Tag ein ganz heiterer — sehr veränder- — lög — lieh, die Gegensätze zwischen Sonne und Schatten, zwischen windstillen und windigen Punkten, zwischen Tag und Nacht sehr groß. Es bietet sich da allenthalben Gelegenheit zur Erhitzung und Abkühlung in der im allgemeinen ziemUch trockenen Luft, und nachgerade bricht sich die Überzeugung Bahn, daß wenig- stens für Lungenleidende dies Klima nicht vorteilhaft ist. Und ähnlich ist es in ganz Mittelitalien, namentlich an der Ostseite. Erst in Kampanien beginnt wirklich der Süden, und in Sizilien erst findet man eine Wärme des kühlsten Monats, die unserem ]Mai entspricht. Auch der Umstand, daß dort gerade der Winter die eigentliche Regenzeit ist, während der Sommer völlig regenlos bleibt, vermag die Annehmlichkeiten des sizilischen Winterklimas nicht zu vermindern, denn die Gleichmäßigkeit der Wärme wird dadurch noch erhöht, und da die Regen fast nur in einzelnen heftigen Güssen erfolgen, so konnte schon Cicero mit geringer Übertreibung sagen, daß in Sizilien nie so schlechtes Wetter herrsche, daß man nicht jeden Tag die Sonne sehe. Freilich, der Nordländer, der durch überheizte Zimmer verwöhnt zu sein pflegt, muß sich erst daran gewöhnen, eine Zimmertemperatur von 15° C, zu welcher im Januar wohl öfters das Thermometer sinkt, behaglich zu finden. Erst in Süditalien gelangt die Mittelmeerflora mit ihren immergrünen Holzgewächsen zur vollen Herrschaft, und ist wenig- stens eine Zwergform der tropischen Familie der Palmen ein- heimisch, erst dort werden andere Erzeugnisse niederer Breiten so im großen gezogen, daß sie landschaftlich ins Gewicht fallen, wie die tropischen Aurantiazeen. Freilich, die Dattelpalme, ein so malerischer Schmuck der Gärten sie auch ist, selbst schon in Ligurien, vermag auch in Sizilien, wenn auch fortpflanzungsfähige, so doch keine eßbaren Früchte zu zeitigen. Dazu ist die Luft- trockenheit im Sommer nicht groß genug. Die Verbreitung der auffälligsten Mediterrangewächse, des Ölbaums, der Immergrün- eiche, des Erdbeerbaums, des Lorbeers, der Myrthen, Pistazien, Pinien usw., ist aber eine weit geringere als man gewöhnlich an- nimmt, nur etwa die Hälfte Italiens hat vorwiegend mediterrane Flora, in der anderen Hälfte begegnen wir überall unseren mittel- europäischen Gewächsen, noch in Sizilien bestehen die Gebirgs- wälder aus unseren Buchen, Eichen und Kastanien. Nur die von der unserigen grundverschiedene Art der Bodenver\vertung, — lyo — der Anbau von Mais und Reis, die langen Reihen von Maulbeer- bäumen oder rebenumrankten Ulmen u. dgl. macht auch schon in der Lombardei auf den Deutschen einen südländischen, jeden- falls fremdartigen Eindruck. Im Süden tritt, wo nicht künstliche Bewässerung möglich ist, die dort aber fast nur den Fruchthainen gilt, an Stelle des Winterschlafes eine sommerliche Ruhepause der Gewächse; der berühmte sizilische Weizen wird zu Beginn der winterlichen Regenzeit gesäet, wächst ohne Unterbrechung und wird zu Beginn der heißen und trockenen Zeit geerntet. Die kostbarsten Früchte reifen dort im Winter, die Kirsche in einer Zeit, wo sie in Mitteldeutschland kaum zu blühen beginnt. So vielfach ethnisch gemischt auch die Bevölkerung Italiens ist und so bedeutende Abweichungen sie in ihrem physischen Typus, namentlich im Schädelbau, auch aufweist, so zeichnet sich das Land doch vor beinahe allen Ländern Europas durch eine erstaunliche Einheitlichkeit in kultureller und sprachlicher Hinsicht aus. Was heute noch an Franzosen, etwa 120000, in den Tälern der piemontesischen Alpen, an Deutschen, an Slawen, Griechen und Albanesen innerhalb der Grenzen des Königreiches wohnt, unterliegt rascher Aufsaugung. Die italienische Nation genießt außerdem den großen Vorzug, daß bei einer Kopfzahl von 34 Y2 Millionen nur etwa 2 Millionen, also nicht ganz 7°/^, außerhalb der Grenzen des nationalen Staates wohnen, der einer- seits nur o,8°/(j italienische Staatsbürger nicht italienischer Natio- nalität umfaßt. Wie glücklich müssen wir Deutschen die Italiener schätzen, die wir in unserem nationalen Staate 8*^/^ Angehörige fremder Völker beherbergen, während volle 25°/^ unseres Volks- tums — die Deutschen in überseeischen Ländern, die Nieder- deutsch auch als Schriftsprache gebrauchenden Vlamen und Holländer nicht einmal eingerechnet — außerhalb der Reichs- grenzen wohnen und in ihrem nationalen Dasein bedroht sind! Wirtschaftliche Verhältnisse. Wir deuteten bereits an, daß sich die italienische Nation vorzugsweise wohl zur Hälfte, von Boden und Klima angeregt und begünstigt, dem Ackerbau widmet, der freilich wesentlich andere Züge aufweist, als bei uns. Unabsehbare, baumlose Flächen, mit Getreide, Kartoffeln oder Zuckerrüben bestellt, sucht man in Italien vergebens. Im Inneren Siziliens finden wir zwar — 171 — diese einförmige Art der Bodenverwertung wieder, aber es ist ein unentwirrbares Chaos gerundeter baumloser Hügel, welche hier unabsehbar mit Weizenfeldern bestellt sind, so daß das Land nach der Ernte im Sommer öder Steppe gleicht. Sonst aber ist selbst bei Großgrundbesitz, der leider im Übermaß vorhanden ist, wie in den östlichen Provinzen Preußens, der Anbau ein marmig- faltiger, das Land in viele kleine Pachtstücke zerlegt und hat durch die allenthalben zahlreich eingestreuten oder in Reihen gepflanzten Fruchtbäume mehr einen gartenartigen Anstrich. Vielfach ist die Hacke wichtiger als der Pflug. In den Küsten- landschaften mit ihren ungeheuren Hainen von Ol- und anderen Fruchtbäumen, dort, wo die Hänge in Terrassen ausgelegt sind oder künstliche Bewässerung angewendet wird, Kanäle und Feld- grenzen durch Baumreihen bezeichnet werden, da erhält die italienische Landwirtschaft und die Landschaft selbst ein be- sonders eigenartiges Gepräge. Wie ungeheuer muß z. B. die Zahl der INIaulbeerbäume sein, trotzdem Seidenzucht eigentlich mehr als Nebenbeschäftigung und meist nur im kleinen getrieben wird, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Italien jährlich für 320 Mill. Lire Rohseide, wovon 250 Millionen allein aus der Lombardei, zur Ausfuhr gewinnt! Es mag die künstlich bewässerte Fläche jetzt ca. 20000 qkm betragen, am meisten in der Poebene für Reis- und Futterbau. Je weiter nach Süden, um so kostbarer und ertragreicher ist künstliche Bewässerung. Konnte doch schon Martial in Ravenna wünschen, lieber eine Zisterne mit Wasser, das er teurer ver- kaufen könne, als einen Weingarten zu besitzen. Die ältesten und sorgsamsten, zum Teil unterirdisch geführten Wasserleitungen und Wasserfänge zu Berieselungszwecken besitzt die Conca d' Oro von Palermo. Dieselben gehen wohl auf die Araber zurück. Dort gibt eine zur Bewässerung eines Apfelsinenhaines verwendete Quelle, die nur i Liter Wasser in der Sekunde zu liefern ver- mag, doch eine jährliche Rente von 3000 Lire, eine Summe, von welcher wohl eine einfache bürgerliche Familie zu leben vermag. Welch bequemer Besitz! In Oberitalien gibt bewässertes Land den doppelten, ja vierfachen, in Sizilien bis 20 fachen Er- trag, und man rechnete in den 70er Jahren, wo die Erträge wohl am höchsten waren, vom Hektar Apfelsinengarten 3600 Lire Rohgewinn. Auch insofern weicht die italienische Art, den Boden auszunutzen, von der unseligen ab, als das Klima dort erlaubt, nicht nur mehrere Ernten im Jahre nacheinander zu erzielen, bei Rieselwiesen in der Lombardei bis zu acht Schnitten, sondern zwei, ja drei Gewächse zu gleicher Zeit, wie etwa Ölbäume, Reben und Weizen. Es lohnt der Ackerbau, in dieser Weise mehr als Gartenbau betrieben, so reichlich, daß selbst Berg- hänge, die bei uns nur Wald hervorzubringen vermöchten, bis hoch hinauf in gemauerten Terrassen ausgelegt sind. Die Küsten- und Hügellandschaften sind fast überall der Baumzucht gewidmet und bieten dadurch besondere Reize. Die Fruchtbäume lassen den Waldmangel weniger schwer empfinden. Die Mannigfaltig- keit der gezogenen Gewächse kennzeichnet ebenfalls die ita- lienische Landwirtschaft. Namentlich gilt dies von den Frucht- bäumen, Unter unsere mitteleuropäischen mischen sich tropisch- indische, tropisch-amerikanische, japanische u. dgl. Der Ölbaum allein, der im westlichen Ligurien und anderwärts ganze Land- schaften wie bewaldet erscheinen läßt, bedeckt eine Fläche so groß wie das ehemalige Kurhessen; Apfelsinen-, Limonen- und Mandarinenbäume zählt man etwa sechzehn Millionen Stück, wo- von zwei Drittel allein in Sizilien. Die Rebe, deren Anbau be- ständig gestiegen ist, nimmt eine Fläche von 20000 qkm in Anspruch und liefert im Mittel etwa 35 Millionen Hektoliter Wein. Italien kommt so unmittelbar hinter Frankreich und macht jetzt auch in der Behandlung des Weines Fortschritte. Und welche Fülle von Gartenfrüchten, Gemüse u. dgl. bringt das Land zum Teil im Winter hervor, Schätze, deren Verwertung für Mittel- und Nordeuropa noch in den Anfängen steht! Überhaupt könnte Italien aus seinen Bodenerzeugnissen, die heute noch zum Teil wegen schlechter Behandlung minderwertig oder nicht ausfuhr- fähig sind, weit, weit größeren Nutzen ziehen; wie die italienische Landwirtschaft, wenn auch Italien das klassische Land des Acker- baues genannt werden kann, heute meist nicht auf der Höhe steht, ja örtlich im Rückgang ist, Ackerbau durch Weidewirtschaft verdrängt wird. Am schlimmsten ist es in dieser Hinsicht in der römischen Kampagna, die heute menschenleerer daliegt als je- mals, so daß tatsächlich die Hauptstadt Italiens mitten in einer entvölkerten Steppe liegt. Erst 20 — 25 km von Rom findet man am Albaner Gebirge, das aber ebenfalls sich wie eine Insel aus menschenleerem Gebiet erhebt, die nächsten bewohnten Orte' — 173 — Dort, wie in anderen ähnlichen Kampagnas Italiens, ist es der Großgrundbesitz, welcher noch immer ohne Verständnis für seine sozialen Aufgaben und Pflichten das Land entvölkert, indem er sich am besten zu stehen meint bei Pacht- und Weidewirtschaft; zählte man doch 1881 — und seitdem ist es nicht besser ge- worden — in der ganzen römischen Kampagna an dauernden Bewohnern nur 764, also nur 0,264 auf i qkm, während die ganze Volksdichte von Italien 113 beträgt! Güter von 20 qkm Größe sind nur von zwei Personen dauernd bewohnt! Dafür steigen alljährlich 10 000 Lohnarbeiter, wahre Sklaven der Unter- nehmer, aus den Abruzzen herab, um anzubauen, was noch an- gebaut wird, und nach harter, entbehrungsreicher Arbeit, meist mit malariasiechem Körper und kärglichen Ersparnissen in die heimischen, übervölkerten Berge zurückkehren. Ähnlich traurig ist die Lage der den Boden bebauenden Bevölkerungskreise fast überall in Italien, einer der Krebsschäden des schönen Landes. Während so die Weidewirtschaft und der Großgrundbesitz an lind für sich sehr fruchtbare Landschaften entvölkern, sind ge- wisse Gebirgslandschaften bei geteiltem Besitz übervölkert. Wenn auch örtlich Viehzucht vorherrscht, so ist Italien doch ein vieharmes Land, wie das seinem Klima und seiner Pflanzenwelt entspricht. Denn dem Süden fehlen die saftigen Wiesen, welche das Rind liebt, nur Schafe und Ziegen finden dort die ihnen zusagende Nahrung. Nur im Polande wird be- deutende Rinderzucht betrieben und Butter, namentlich aber die berühmten Käse, Parmesan, Gorgonzola usw., in Menge ge- wonnen und von Mailand aus in den Handel gebracht. Aber selbst die Schafzucht deckt nicht den eigenen Bedarf Italiens an Wolle. Daß Italien an inneren Schätzen arm sein muß, suchten wir schon früher zu erklären. In der Tat ernährt der Bergbau nur einen geringen Prozentsatz der Bewohner. Obenan steht die Schwefelgewinnung im Tertiär Siziliens, die, noch immer eine Art Raubbau, etwa 35 000 Arbeiter beschäftigt und kärglich entlohnt. Ihr Wert erreicht 40 Millionen Lire jährlich. Die volle Ver- wertung des altberühmten, in unerschöpflichen Mengen dicht am Meeresufer anstehenden Eisens von Elba leidet unter dem völligen Mangel an Steinkohlen im Lande selbst. Die Gewinnung von Silber und Kupfer im toskanischen Erzgebirge, auf welcher die — 174 — berühmten Metallarbeiten der alten Etrusker beruhten, von Blei, Zink und anderen Erzen, namentlich im südlichen Sardinien, wo jetzt der Bergbau durch fremden Unternehmungsgeist im Auf- blühen ist, erreicht noch nicht den Wert des sizilischen Schwefels. Doch ist der Bergbau Italiens in aufsteigender Bewegung. Dazu kommt der Reichtum an Steinen^ welcher den Steinbau im ganzen Lande so wesentlich gefördert und italienische Steinarbeit^r zu überall geschätzten und gesuchten gemacht hat. Die Marmor- gewinnung von Massa, Carrara und Serravezza beschäftigt allein 8000 Arbeiter und gibt einen jährlichen Ertrag von 20 Millionen Lire. Dafür, daß Italien Steinkohlen entbehrt, ist seine immer mehr aufblühende Gewerbetätigkeit schon heute bedeutend. Ihr Hauptsitz ist das Poland, wo sie sich durchaus bodenständig besonders durch Verwertung der Triebkräfte der Alpengewässer entwickelt hat. Vielfach drängen sich in den Alpentälern die großgewerblichen Anlagen, und die elektrische Kraftübertragung verheißt hier noch eine große Zukunft. Seiden- und Wollen- spinnerei und -Weberei, also durchaus bodenständige Erwerbs- zweige, stehen obenan, erstere allein beschäftigt 200000 Men- schen. Ihnen reiht sich die Verarbeitung der Baumwolle an, die während des amerikanischen Bürgerkrieges im Süden im großen gezogen wurde und in Sizilien heute wieder Boden zu gewinnen scheint. Die Gegenwart des italienischen Handels- und Seeverkehrs, die italienische Handelsflotte von heute, ob- wohl sie zu den ersten Europas gehört, bleibt weit hinter der Vergangenheit zurück. Wichtig ist aber die Fischerei in einem großen Teile des Mittelmeeres. Die auf Edelkorallen liegt ganz in italienischen Händen und^ liefert einem eigenartigen Zweige des vaterländischen Kunstgewerbes den Rohstoff. Doch hat die Entwicklung des Verkehrs in Italien rasche Fortschritte gemacht durch Schaffung von Verkehrswegen, an denen es dem Süden fast ganz fehlte. Was die Kulturstaaten Europas im Laufe von Jahrhunderten geschaffen haben, das mußte, wenigstens im ehe- maligen Kirchenstaate und im Königreich Neapel, wo man ge- flissentlich bemüht gewesen war, den Verkehr zu unterbinden, in Jahrzehnten nachgeholt worden. Besaß doch Sizilien 1863 erst 9 km Straßen, und besuchte ich dort noch 1875 eine Stadt von 20000 Einwohnern, die noch von keiner fahrbaren Straße er- reicht wurde. 175 Volksdichte und Siedelungskunde. Für ein vorwiegend ackerbauendes Land ist Italien mit 1 1 3 Köpfen auf das Quadratkilometer sehr dicht bevölkert, einzelne Gegenden um so dichter, als andere, kaum minder fruchtbare, völlig menschenleer sind. Das nur ackerbauende Sizilien hat 141 Köpfe auf i qkm, Kampanien 194 und die zu- gleich gewerbtätige Provinz Mailand gar 454. Menschenleere Einöden schafft in Italien Großgrundbesitz im Bunde mit Malaria. Letztere verlangsamt die natürliche Volksvermehrung und er- schwert den Anbau und selbst den Verkehr ganzer Landschaften. Sind doch von den 6g Provinzen Italiens nur 6 malariafrei! Auf gewissen Eisenbahnlinien in Sardinien, Sizilien, Kalabrien und Toskana müssen alle Beamten besser genährt, höher besoldet und für die Nacht nach gesunden Stationen gebracht werden. Aber auch damit wird die Sterblichkeit unter denselben nur auf I2y2% herabgedrückt. In dem unglücklichen Kosenza, das im Durchschnitt einmal im Jahrhundert von Grund aus durch Erd- beben zerstört wird, kommen auf 1000 Mann Besatzung jährlich 1500 Erkrankungen! Viele, viele Millionen kostet die Malaria dem Staat alljährlich. Dennoch ist die natürliche Volksvermehrung eine günstige und die Zunahme der Bevölkerung trotz der stetig wachsenden Auswanderung eine beträchtliche. Die Volkszahl des Königreiches stieg von 1871 bis igoi von 26,8 Millionen auf 32y2. Die Art zu wohnen weicht in Italien von derjenigen aller Länder Europas, bis auf einen Teil von Spanien, insofern ab, als kleine Siedelungen, Dörfer in deutschem Sinne, in größeren Teilen Italiens unbekannt sind. Selbst in rein ackerbauenden Gegenden bilden Anhäufungen der Menschen nach Tausenden, wo man also in Deutschland von Städten sprechen würde, die Regel. Nur einige Landschaften des Nordens, Venetien, die Emilia, Toskana, wo nur 50 — 55 7o ^^^ Einwohner in geschlosse- nen Ortschaften beisammen wohnen, machen eine Ausnahme. Aber auch dort gibt es weniger Dörfer als verstreute Einzel- häuser oder Einzelhöfe. Im größten Teile Siziliens sind Dörfer in unserem Sinne unbekannt. Die mehr als 3530000 Bewohner der Insel verteilen sich, von einer sehr geringen Zahl von Berg- werken und Meierhöfen abgesehen, auf 67g Ortschaften, deren jede demnach im Durchschnitt 3g 54 Einwohner haben müßte. In — 176 — der Provinz Girgenti wohnen von ihren 3 1 2 000 Bewohnern nur 4000 außerhalb großer geschlossener Ortschaften, wohl meist auf den Schwefelbergwerken, und es zählt diese Provinz 16 Städte von 8 — 20 000 Einwohnern. Die rein ackerbauende apulische Provinz Bari hat bei 679000 Einwohnern 15 Städte von 15 — 58000 Bewohnern. Es ist klar, daß dieses gedrängte Wohnen, weit weg von den zu bebauenden Feldern, große Nachteile hat, auch sehen wir allenthalben, daß sich in den letzten Jahrzehnten in Süditalien, seit die öffentliche Sicherheit eine bessere geworden ist und der Verkehr sich belebt, mehr und mehr die Neigung geltend macht, sich wieder inmitten der Felder, an den Verkehrs- wegen, namentlich den Eisenbahnen, an der Küste, niederzulassen. Es entwickeln sich wieder kleine, verstreute Siedelungen, und die ungünstig gelegenen größeren Mittelpunkte beginnen zu veröden. Das beste Beispiel dieser Art bietet wohl Monte S. Giuliano, der alte Eryx, in Westsizilien, das nur noch eine Sonn- und Feiertagsstadt ist. Es wäre eben durchaus irrig, dieses ge- drängte Wohnen der Menschen in wenigen, weit voneinander entfernten großen Ortschaften überall und durchaus aus der Landesnatur herzuleiten. Natürlich feste Lage, gute Häfen, Quellen, Freiheit der Örtlichkeit vom Fieber und ähnliche Ur- sachen kommen gewiß in Betracht, in erster Linie geben aber geschichtliche Vorgänge die Erklärung dieser Erscheinung. In den endlosen Fehden und Kriegen, welche Italien im Mittelalter und bis in die neueste Zeit heimgesucht haben, drängten sich die Menschen an den natürlich festen Punkten zu gemeinsamer Ab- wehr zusammen, namentlich konnten sich an den Küsten Süd- .italiens gegenüber den unablässigen Überfällen der kleinafrika- nischen Seeräuber — wir haben selbst noch in Sizilien alte Leute gekannt, welche in die Sklaverei nach Tunis geschleppt worden waren — nur solche Küstenplätze halten, welche mit einem Hafen natürliche Festigkeit verbanden; wo solche Punkte fehlten, da wurde die Bevölkerung, wie namentlich in Kalabrien, von den Küsten weg auf die steilen Höhen im Angesichte des Meeres gedrängt. Andererseits aber hat sich auch die Feudalzeit in diesen großen Siedelungen verewigt, indem die zahlreichen kleinen Herren Mittel- und Süditaliens ihren Herrschersitzen mit allen Mitteln Glanz zu verleihen suchten, in Unteritalien in der spani- schen Zeit die Feudalherren bemüht waren, durch Schaffung großer — 177 — Güter mit namhaften Mittelpunkten ihr Ansehen zu heben, neue Ehren und Titel zu erlangen. Fast die Hälfte aller sizilischen Städte besteht aus derartigen geschichtslosen Neugründungen aus der Zeit des i6. bis i8. Jahrhunderts. Die andere Hälfte da- gegen geht auf Phöniker, Karthager, Griechen, wohl auch noch weiter zurück und umfaßt, durch ausgezeichnete Lagenverhältnisse bedingt, hervorragend geschichtliche Stätten. Sehr bezeichnend ist es, daß in Insel- und Halbinselitalien alle größeren, geschichtlich wichtigen Städte am Meere liegen, meist mit einem Hafen natürliche Festigkeit der Lage verbindend: Messina, Catania, Agosto, Syrakus, Trapani, Palermo, Milazzo, Tarent, Brindisi, Ancona, Neapel, Pozzuoli, Gaeta, Cagliari usw. Nur Rom und Florenz machen eine Ausnahme, obwohl auch sie beide dem INIeere nahe liegen und sehr wichtige Seeverbindungen, Florenz namentlich im späteren Mittelalter, wo es sich zur Erbin des vom Meere abgedrängten Pisa machte, unterhielten. Beide liegen auch bereits, wie die Städte Oberitaliens, an Flüssen, während in Süditalien die Flüsse von größeren Siedelungen durch- aus gemieden werden. Bei beiden fallen besonders die geo- graphisch bedingten Beziehungen zum Appenninenlande, zur adriatischen Küste und zum Norden ins Gewicht. In Ober- italien liegen nur zwei Großstädte am Meere, Venedig und Genua, beide mit natürlichen Häfen Festigkeit der Lage verbindend; ersteres spiegelt mehr die große Vergangenheit wieder, während letzteres die Gegenwart Italiens zur See veranschaulicht. Venedig lag bis zur Bahnung guter Alpenstraßen und bis zur Durch- bohrung des St. Gotthard für die Beziehungen zu Deutschland und zum Orient günstiger, wie dies noch heute nahe beieinander am Canal grande das deutsche und das türkische Kaufhaus ver- anschaulichen. Selbst wenn es gelingt, die Naturkräfte, welche Venedig bedrohen, dauernd abzuhalten, wird diese Stadt doch kaum wieder mit Genua zu wetteifern vermögen, denn die Be- ziehungen zum Osten, auch zu dem fernsten, für welchen Genua kaum minder günstig liegt, werden in absehbarer Zeit nicht die Bedeutung erlangen, wie diejenige zur Neuen Welt, der sich Genua zuwendet, dem in der Lombardei und Piemont, weiterhin in Südwestdeutschland ein reiches Hinterland erwachsen ist, während es zugleich der natürliche Mittelpunkt der dicht be- siedelten, rührigen ligurischen Küste von Spezia bis Ventimiglia Fischer, Mittelmeerbilder. 12 - 178 - ist. Venedig dagegen thront einsam mitten in einem Sumpf- und Haffgebiet am Außenrande eines 15 bis 20 km breiten unwirt- lichen Gürtels, der das besiedelte Innere vom Meere scheidet. Neben diesen beiden einzigen Seestädten besitzt aber Festland- italien noch ein Mailand, Turin und Bologna, neben vielen anderen bedeutenden Brennpunkten geschichtlichen Lebens: den Alpenrandstädten Verona, Bergamo, Brescia, Como, den Appen- ninenrandstädten Modena, Parma, den Poübergangstädten Pia- cenza und Cremona, den auch strategisch wichtigen Festungen der Poebene Mantna und Alessandria, Ferrara usw. Bologna ist der Schlüssel Halbinselitaliens von Norden her und der Knoten- punkt aller dorthin, sei es längs des Meeres, sei es über den Appennin, gehenden Straßen; Turin, der natürliche Mittelpunkt Piemonts, vereinigt in sich alle Straßen über die Westalpen; Mai- land dagegen ist die Hauptstadt des ganzen Festlanditalien, der Sitz und Knotenpunkt aller Beziehungen desselben nach West und Ost, nach Süd und Nord, namentlich aber nach Norden, wie sich dies in der sehr bedeutenden deutschen Kolonie Mai- lands schon ausprägt. Der Handel und die Gewerbtätigkeit, welche die reiche Umgebung schon nährt, haben Mailand zugleich zum großen Geldplatze Italiens, in mancher Hinsicht, wie schon in spätrömischer Zeit, zu dessen Hauptstadt gemacht. Mailand hat seiner Lage nach viel Ähnlichkeit mit Berlin; wie dieses liegt es im Flachlande als Knotenpunkt zahlreicher, meist künstlicher Wasserstraßen und noch zahlreicherer Landstraßen, welche Be- ziehungen nach Ost und West, aber auch nach Nord und Süd vermitteln, mitten zwischen zwei größeren meridionalen Flüssen und zwischen zwei natürlichen Grenzlinien, Appennin und Alpen, die dem Mittelgebirgsrande und der Ostseeküste entsprechen. Doch sind alle Verhältnisse bei Mailand räumlich beschränktere. Der gewaltige Aufschwung von Mailand prägt sich am besten darin aus, daß sich seine Bevölkerung in den letzten 30 Jahren, also ebenfalls ähnlich Berlin, verdoppelt hat und jetzt 491 000 beträgt. Und Mailand verdankt diesen Aufschwung nur sich selbst, wäh- rend Rom, das seit 20 Jahren seinen Charakter sehr wesentlich geändert und seiner Bevölkerung nach (463 000) sich bereits Mailand nähert, dies nur seiner Eigenschaft als Hauptstadt verdankt. Beide übertrifft (528000) das menschenwimmelnde Neapel. — 179 — Schon in dem raschen Wiederaufblühen dieser und fast aller Städte Italiens, in der Vermehrung der Bevölkerung erkennen wir, daß dies Land, wenn wir es noch einen Augenblick als Staat betrachten, in fortschreitender Entwicklung begriffen ist. Der Staat Italien ist heute trotz aller Schwierigkeiten, die sich zeitweilig namentlich in der üblen Finanzlage auftürmen, als völlig in sich gefestigt, als selbst einen starken Stoß von außen zu er- tragen befähigt anzusehen. Die Schwierigkeiten, mit welchen man heute ringt, gehen alle auf die Art und Weise zurück, wie der Einheitsstaat geschaffen worden ist. An den so kleinen Kern des sardinischen Königreichs hat sich das ganze übrige Italien ankristallisiert, durch den Willen des Volkes, nicht durch Er- oberung. Damit mußte eine Menge veralteter Einrichtungen, ein ungeheures Heer schlecht bezahlter und vielfach unfähiger Be- amten übernommen, Empfindlichkeiten jeder Art geschont werden. In der Hälfte des Landes mußten alle Kulturaufgaben, die dort geflissentlich vernachlässigt worden waren, Straßen, Eisenbahnen, Häfen usw. so rasch wie mögUch, selbst unter den ungünstigsten Bedingungen und dem schwersten Lehrgeld geschaffen werden. Schulen waren im Süden so gut wie gar nicht vorhanden. Das fluchwürdige bourbonische System hatte eine ungeheuere Korrup- tion, geheime Gesellschaften, Räuberwesen und dergleichen groß- gezogen. So stieg die Schuldenlast von Staat und Gemeinden ins Ungeheuere! Wenn dennoch heute ein großer Teil jener Aufgaben gelöst ist — in der kurzen Spanne Zeit von kaum 30 Jahren — , der Staatskredit befestigt, die Fehlbeträge ge- mindert, so ist das eine Leistung, auf welche Italiens Herrscher und Volk stolz sein können. Das italienische Volk arbeitet heute rastlos auf allen Gebieten des materiellen und des geistigen Lebens, die schmarotzenden Müßiggänger der höchsten wie der niedrigsten Schichten früherer Zeiten sterben aus, ein neues Ge- schlecht wächst heran und ist zum Teil schon herangewachsen. Man wandle nur eine Stunde offenen Auges durch die Straßen von Mailand, Genua oder selbst Palermo, und man wird sich, natürlich der Landesnatur entsprechend Rechnung tragend, von der Richtigkeit dieser Beobachtung überzeugen. Überall herrscht Leben und Vorwärtsschreiten. Die italienische Nation steht heute mitten in einer Wandlung ihres ganzen nationalen Daseins. Die Zeit der übergroßen Abhängigkeit von Frankreich, mehr noch im — i8o — gesamten Geistesleben als im wirtschaftlichen, der blinden Be- wunderung der romanischen Vormacht ist vorüber, das italienische Volk hat angefangen, sich auf sich selbst zu besinnen, sein Kulturleben auch mit den Erzeugnissen deutschen Geistes zu befruchten, dem germanischen Volkstume Aufmerksamkeit zu schenken, zunächst in den Wissenschaften, voran den Natur- und exakten Wissenschaften, weiterhin aber auch bereits im wirtschaft- lichen Leben. Man ist erstaunt, heute so viele Italiener kennen zu lernen, die unsere Sprache, so schwierig sie ihnen ist, ver- stehen und selbst sprechen, die damit ihre Hochachtung für uns und unser Vaterland greifbar darlegen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer Teil der italienischen Nation uns heute aufrichtige Teilnahme entgegenbringt, es wird nur zum Wohle des deutschen Volkes und des deutschen Vaterlandes sein, wenn wir unsererseits uns noch mehr als bisher bemühen, durch Reisen im Lande selbst die uns fremde Landesnatur verstehen, dem uns fremden Volkstume gerecht zu werden und damit die geistigen und wirtschaftlichen Bande zwischen beiden Völkern, welche auch nicht der leiseste Interessengegensatz scheidet, deren Geschicke vielmehr eng miteinander verbunden sind, um so fester zu knüpfen. 2. Die sizilische Frage. 0 Eine in Sizilien oft gehörte Klage, namentlich von Seiten der Gebildeten, ist die, daß man ihr Land und den Charakter der Bewohner draußen, das heißt vor allen Dingen auf dem italieni- schen Festlande, nicht kenne, daß sich niemand die Mühe gebe, es kennen zu lernen, usw. Vor allen Dingen hört man aber l) Veröffentlicht 1875 in der Zeitschrift „Im Neuen Reich". Diese Betrachtungen erscheinen mir heute, 30 Jahre später, während deren ich mich noch wiederholt längere und kürzere Zeit in Sizilien aufgehalten und Italien ganz besonders zum Gegenstande meiner Forschungen gemacht habe, zu- nächst im Lichte einer wichtigen geschichtlichen Urkunde. Leider kann man auch heute noch, wie die sich wiederholenden Arbeiteraufstände, die wirt- schaftlichen Krisen, die stetig anwachsende Auswanderung und die sich immer wieder erneuernden erregten Erörterungen in der italienischen Kammer zeigen, von einer sizilischen Frage sprechen und sind diese Schilderungen vielfach noch heute zutreffend, wenn auch manches, wie das Verkehrswesen, ge- bessert ist. — löl — immer und immer wieder von einem Ende der Insel bis zum andern, in den großen Seestädten sowohl, wie in den vergessenen und verlorenen Ackerstädten des Innern den Vorwurf, daß die Regierung kein Herz und Verständnis für die Insel habe, daß man es nie in den maßgebenden Kreisen für nötig erachtet habe, aus eigener Anschauung das eigentümliche Sonderwesen der Insel, ein Ergebnis ihrer besonderen Natur und der Geschichte eines Jahrtausends, kennen zu lernen und den sich daraus er- gebenden wirklich berechtigten Eigentümlichkeiten in Anschauungen, Wünschen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Diese Klage ist leider nur zu berechtigt; man lese nur die vertraulichen Be- richte, die die Präfekten in den letzten Monaten an ihren Mi- nister gesandt und die dieser merkwürdigerweise, um mich eines noch parlamentarischen Beiwortes zu bedienen, zu veröffentlichen keinen Anstand nahm. Ich habe mich selbst oft genug überzeugt, daß die amtliche und gesellschaftliche Stellung der Beamten in Sizilien eine sehr dornenvolle ist, kaum aber berechtigt dies wohl das Haupt einer Provinz, die gesamte Bevölkerung derselben als aus Dieben, Räubern und Mitgliedern geheimer Blutsauger- gesellschaften bestehend zu kennzeichnen. Worüber soll man hier mehr staunen, über den Leichtsinn, die Oberflächlichkeit, die Ungerechtigkeit oder die Verbitterung und den Mangel an Selbstbeherrschung, die aus diesem Urteil sprechen? Derartige Dinge würden überall gerechte Entrüstung erregen, wie viel mehr bei einem Volke wie das sizilianische , das überall den eines großen Volkes würdigen Zug hervorkehrt, daß es von jedem, der mit ihm in Berührung kommt, volle Hingabe fordert, und das von der langen spanischen Herrschaft außer anderen spanischen Eigentümlichkeiten auch den spanischen Stolz bewahrt hat. Schreiber dieser Zeilen hat fast ein Jahr in Sizilien gelebt, hat wiederholt die Insel durchwandert und sich diese ganze Zeit ernster Arbeit nur mit ihr und ihren Bewohnern beschäftigt und bekermt offen, daß sein anfänglich auch ungünstiges Urteil bei genauerer Kenntnis einem gerechteren weichen mußte. Es wird wenige Länder auf der Erde geben, die bei so geringer Aus- dehnung in so hohem Grade jedem Streben des menschlichen Geistes Stoff, Nahrung und Förderung zu bieten vermögen. Der Altertums- und Kunstforscher, der Botaniker und Zoolog, der Volkswirtschaftler und Geschichtsforscher, besonders bei philo- — l82 — sophischer Geschichtsbetrachtung, der Völker- und Erdkundler wie der Sprachforscher, jeder kann in Sizilien sich reiche Belehrung holen. Über kein Land und kein Volk wird man so schwer urteilen können, wie über das sizilianische, nur bei gründlicher Kenntnis seiner Natur und vor allem seiner Geschichte soll man es wagen, und auch nur an der Hand der Vergleichung , mit einem Auge, dessen Blick durch eigene reiche Anschauung und Erfahrung für ein Verständnis fremden Volkstums geschärft ist. Wie viel ist aber in dieser Hinsicht gegen Sizilien gesündigt worden! Jeder flüchtige Reisende hat in unserem vielschreiben- den Zeitalter den dringenden Beruf gefühlt, der erstaunten Welt seine tiefen Eindrücke und scharfen Beobachtungen aufzutischen. Es ist köstlich, zu beobachten, wie die heiße Natur von Land und Leuten in Sizilien auch auf das Gehirn der fernen Reisen- den gewirkt hat: Maß zu halten, ernst zu erwägen, nach Grün- den und Erklärungen zu fragen, das tut keiner, alle bewegen sich in Extremen. Der eine sieht nur Wüsten, Ungeziefer, Faul- lenzer, Diebe und Räuber, wie der Präfekt von Caltanisetta ; der andere findet nicht Superlative genug, um dieses irdische Para- dies und seine liebenswürdig-ritterlichen Bewohner gebührend zu erheben. Beiden hoffe ich gleich fern zu bleiben und zu zeigen, daß der kühle Kopf des nordischen Forschers auch unter der Glut der sizilischen Sonne seinen Schwerpunkt nicht verloren hat. Sollten diese Zeilen einem Bewohner Siziliens, vielleicht einem jener Männer, die ich dort kennen und hochachten gelernt habe, in die Hände fallen, so bedarf es wohl kaum der Ver- sicherung, daß Schreiber dieser Zeilen ein aufrichtiger und vor allem dankbarer Freund des sizilischen Volkes ist, daß er kein Wort geschrieben, ohne ernste Abwägung und ohne es als heilige, wenn auch oft bittere Wahrheit erkannt zu haben. Stets hat ihm sein Grundsatz vorgeschwebt, den für seinen treuesten Freund zu halten, der ihm die Wahrheit sagt, ein Grundsatz, dem frei- lich in der Masse des sizilischen Volkes noch einige Verbreitung zu wünschen wäre. Ich hoffe bald Gelegenheit zu haben, in umfassenderer Weise Sizilien für das hingebende Entgegenkommen, das mir von vielen seiner edelsten Vertreter zuteil geworden, meinen Dank darzubringen. « Sizilien hat in der letzten Zeit mannigfach die Augen der Welt auf sich gezogen und viele jener Krebsschäden, an denen - i83 - es noch immer leidet, sind wieder einmal ans Licht gezogen worden. Man hat bei Gelegenheit der stürmischen Verhandlungen über das Sicherheitsgesetz die Stimmung der Sizilianer vollauf kennen lernen können und wie ich dieselbe aus eigener An- schauung in allen Teilen der Insel kenne, ist leider zu fürchten, daß man mit der Untersuchungskommission und dem Antrage Pisanelli, durch den man in gewohnter Weise Zeit zu gewinnen und das glimmende Feuer zuzudecken, statt es gründlich aus- zulöschen sucht, traurigeren Vorgängen nicht vorbeugen wird. Die sizilische Frage, denn daß eine solche vorliegt, kann man sich nicht verhehlen, ist eine wesentlich wirtschaftliche, ge- sellschaftliche und Kulturfrage, weniger eine politische. Sie ist zu einer so brennenden geworden dadurch, daß durch ein tückisches Verhängnis Italiens Einheit von Süden nach Norden, statt umgekehrt, geschaffen worden und es bei der Weise, wie sie sich vollzogen hat, unmöglich war, ein edles Volk, das für seine Freiheit Opfer gebracht, einer Übergangs- und Vorbereitungs- zeit von zwei bis drei Jahrzehnten zu unterwerfen. Man darf gewiß Sizilien, was die Höhe der Kultur anlangt, nicht mit Grie- chenland vergleichen, dennoch aber muß man sagen, wenn man jenes bei der besten aller Verfassungen in beständiger, mehr oder weniger latenter Anarchie dahinsiechen sieht, weil eben die Masse des Volkes nicht reif und vorbereitet ist für den Genuß jenes von anderen Völkern in harten und langen Kämpfen er- worbenen Gutes der Freiheit und Selbstbestimmung, sagen, daß in Sizilien die Dinge nicht viel anders liegen. Ein Volk, das unter dem geistig beschränktesten und rohesten Despotismus, der es absichtlich mit allen Mitteln von allen Segnungen der Zivili- sation fern hielt, ein halbes Jahrtausend geseufzt hat, ohne je als solches den Schatten eines Rechtes über das geringfügigste der eigenen Interessen zu verfügen, besessen zu haben, wird un- möglich imstande sein, im Handumdrehen alle die furchtbaren demoralisierenden Folgen eines fluchwürdigen Despotismus ab- zuschütteln und von dem ihm zustehenden Rechte der Freiheit und Selbstbestimmung, so würdig es sich derselben immer durch große Taten gezeigt hat, einen rechten Gebrauch zu machen. Sizilien hätte einer eisernen Hand, verbunden mit einem liebe- vollen und fürsorgenden Herzen, bedurft, die beide mit Tatkraft und Einsicht das Volk aus der Erniedrigung, in die es Spanier - i84 - und Bourbonen versetzt, emporgehoben hätten. Die Verfassung ließ freilich einem solchen Vorgehen keinen Raum, aber auch Tatkraft und Einsicht sind leider seit fünfzehn Jahren in Sizilien recht wenig von den Regierenden gezeigt worden. Es ist, wie ich näher nachweisen werde, ungeheuer viel für Verbesserung der Zustände geschehen, mehr als man hätte erwarten können, aber alles ging von einzelnen einsichtigen Männern aus, die aber nur in einem engen Kreise wirken koimten; wo sie fehlten, ist denn auch wenig oder nichts geschehen. In einem Lande, wo das Selbstdenken und Selbsthandeln Jahrhunderte hindurch als das größte Verbrechen von selten der Regierenden angesehen wurde, wäre es Sache der neuen nationalen Regierung gewesen, überall die Initiative zu ergreifen, voran zu gehen und die Be- völkerung mit sich zu reißen. Daß die italienische Regierung das nicht getan, ist ein schwerer Fehler, der sich jetzt bitter rächt. Sizilien befand sich noch 1860 tief im Mittelalter, das sagt alles; durch den gewaltsamen Sprung in die Neuzeit sind alle Verhältnisse erschüttert worden. Das Feudalwesen, obwohl längst abgeschafft, bestand tatsächlich noch fort, Volksschulen waren kaum vorhanden, Landstraßen in schüchternen Anfängen, Eisenbahnen gehörten noch zu den fabelhaftesten Dingen. Von letzteren gibt es jetzt ungefähr 270 km. Welch herrliches Er- gebnis einer fünfzehnjährigen Bautätigkeit! Und dies in einem Lande, wo es galt durch dieselben nicht nur weite Striche des Inneren, deren Erzeugnisse keinen Weg zur Küste hatten und die deshalb fast wertlos waren, aufzuschließen, Handel und Acker- bau zu beleben, sondern vor allen Dingen durch gesteigerten Verkehr sittlich und wirtschaftlich zu heben. Der Bau der Bahn- linien ist allerdings ein schwieriger, ich habe mich selbst davon überzeugt, aber bei ernstem Willen wären diese Schwierigkeiten längst überwunden. Dasselbe gilt von den Straßen. Von 593 km National- und Kommunalstraßen, die der Staat in Sizilien zu bauen hat, waren bis 1872 fertiggestellt 252 km, im Bau waren 288, projektiert 53. Von den 109 zu bauenden Brücken waren gebaut 55 und 9 im Bau, so daß ein großer Teil der fertigen Straßen für fünf Monate im Jahr aus Mangel an Brücken noch unfahrbar war. Dies ist z. B. noch heute der Fall mit der Straße von Palermo nach Girgenti, die die Nord- mit der Südküste ver- bindet und die im Winter durch den angeschwollenen Platani - i85 - durchbrochen wird. An der parallelen Eisenbahnlinie, einer der wichtigsten der Insel, gegen iio km, baut man seit beinahe zwölf Jahren, ohne daß man die Vollendung voraussehen könnte. Man hatte überhaupt von 1860— 1872 für Straßen- und Brücken- bau in Sizilien aufgewendet I4y2 ^Million Lire und Sizilien besaß damals 2630 km Straßen, so daß auf den Quadratkilometer nur 0,090 km kamen, ein Verhältnis, das freilich von Sardinien mit 0,040 noch übertroffen wird, zur Lombardei mit 0,90g, ja sogar zur Emilia, Umbrien und den Marken mit 0,50g in sprechendem Gegensatz steht. Wie es demnach mit den Verkehrsmitteln noch heute steht, sieht man am besten daraus, daß es auf der Südküste noch eine Stadt von 20000 Einwohnern gibt, es ist Sciacca, die noch von keiner Straße erreicht wird. Hier geschieht es nicht selten, daß ein Brief von der Provinzhauptstadt Girgenti, das man durch zehnstündigen Ritt erreicht, im Winter oft drei Wochen braucht; der Postreiter wartet einfach am Ufer der geschwollenen Flüsse, bis das Wasser sich verlaufen hat. Dazu kommt, daß die ganze Südküste ohne Hafen ist — erst vor einigen Jahren hat man Hafenbauten in Porto Empedokle und Licata begonnen — und sich im Winter oft wochenlang kein Schiflf dem ungastlichen Strande nahen darf. Ein Beispiel möge die aus solchen Zu- ständen sich ergebende Lage des Handels veranschaulichen. Ein großes Handelshaus ließ Waren, deren Stadt und Umgegend zum täglichen Leben dringend bedurften, aus Palermo kommen. Durch ungünstige Winde und den Mangel an Häfen — Trapani allein bietet auf der ganzen Strecke Unterkunft — brauchte das damit befrachtete Schiflf statt etwa zwei bis drei Tage deren zweiund- vierzig, kam aber an einem Somiabend so spät an, daß die Ge- schäfte bereits geschlossen waren und es weit draußen auf offenem Meere, um nicht auf den Strand geworfen zu werden, vor Anker o-ehen mußte. In der Nacht brach indessen ein Sturm los und es blieb dem Kapitän nichts weiter übrig, als sich auf hohe See gegen Kap Passero hin zu flüchten. Nach sechs Tagen erschien er wieder vor Sciacca und konnte ausladen; ehe er jedoch wieder volle Ladung eingenommen, brach ein neuer Sturm los, der ihn wieder in See zu stechen zwang und sein nur halb geladenes Schiff in die höchste Gefahr brachte, bis es endlich in einem hellen Augenblicke gelang, volle Ladung zu nehmen. — i86 — Daß unter solchen Umständen im Laufe von fünfzehn Jahren selbst zu Lande noch keine Verbindung geschaffen worden ist und viele Gegenden Siziliens unter ähnlichen Mißständen leiden, ist ein schwerer Vorwurf für die Regierung. Die Erzeugnisse des Landes sinken im Werte, weil ihre Ausfuhr mit großen Unkosten verbunden ist und die Steuern werden um so drückender: das Geld fließt hinaus; nichts oder so gut wie nichts kommt in der Gestalt von gemeinnützigen Arbeiten wieder zurück. Der Staat löste aus dem Verkauf der Güter der toten Hand in Sizilien Millionen über Millionen, wo sie hingekommen, weiß keiner, jedenfalls nicht wieder nach Sizilien: darf man sich da wundern, wenn die Stim- mung der gesamten Bevölkerung in allen Schichten und allen Gegenden der Insel, eine so furchtbar erbitterte ist, wie ich sie gefunden, so daß man das Schlimmste fürchten muß? Nur der Umstand kommt der jetzigen Regierung zu statten, daß die bour- bonische noch schlimmer war und die Leute zu zählen sind, die noch an sie denken. Ich werde weiter unten ausführen, in welchem ziffernmäßig zu beweisenden Verhältnis hier wie anderwärts in Sizilien die Meilenlänge der Straßen und die Zahl der Grundbesitzer zu der öffentlichen Sicherheit steht. In dem Mangel an Verkehrsmitteln und an Energie, wenn nicht an gutem Willen, dieselben zu schaffen, liegt eine der Hauptursachen der üblen Zustände auf der Insel. Mit vollem Recht hat ein sizilischer Abgeordneter es aussprechen köimen, daß man jetzt keiner Ausnahmegesetze bedürfen würde, wenn die Regierung die Millionen, die sie Jahr aus Jahr ein für die öffent- liche Sicherheit ausgegeben hat, auf Herstellung von Verkehrs- wegen und Unterricht verwendet hätte. Es ist damit der Nagel auf den Kopf getroffen: mit Gewalt, mit Ausnahmegesetzen, mit mehr als 50 000 Mann Soldaten und Karabinieri wird man die Ruhe, wenn auch nicht die öffentliche Sicherheit aufrecht erhalten; sobald man aber diese Gewalt einmal nicht mehr haben wird, sobald z. B. ein Krieg das Heer im Norden zu vereinigen zwingt, wird in Sizilien die furchtbarste Anarchie ausbrechen. Wirkliche Besserung der Zustände wird man nur herbeiführen durch Ver- kehrswege, durch pflichtmäßigen Unterricht und durch Umgestaltung der wirtschaftlichen und Besitzverhältnisse. Wie die Verhältnisse jetzt sind, ist es völlig unmöglich, das Räuberunwesen abzuschaffen, - i87 - da man jeden Tag künstlich neue schafft. Eine Besserung würde allerdings durch teilweise Aufhebung der Verfassung, die nament- lich ein energisches Einschreiten gegen die heillose, verworfene Presse von Palermo ermöglichte, schneller und vollständiger zu erreichen sein, wenn man nur der Regierung nach den traurigen fünfzehnjährigen Erfahrungen Tatkraft und guten Willen zutrauen dürfte. Was die Unterrichtsfrage anlangt, so muß man allerdings ein tätiges Vorgehen der Regierung anerkennen, soweit sie über denselben zu verfügen hat. Gerade in bezug auf die Grundlage, den Elementarunterricht, sind aber ihre Befugnisse zu eng be- grenzt. Nach dem bisher bestehenden Schulgesetz hängt derselbe ganz von den Gemeinden ab, die die Kosten dafür aufzubringen, die Lehrer zu ernennen und zu bezahlen haben. Der Elementar- kursus ist eingeteilt in einen unteren und einen oberen, jeder zweijährig. Jede Gemeinde von fünfhundert und mehr Seelen muß eine Schule für Knaben und eine für Mädchen errichten, für den unteren Grad; die Gemeinden über viertausend Seelen müssen zwei volle Schulen einrichten. Dörfer unter fünfhundert Seelen sind nur zur Errichtung einer gemischten Schule ver- pflichtet und auch dies nur, wenn fünfzig Knaben und Mädchen da sind, sie zu besuchen. Natürlich sind diese Bestimmungen lange nicht beobachtet worden, wenn auch ein Fortschritt sicht- bar ist. In ganz Italien kommt erst im Durchschnitt auf 620 Ein- wohner eine Schule, und während in Turin auf 355 eine kommt, gehören in Kalabrien 1400 dazu. Dasselbe Verhältnis ungefähr herrscht in Sizilien, nur ist der Gegensatz zwischen den größeren See- und den Landstädten des Innern, Dörfer gibt es ja fast nicht, noch schreiender. Der Lehrer wird von der Gemeinde er- nannt, muß aber vom Schulrat der Provinz bestätigt werden, und zwar wird der Vertrag, wenn nicht eine besondere Zeit festgesetzt wird, auf drei Jahre geschlossen; dann kann die Gemeinde den Lehrer ohne Angabe der Gründe entlassen. Sein Gehalt bewegt sich zwischen fünfhundert und zwölf hundert Lire! Der Elementarunterricht ist pflichtmäßig und unentgeltlich, vom sechsten bis zwölften Jahre und den Eltern drohen Strafen, wenn sie die Kinder nicht zur Schule schicken. Diese Bestim- mungen sind indessen völlig wertlos; das Gesetz gibt nicht ein- mal an, wer die Strafe zu verhängen habe, wie es angewandt — I«« — werden soll, usw. Man bildete sich ein, es genüge, die Mittel des Unterrichtes zu bieten und jeder werde freudig darnach greifen. Von diesem Irrtum ist man nun freilich so ziemlich zurück- gekommen, wirklichen pflichtmäßigen Unterricht hat man aber auch bei den letzten Verhandlungen im Parlament, im April 1874, nicht durchzusetzen vermocht. Es kommen noch immer nur 6,06 Schüler auf hundert Einwohner und man kann sagen, daß sich nur ^/^ der schulpflichtigen Kinder einschreiben lassen, und auch deren Schulbesuch ist ein mangelhafter. In Sizilien kommen sogar auf hundert Einwohner nur zwei Schulkinder, und die meisten besuchen die Schule nur im Winter. So begreift sich denn auch das Verhältnis derer, die nicht lesen und nicht schreiben können (Analfabeti). Die Zählung von 1861 ergab deren für ganz Italien 78, 29^^, für Sizilien 90,13^0, die von 1871 für Italien 73,27 7q, für Sizilien 87,22^/0; sie haben sich also in zehn Jahren in Italien nur um 5,02 y^, in Sizilien nur um 2,9 1°/^ vermindert, was also von keinem sonderlichen Fortschritt zeugt. ^) Noch geringer wird derselbe, wenn man die einzelnen Provinzen und Städte betrachtet. So steht z, B. die Provinz Caltanisetta (die der großen Güter mit Getreidebau und der Schwefelminen) mit 91,67 "/j, Analfabeti der Provinz Palermo mit 80,35%, der Bezirk Caltanisetta gar mit 91,70^0 dem von Palermo mit 73,71^0 gegenüber. Unter 95224 Einwohnern eines Bezirkes im Innern der Insel finden sich also etwa nur 7900, die eine Art von Schulbildung genossen haben, darunter die Be- wohner einer Provinzhauptstadt von 26 000 Einwohnern, dem Sitz aller Regierungsbehörden, eines Lyzeums, eines Gymnasiums, einer Real- und einer Minenschule! Dem entspricht natürlich auch die Verbrecherstatistik, die in der Provinz Caltanisetta mit einem Jahresmittel von 32,38 Morden, Mordanfällen usw. auf 10 000 Einwohner, alle Provinzen Siziliens weit hinter sich läßt. Es ist entschieden höchst bedauerlich, den Elementarunter- richt in SiziUen somit fast lediglich dem Gutdünken der Ge- meindevertretungen überlassen zu sehen. Wo Einsicht und guter Wille fehlte, ist fast nichts geschehen, und selbst da, wo beide l) Da seit 1871 keine statistische Aufnahme der Analfabeti mehr vor- genommen worden ist, so führe ich zum Vergleich an, daß von lOO ins Heer eingereihten jungen Männern 1861 Analfabeti waren 64 7o> 1896: 36,657^0. — 189 — vorhanden waren, bleibt noch unendlich viel zu tun übrig. Man kann z. B. nicht genug anerkennen, welch ungeheure Opfer die Stadt Palermo für Schaffung und Erhaltung von Volksschulen ge- bracht hat. Es war hier geradezu alles erst zu schaffen. In den vorhandenen sieben Volksschulen waren 1200 Schüler ein- geschrieben, davon besuchten dieselben aber nur 679. Dies in einer Stadt von damals 194000 Einwohnern! Die Stadt schuf 1861 — 1862 mit einem Male achtundzwanzig neue Schulen, für die man aber die Lehrkräfte, zum Teil mit Benutzung der alten, erst durch einen dreimonatigen Kursus vorbereiten mußte. So- fort wuchs die Zahl der Schüler ganz ungeheuer; man schuf jährlich neue Schulen und neue Klassen, und die 2076 Schüler von 1861 — 1862, geteilt in sechzehn Tagesknabenschulen und sechs Abendschulen, drei Mädchenschulen und drei Asyle für Kinder, waren bis 1871 — 1872 auf 9023 gestiegen, die in 53 Tages- und ;^2 Abendknabenschulen, in 36 Mädchenschulen, für Stadt und Vorstädte, und in 20 Tages- und 25 Abend- knabenschulen, wie 2^ Mädchenschulen, für den Landbezirk, sowie in zwei Abendschulen für erwachsene Handwerker, unter- richtet wurden. Die Zahl der Schüler wird kaum seit 1872 noch gestiegen sein, da sie schon seit 1865 fast stationär geblieben, nur die der IMädchen noch etwas gewachsen war. Das Verhältnis ist also für eine Bevölkerung von jetzt 225 000 noch immer ein ziemlich ungünstiges, wenn auch die Summe von 400832 Lire, die die Stadt 1871 — 1872 für öffentUchen Unterricht , wovon 265 258 für Volksschulen, ausgab, aller Ehren wert ist. Der Unterricht lag in den Händen von 204 Lehrern und Lehrerinnen. Ich habe mit Absicht die Zahl der ,, Schulen" im einzelnen angeführt; dieselbe deutet nämlich schon auf einen unverzeihlichen Mißstand. Von besonderen Schulhäusern nämlich ist für Volks- schulen keine Rede, ich erinnere mich nicht, in ganz Sizilien ein zu diesem Zwecke gebautes Haus gesehen zu haben. Und das ist charakteristisch! Überall und besonders in Palermo sah ich zu Schulräumen eingerichtet schmutzige, elende Häuser, meist gemietet für billigen Preis, feuchte, dunkle Keller und Magazine, kurz Räume, die der Gesundheit der Schüler schädlich, dem Unterricht, durch die Stadt verstreut, wie sie sind, hinderlich sein müssen und überdies von besonderer Hochachtung der Sache und des Lehrers nicht gerade zeug-en. Für Schulbauten hat man — igo — natürlich kein Geld ; handelt es sich aber um Theater, so ist es in Masse vorhanden. Ein Schulhaus sah ich nirgends, ein Schau- spielhaus, fast immer das schönste Gebäude der Stadt, fand ich selbst im elendesten Neste. In Syrakus und Catania sah ich mächtige Theaterbaue emporwachsen, wie sie in Deutschland nur die größten Städte aufweisen, und in Palermo selbst hat man zu fünf vorhandenen Theatern eben ein neues Politeama für mehr als drei Millionen Lire vollendet , bereits aber schon wieder den Grundstein zu einem noch größeren und noch kostspieKgeren, größten Theater gelegt. Dem entspricht denn vollständig, daß ich, um nur ein Beispiel anzuführen, einen höchst intelligenten zehnjährigen Gymnasiasten, den Sohn eines hohen Beamten, kennen lernte, der von einem Dutzend Opern Text und Musik auswendig wußte, alle Opernhäuser Italiens wie die Opernsänger kannte und letztere sogar nachzuahmen verstand, von den aller- elementarsten Dingen in bezug auf Geschichte und Geographie seines Heimatlandes aber ganz und gar nichts wußte. Ebenso sind mir reiche Handelsherren vorgekommen, die Hunderttausende besaßen, aber nicht lesen und schreiben konnten und in aller Unschuld fragten, ob Frankreich in Paris oder Paris in Frank- reich liege. All dies ist bezeichnend. Besser, man möchte fast sagen zu gut, steht es mit dem mittleren Unterricht, für den Regierung wie Gemeinden in edlem Wetteifer gesorgt haben. Man zählt in Sizilien auf eine Bevölke- rung von jetzt nicht ganz 2 700 000 acht Lyzeen (Gymnasien), 32 Gymnasien (Progymnasien), 2^ technische Schulen, neben einer Minen- und mehreren nautischen Schulen, die von je 403, 1574 und 1383 Schülern besucht werden, ohne die der städtischen Gymnasien und technischen Schulen. Die meisten dieser Schulen sind neu errichtet und die Schülerzahl hat sich in den zehn Jahren von 1861 — 1871 in den Gymnasien nahezu verdreifacht, in den technischen Schulen vervierzehnfacht. Letzteres ist be- sonders erfreulich in einem Lande, wo in bezug auf Bergbau, Ackerbau, Gewerbtätigkeit usw. geradezu noch alles zu tun ist. Die Zahl derer, die sich zu gelehrten Studien, wenigstens Juris- prudenz und Medizin drängen, ist noch immer verhältnismäßig zu groß, wenn es auch nicht geradezu zu einem nationalen Unglück wird wie in Griechenland. Namentlich die Zahl der Advokaten ist unverhältnismäßig groß und leider verstehen sich nicht alle, — igi — die ohne Beschäftigung bleiben, zu einer anderweitigen Tätigkeit. Viele sind Lehrer der Geschichte, der Naturwissenschaften u, dgl. an den Lyzeen und Gymnasien, nicht wenige sind sogar an den Universitäten, als mit einem leidlichen Nebengeschäft, mit Vor- lesungen betraut, die natürlich mit ihrer Advokatur durchaus nichts gemein haben. Nicht selten fand ich auch, daß selbst in den höheren Klassen ein einziger Lehrer in allen möglichen Fächern unterrichtete. Es bleibt also auf dem Gebiete des Unterrichtes, besonders des elementaren, noch unendhch viel zu tun, und man darf von einer allgemeinen Verbreitung von Schulkenntnissen bei einem so außerordentlich begabten Volke, wie das sizilianische, nicht bloß in bezug auf Hebung der Moral und der sittlichen Begriffe, die durch die lange sittenlose Gewaltherrschaft in traurige Verwirrung haben geraten müssen, auf schöne Erfolge hoffen, sondern auch in wirtschaftlichen Dingen und im Ackerbau, die bis jetzt durch klägliche Unwissenheit und geistige Trägheit nicht vorwärts kommen. Als die Hauptquelle endlich der traurigen Lage Siziliens haben wir außer den später zu berührenden gesellschaftlichen Zuständen die ungleiche Verteilung des Besitzes zu bezeichnen. Es scheint der Fluch dieses herrlichen Landes zu sein, daß, seit die Karthager, und zum Teil schon die Griechen, in noch höhe- rem ]\Iaße die Römer landwirtschaftliche Großbetriebe hier ein- führten, sich die IMassen seiner Bewohner als besitzlose Sklaven im Dienste einer kleinen Zahl von Herren abmühen müssen. Welche Schicksale die Insel immer gehabt, von welcher Seite ihr immer die Herren gekommen, darin ist nichts geändert worden; kaum daß unter den Arabern ein Anfang dazu gemacht wurde, so wurde durch das Feudalsystem der Normannen diese Un- gleichheit größer denn je. Bis vor kurzem bestand jenes recht- lich fort und tatsächlich besteht es noch heute; und noch heute ist die Lage eines großen Teiles des sizilischen Volkes die von Sklaven, wenn nicht schlimmer. Es hängt das eng zusammen mit der Beschaffenheit von Grund und Boden und dem Bildungs- stand der Bewohner. Solange es nicht gelingt, letzteren zu heben, wirtschaftliche Kermtnisse zu verbreiten, so lange wird es unmöglich sein die Hindernisse, die Bodenbeschaffenheit und Natur eines großen Teiles der Insel einer Erhebung der Bevölke- — 192 — rung entgegensetzen, zu beseitigen, so lange werden alle Ver- suche auf künstlichem Wege eine Teilung des Grundbesitzes durchzuführen, ohne durchschlagenden und dauernden Erfolg sein. Es gibt noch heute in Sizilien eigentlich nur zwei Klassen von Bewohnern, reiche und bettelarme, von der Hand in den Mund lebende. Ein Mittelstand aus den Beamten, Handel- und Ge- werbetreibenden, wie aus kleineren Grundbesitzern bestehend, fängt erst an sich zu bilden und gelangt bereits hier und da zu Kraft und Ansehen: auf ihm ruht die Hoffnung des Landes, wie die Klasse der Reichen, hier fast noch ganz mit dem Adel gleichbedeutend, den Fluch desselben bildet. Von dieser Kaste später. Sizilien ist fast durchaus ein Ackerbau treibendes Land und der Getreidebau, eng mit dem Bestehen großer Güter verbunden, überwiegt noch immer bei weitem über Baumzucht und Weinbau, so große Fortschritte beide auch jährlich mit der sich bahn- brechenden Zerteilung des Grundbesitzes, der Belebung des Han- dels und der Schaffung von Verkehrswegen machen. Von den 2399319 Hektaren angebauter Bodenfläche Siziliens dienten 1870 I 908 170 dem Ackerbau und, damit abwechselnd, der Viehweide ; hat sich dies nun seitdem auch zu gunsten der Baum- zucht geändert, so gehört doch immer noch ^j^ des ganzen Lan- des dem Getreidebau, der freilich in einer Weise betrieben wird, die für einen Nordländer fast unfaßbar ist. Man bezeichnete die dies Jahr zu erwartende Ernte als eine ziemlich günstige, und doch stand der Weizen, den man fast ausschließlich baut, im Mai, kurz vor der Ernte, allenthalben so schlecht, daß man ihn wohl selbst in der Mark Brandenburg als mittelkräftig bezeichnet haben würde. Es wäre aber wunderbar, wenn es anders wäre. Es ist hier nicht am Platze zu sprechen von dem völlig veralteten System der Fruchtfolge, noch von der Art der Bearbeitung des Bodens mit der Hacke oder dem klassischen Pfluge, der noch immer wie vor Jahrtausenden aus einem langen Balken besteht, der vorn an das Joch der Zugtiere befestigt wird, und an dem sich hinten in spitzem Winkel eine hölzerne, spitzlaufende und mit Eisen bekleidete sogenannte Pflugschar ansetzt, die ganze kostbare Maschine durch eine Handhabe gelenkt. Dünger ist eine meist unbekannte Sache, dennoch trägt der so aufgewühlte Boden noch immer, dank seinen Kalkbestandteilen; die Sichel — 193 — ist noch immer die einzige Mäh-, der Ochse die Drasch-, der Wind die Reinigungsmaschine. Es genügt schon, auf das herr- schende Pachtsystem hinzuweisen, um die Unmöglichkeit des Fortschrittes zu begreifen. Kleine oder mittlere Güter gibt es, wie schon berührt, nur in der Nähe größerer Städte und in ein- zelnen dann sofort durch den völlig verschiedenen Anblick des Landes und seiner Bewohner erkennbaren Strichen, die große Masse von Grund und Boden gehört aber einer beschränkten Zahl von Großgrundbesitzern, Allein die Güter der toten Hand betrugen Yg der Insel, und mit ihrer Zerschlagung hat man, wenn auch nicht so viel, so doch etwas erreicht. Es sind nämlich diese Kirchengüter bei ihrem allmählichen Verkauf in die Hände von gegen 20000 Privatleuten gekommen, was an und für sich ein recht schönes Resultat sein würde, bei näherer Untersuchung aber viel von seinem Werte verliert. Nicht selten nämlich sind zehn, ja zwanzig der im Durchschnitt zehn Hektar betragenden Lose in die Hände eines Spekulanten gefallen oder waren von den Großgrundbesitzern zur Abrundung und Vergrößerung ihrer Latifundien benützt worden. Die Zahl derer, die ohne Grund- besitz gewesen und dadurch solchen erlangt haben, ist sehr ge- ring, viele kleine Bauern, die einen Teil oder die ganze Kauf- summe hatten leihen müssen, gegen Wucherzinsen natürlich, da die Kreditverhältnisse Siziliens sehr übel bestellt sind, sahen sich bald außerstande, sowohl jene zu zahlen, als das Gut ohne Geld zu bewirtschaften; sie mußten es bald wieder veräußern und man versicherte mir in verschiedenen Gegenden, daß die Bildung von Großgrundbesitz nur neue Nahrung erhalten habe. Etwas ist in- dessen doch erreicht worden; wo wirkUcher Kleinbesitz sich ge- bildet hat, sieht man auch schon die wohltätigen Folgen, Län- dereien, die nie bebaut waren, werden angebaut, Wasser, das unbenutzt ins Meer lief oder die Gegend verpestende Sümpfe bildete, wird zur Bewässerung verwandt, Baumpflanzungen, Wein- gärten, Sumachfelder grünen, wo vorher kaum dürftige Herden ihre Nahrung gefunden. Selbst da, wo keine Zerschlagung, son- dern nur ein Besitz Wechsel stattgefunden hat, zeigen sich noch Vorteile, denn selbst in den Händen eines adeligen Herrn ist der Ertrag erfahrungsmäßig größer als in denen der Kirche, Leider aber sind jene glücklichen Striche, wo solche wohltuende Erscheinungen zutage treten, noch immer dünn gesäet und der Fischer, Mittelmeerbilder. I3 - 194 — Zeitpunkt ist noch recht fem, wo der größere Teil von Sizilien einzelnen Gegenden der Nord- und Ostküste oder der Grafschaft Modica gleicht, wo durch alte Vorrechte und besonders günstige Umstände eine ziemliche Zerteilung des Besitzes stattgefunden hat. Da gleicht die ganze Gegend einem herrlichen Garten, Hügel und Tal sind bedeckt mit Öl- und Mandelbäumen, zwi- schen denen sich hier in koUossalem Wüchse der Johannisbrotbaum erhebt, die Rebe bedeckt weite Flächen und der Duft ihrer Blüten vereint mit denen der Orangen und Zitronen in geschützter wasserreicher Talmulde, hüllt anfangs Mai die ganze Gegend in würzigen Wohlgeruch. Saubere Städte mit schönen, reingehaltenen Straßen und großen Häusern erheben sich in dem Walde von Obstbäumen. Man sieht von fern, daß hier allenthalben Wohl- stand und Zufriedenheit herrschen, das Aussehen und das Ver- halten der Bewohner bestätigt es; nichts von jenen traurigen, von Hunger und Krankheit verzehrten Gestalten, die in den Gebieten des Schwefelbergbaues das Mitleid des Reisenden anrufen, nichts von jenen magern, aufgeschundenen und mit Wunden bedeckten Maultieren, Pferden und Eseln, die gerade so viel Futter und Pflege erhalten, daß sie knapp am Verhungern vorbeikommen; der Mensch, der selbst menschlich leben kann, wird auch sein Vieh menschlich behandeln, Jener Zug der Grausamkeit, der infolge des nicht menschenwürdigen Daseins, das Jahrhunderte lang ein großer Teil des sizilischen Volkes geführt hat, unleugbar sich seinem Charakter aufgeprägt hat, er tritt hier nicht hervor. Von Räuberwesen kann natürlich in solchen Gegenden nicht die Rede sein. Bleibt schließhch auch hier noch viel zu tun übrig, ehe sich der Anbau des Bodens, wie die Schul- und sonstige Bildung der Bewohner auf die Höhe der nordischen Völker erhebt, so muß man doch beim Hinblick auf dieses Ergebnis einer ver- hältnismäßig kurzen Zeit Sizilien und den Sizilianern eine schöne Zukunft voraussagen. Bis jetzt freilich sind die eben geschilderten Striche fast nur wie Oasen in der Wüste und der bei weitem größere Teil der Insel steht in traurigem Gegensatze zu ihnen. Nur noch zwei- mal sind mir solche Gegensätze entgegentreten. Einmal an der türkisch-serbischen Grenze: hier, unter türkischer Wirtschaft, ich finde keinen bezeichenderen Ausdruck, einem Hottentottenkral gleichende, elende Dörfer, schlecht bestellte Felder, voll Dornen — 195 — und Unkraut, kein Obstbaum, kein Gemüsegärtchen, wohl aber verwüstete Wälder. Dort ein freundliches Dörfchen, dessen weiße Giebel aus einem Walde von Obstbäumen hervorblicken, gut be- stellte Felder, fröhliche Kinderscharen, tätige Menschen, die, auf so tiefer Stufe der Kultur sie auch noch stehen mögen, doch gewaltige Fortschritte gemacht haben in der kurzen Zeit, daß sie eine Herrschaft abgeschüttelt haben, deren Nochbestehen in Europa jedem Europäer, der sie aus eigner Anschauung kennen gelernt, die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Und doch ist es hüben wie drüben derselbe Stamm, dieselbe Sprache!^) Ein andermal traf mich jener Gegensatz leider nicht in fernen Ländern, sondern in allzugroßer Nähe, im Herzen unseres Vaterlandes, in der bayrischen Oberpfalz. Dort, am Südfuß des Fichtelgebirges, liegen katholische und protestantische Dörfer untereinander: erstere ein Haufen Holzhäuser, oft nur Hütten, unregelmäßig hingestreut, man weiß nicht warum gerade an dieser Stelle; Misthaufen wechseln mit den Häusern, in denen Vieh und Menschen in traulicher Eintracht zusammenleben. Kein Garten, keine Obstbäume, höchstens wilde Kirsch- und Birnbäume stehen hier und da umher und einer stiehlt dem andern bei nächtlicher Weile die dürftigen Früchte. Die Unmasse der treulich gehalte- nen Feiertage, eine Land und Leute verderbende Pest, wie ich sie in Sizilien nicht so arg gefunden habe, pflegt Aberglauben, Trägheit und Unsittlichkeit: der würdige Seelsorger, weit entfernt, durch höhere Bildung und guten Wandel seine Gemeinde zu sich emporzuheben, weiht die Zeit, die von Amtspflichten frei bleibt, meist dem Essen, Schlafen und vor allem dem Trinken; die Vorschrift, die „heilige" Messe nüchtern zu lesen, erfüllt er treu, indem er nach Mitternacht vom Bier zum Schnaps über- geht. Eine halbe Stunde davon liegt ein protestantisches Dorf, ehemals bayreuthisch, ein Wald von Obstgärten umgibt es und der Gegensatz zu jenem andern ist ebensogroß, wie er zwischen den meisten deutschen Dörfern, die jeder kennt, und dem ge- schilderten sein muß.^) 1) Meine Anschauung über den Fortbestand der türkischen Herrschaft sind jetzt wesentlich andere. 2) Beobachtungen aus dem Ende der 60 er Jahre. Möchte die Schilde- rung doch den heutigen Zuständen auch nicht entfernt mehr entsprechen! 13* — 196 — Ähnlich also in Sizilien. Dort kann man in den Gegenden der Latifundien oft stundenlang reiten, Hügel auf, Hügel ab, ohne einen Baum oder ein Haus oder einen Ort zu erblicken, nichts als schlecht bestellte Weizenfelder, mit Brache und Weideland wechselnd, soweit man sehen kann, im Juni schon das Ganze einer verbrannten Steppe gleichend. Die Orte liegen weit aus- einander und sind der Bevölkerung nach alle ansehnliche Städte. Dörfer, Weiler und einzelne Häuser gibt es in Sizilien fast gar nicht. Nur bei Palermo und Milazzo, an der Ostküste zwischen Messina und Catania und dann bei Trapani und um den Eryx, Monte San Giuliano, herum gibt es deren. Dort prägt sich nämlich eine eigentümliche Wanderung, die auch schon anderwärts in Sizilien, wo die öffentliche Sicherheit es erlaubt, Straßen und Eisenbahnen dazu einladen, bemerkbar ist, am deut- lichsten aus. Der alte Eryx, die Hälfte des Jahres auf seiner unzugänglichen Höhe in Dunst und Nebel gehüllt oder von Win- den umtost, hat in unserer Zeit die Bedeutung, die er im Alter- tum und Mittelalter hatte, längst verloren: Monte San Giuliano gleicht heute einer toten Stadt, einem lebendigen Pompeji, auch nach Bauart, Anlage der Häuser und Straßen. Alle Türen sind geschlossen, kein Volkstreiben, wie sonst in den Städten des Südens, nur verhüllte, der Sage nach schöne, Frauen und Priester, nicht bloß in der Tracht einander nahestehend, huschen aus den Häusern durch die Stille der engen Gassen der nächsten Kirche zu. Die Masse der Bevölkerung, besonders die männliche, ist tief unten in der lachenden Landschaft auf den Feldern tätig und steigt spät am Abend oder erst am Sonntag zur luftigen Höhe der Venus hinauf. Viele tun aber auch das nicht mehr, sie haben sich inmitten ihrer Felder angesiedelt, weithin schim- mern die weißen Häuser aus dem Gefilde herauf, bald vereinzelt, bald sich schon zu Dörfern gruppierend. Immer mehr steigen hinab und bald wird der Eryx mit seinen zahlreichen Kirchen nur noch eine Kultstätte sein. Ein ähnlicher Vorgang wird auch im Osten bald beginnen; schon dringt die Eisenbahn von Catania her durch die östliche Pforte des inneren Hochsizilien zwischen den mächtigen Pfeilern, auf denen Castrogiovanni und Calasci- betta liegen, hinein: einem Magneten gleich wird sie nach und nach die wie Adlernester auf hohe Bergkegel gebauten Städte Castrogiovanni, Calascibetta und Asaro zu sich herabziehen, andere — 197 — dieser Felsennester werden ihnen folgen und sich im Tale auf Hügeln, die der kühlende Seewind gerade so gut erreicht, in kleine Ansiedelungen verstreut niederlassen. Im Augenblick freilich ist man von einer solchen allgemeinen, einen folgen- und segensreichen Kulturumschwung und -aufschwung in sich schließenden Wanderung noch sehr weit entfernt. Die 2700000 Einwohner Siziliens, auf einem Flächenraum von 29 241 qkm^), bilden nur 360 Gemeinden und daran haben wieder- um die sogenannten 116 städtischen Gemeinden, d. h. diejenigen, die einen Mittelpunkt von 6000 und mehr Einwohnern haben, eine Bevölkerung von i 840000. Aber auch der Rest, die so- genannten ländlichen Gemeinden bestehen meist aus Orten von gegen 2000 Einwohnern. In dem Bezirk von Aci Reale, auf der Ostküste, wo die Bevölkerung wohl am meisten auf das Land verteilt, dabei außerordentlich dicht ist, kommen von 11582g Einwohnern immer nur 20221 auf das Land, während anderer- seits in den Provinzen von Trapani und Caltanisetta die Bevölke- rungen von 236388 und 230066 in 18, bezüglich 28 Gemeinden und je ^2 (ungefähr, ich habe eine Generalstabskarte augenblicklich nicht zur Hand, ein Irrtum kann aber nur gering sein) bewohnte Orte verteilt sind. Es kommen also auf einen bewohnten Ort un- gefähr 7387, bezüglich 7190 Einwohner, während die größten Städte Marsala nur 34 202 und Caltanisetta 26 156 Einwohner haben. In diesen Provinzen findet sich also auf ungefähr 130 qkm erst ein bewohnter Ort! Dabei kommen im Durchschnitt auf der ganzen Insel 88 Menschen auf den Quadratkilometer, etwa doppelt so viel wie in Pommern!^) Kann man den Zustand der Land- wirtschaft in einem ackerbautreibenden Lande besser charakteri- sieren als durch diese Zahlen? Aus ihnen liest man auch schon den Zustand der Landbevölkerung heraus. Die große Masse derselben, also die Bevölkerung der meisten dieser Landstädte, von den wenigen Handwerkern abgesehen, besteht aus ländlichen 1) Die neueren genaueren Ausmessungen geben nur 25 740 qkm und nach der Zählung von 1901 3 530 000 Einwohner. 2) Von den 312 000 Einwohnern, welche die Provinz Girgenti 1881 zählte, wohnten nur 4000 nicht in großen geschlossenen Ortschaften, meist in den Schwefelbergwerken. Auf der ganzen Insel gab es 188 1 nur 679 bewohnte Orte, von denen nur 48 unter lOO, jeder im Mittel 3934 Ein- wohner zählte! — igS — Arbeitern und kleinen Pächtern, die sich allesamt für einen Speku- lanten oder einen adeligen Herrn, den sie nie gesehen, abmühen. Bei der großen Entfernung der Orte verliert der Arbeiter täglich die besten Stunden mit dem Wege von und zur Arbeit; sind die Felder noch entfernter, so kehrt er nur noch Sonntags oder nur nach der Bestellung und nach der Ernte heim, ist er Hirt, so lebt er das ganze Jahr fern von bewohnten Orten. Beide, Landbauer wie Hirt, überlassen für lange Zeit Frau und Kind dem Nichtstun und den Gefahren der Stadt, sie selbst leben mit dem Vieh und wie das Vieh in offenem Felde, oft dreißig bis vierzig Kilometer von den Ihrigen, ohne einen Menschen zu sehen, der ihnen wohl will, der sie erheitert und erfrischt, ohne Obdach im Sommer der glühenden Sonne, im Winter Sturm und Regen ausgesetzt, oft in fieberschwangeren Gegenden. Der Mann haßt die Arbeit, die ihn kaum nährt, das Feld, das er mit seinem Schweiße düngt, er wird, roh und ohne jedwede Bildung aufgewachsen, grausam; als bezahlter Knecht und Pächter und bei der Unmög- lichkeit, auch mit saurem Schweiße einmal ein Stück Land sein zu nennen; ohne von dem Ertrage mit genießen zu können, haßt er den Besitz und den Besitzer, auf Straflosigkeit darf er, un- bewacht, wie er draußen ist, hoffen, er greift nach dem Gute des Nächsten, er wird ein Räuber. Daher die vielen Gewalttaten, die Brandlegungen und Viehdiebstähle. Der Landmann, mit seiner Familie vereint, auf seinem Besitz lebend, wird bald die Arbeit und Sicherheit lieben. Nach dem noch jetzt fast durchaus herrschenden Wirtschafts- system sind die großen Landbesitzungen allgemein in kleinen Stücken auf ein, zwei, drei Jahre unter verschiedenen Bedingungen, je nach der Zahl der Bewerber und dem Werte des Landes verpachtet. Selbst zu bewirtschaften im großen fehlt es an Ka- pital und Neigung, da jeder möglichst viel und immer mehr als sein Vermögen erlaubt in Besitz nehmen will. Häufig treten auch Spekulanten ein und pachten im großen, um es dann im einzelnen wieder abzugeben und mehr herauszuschlagen. Viele füllen sich dabei den Beutel, freilich auf Kosten des Landes und der Bauern, die beide ausgesogen werden. Der Pacht wird fast immer in einem Teile des Ertrages gezahlt, was dem Bauer zu- erst ganz vorteilhaft erscheint, so nachteilig es auch ist. Man berechnet für Sizilien den Ertrag jetzt im höchsten Falle auf das — 199 — achtzehnfache, im niedrigsten auf das vierfache, also im Mittel auf das elffache, während nach der jetzigen Pachthöhe das Mittel das fünfzehnfache betragen müßte, wenn der Bauer davon leben soll. Er erhält sich und die Seinen daher nur mit Mühe und Not durch Nebenarbeiten und kann seine dringendsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Daher der elende Zustand und die tiefe Ver- stimmung dieser Klassen. Auch bei verschiedenen anderen Pacht- systemen ist das Ergebnis das gleiche, der Besitzer oder seine Aufseher sind immer im Vorteil und erfinderisch, dem Bauer alle Lasten aufzuwalzen; Grund und Boden kommt bei solcher Raub- wirtschaft natürlich immer mehr herunter, da niemand an Ver- bessern und Düngen denkt; von zwanzig und sechzehnfachem Er- trage ist es schon hier und da auf vierfachen gesunken. Wenn ja einmal ein Pächter etwas für sein Land tut und gute Ernten erzielt, so kann er bei der für ein solches System noch immer zu dichten Bevölkerung, auf zahllose Mitbewerber rechnen und fast sicher sein, daß er ein zweites Mal die Pachtung nicht erhält. Es sind aber diese Zustände eine Folge des Feudalsystems, das auch diese eigentümliche Anhäufung der Bevölkerung auf einzelnen Punkten künstlich geschaffen hat. Im Interesse der Feudalherren des i6. und 17. Jahrhunderts lag es nämlich, große Güter zusammenzulegen und ihre einfachen Lehen in Lehen mit Vasallen umzuschaffen, von denen sie höhere Titel, größere Rechte und Einnahmen hatten. Durch Gewährung von Vorteilen, Erteilung von Land unter mäßigen Bedingungen, im schlimmsten Falle auch durch andere Mittel zogen sie von ihren und den benachbarten Besitzungen die Bewohner zu einer großen Baronie zusammen. Auf diese Weise sind im 16. Jahrhundert nachweis- bar 24, im 17. 60 der jetzt bestehenden sizilischen Städte ge- gründet worden, namentlich die im Innern und nach Südosten hin. Den meisten sieht man diese Entstehung auch an, sie sind gerade und regelmäßig angelegt, ohne alte Stadtteile, die sich nur in den wenigen älteren und den Seestädten finden, meist einstöckige kleine Häuser; d. h. ein Dach und vier Wände und die Türe zugleich auch als Fenster dienend. Wie man nun die ackerbautreibende Bevölkerung, das heißt eben die überwiegende Mehrzahl des sizihschen Volkes, von diesem noch fortdauernden Fluche des Feudalsystems befreien, wie man dieselbe wirtschaftlich und sittlich emporheben soll, das — 200 — ist eine sehr schwer zu lösende Frage. Selbst durch Acker- gesetze, wenn jeraand bei den italienischen Geldverhältnissen an solche denken könnte, würde man wenig erreichen, solange der Bauer sich nicht Schul- und wirtschaftliche Kenntnisse angeeignet und wieder moralischen Halt erlangt hat. Das wird ihn das Leben von einer besseren Seite anschauen und an die Zukunft denken machen; er wird nicht wie bisher, was bei der Bevölke- rung der Schwefeldistrikte noch übler hervortritt, bei einer guten Ernte mit mehr als südländischem Leichtsinn darauflos leben, um vielleicht im nächsten Frühjahr, bei lang hinausgezogenem Winter und Mißraten der Bohnen, zu darben. Ein unerläßliches Element aber von größter Bedeutung fehlt dem sizilischen Land- manne, um ihn wirtschaftlich vorwärts zu bringen: das Vorbild. Und dies hängt zusammen mit dem Nochbestehen einer dem Staate und den Mitbürgern in keiner Weise dienenden, deshalb gemeinschädlichen Kaste des sizihschen Adels. Wie die mensch- lichen Dinge beschaffen sind, wird es wohl nie an einer Aristo- kratie fehlen, und ein auf Geburt und ererbtem Grundbesitz be- ruhender Adel wird noch bei weitem die beste sein; jeder aber, welcher Nation er immer angehören mag, der einen Funken von staatsbürgerlichem Sinn und ein Herz für die Menschheit hat, muß den sizilischen Adel als solchen von Herzen hassen. Gewiß zählt derselbe in seinen Reihen um ihr Volk hochverdiente Män- ner; wer nennt nicht die Namen Torremuzza, Castelnuovo, Ser- radifalco mit Hochachtung und Verehrung? Sie gehören aber einerseits der Vergangenheit an, andererseits wäre es wunderbar, wenn eine so zahlreiche Gesellschaft nicht stets und auch jetzt noch eine Zahl verdienter und jeder Hochachtung werter INIänner, wie ich deren kennen gelernt habe, aufzuweisen hätte. Nach einer mir vorliegenden, nicht mehr ganz neuen Zusammenstellung, die aber nach meinen Beobachtungen eher noch unter der Wahr- heit bleibt, gibt es in Sizilien nicht weniger als 120 Fürsten, 82 Herzöge, 124 Markgrafen, 28 Grafen, 356 Barone und era ganzes Heer von Sprößlingen derselben, die sich alle zum Adel rechnen. Zu diesen kamen dann noch vor Aufhebung des Feudalsystems 66 geistliche Würdenträger. All diese schön be- titelten Herren leben nun, mit wenigen Ausnahmen, in den großen Städten, vorzugsweise Palermo und Catania und haben noch immer, trotz der Abschaffung der Feudalrechte, einen un- — 20I — geheuren Grundbesitz in Latifundien in Händen. Kastengeist, Vergnügungssucht und zum Teil auch Einwirkung aus politischen Gründen seitens der Vizekönige haben diese für das Land ver- derbliche Auswanderung veranlaßt, die sich meist erst im vorigen Jahrhundert vollzogen hat und besonders in der Napoleonischen Zeit, wo der Hof und die üppige Königin Karoline, Maria There- siens ungleiche Tochter, in Palermo weilte, seine traurigsten Blüten getrieben hat. Die Folgen hegen auf der Hand: die Besitzer der großen Güter überlassen dieselben Verwaltern, in deren meist nicht redlichen Händen das Gut wie die auf das- selbe zum Broterwerb angewiesene Bevölkerung leidet; der Ertrag fließt, in Geld verwandelt, in die Hauptstadt und kehrt nicht mehr in die Provinz zurück, dieselbe verarmt also täglich mehr; der moraUsche Einfluß der Gutsherren, die doch meist eine bessere Bildung genossen, auf die Landbevölkerung verschwand, als dieselben seltener und seltener auf ihre Güter kamen, sie selbst wurden derselben fremd, hatten kein Herz mehr für ihre Lage, unbekümmert darum suchten sie möglichst viel aus der Besitzung zu ziehen, sie drückten die armen Bauern; auch die größeren Ausgaben, die der Luxus und das üppige Leben der Hauptstadt verursachten, nötigten sie dazu. Auch die Landwirt- schaft selbst litt durch die Abwesenheit der Herren, denn es gab jetzt niemand mehr, der im Besitz höherer Bildung und vor allen Dingen reicherer Mittel, sei es nach eigenen Plänen, sei es durch Nachahmung dessen, was in anderen Ländern geschah, imstande gewesen wäre, neue Systeme und neue Maschinen einzuführen, Versuche mit neuen Kulturfrüchten oder dergleichen mehr an- zustellen und so, wie es anderwärts geschieht, für eine ganze Gegend fördernd zu wirken. Es läßt sich ziflFernmäßig nach- weisen, wie gerade in den Landschaften, wo die größten Güter abwesender Herren lagen, z. B. die der Erzbischöfe von Palermo und Monreale in der Provinz Caltanisetta der Anbau und Ertrag des Landes wie die Moral der Bevölkerung am tiefsten ge- sunken ist. Was taten nun die Herren in Palermo und Catania bzw. in Neapel und Paris? Wie verhielten sie sich nach Verjagung der Bourbonen, die auch sie zum großen Teil haßten? Traten sie in Staatsdienst, sei es als Offiziere oder als Diplomaten oder als politische und Verwaltungsbeamte? Nichts von alledem. Die 202 Finger genügen, um diejenigen sizilischen Adeligen aufzuzählen, die irgendwie dem Staate dienen. Was tun sie also? Sie leben ihrem Vergnügen, sie gehen ins Theater, machen Sängerinnen und Tänzerinnen oder der Frau des lieben Nächsten den Hof, kleiden sich an und aus, lassen sich die Haare kräuseln, machen Besuche, fahren spazieren (reiten ist ihnen zu anstrengend) und bringen die Nacht, wenn nicht wo anders, am Spieltische zu. Die meisten sind ohne Bildung und geistigen Rückhalt, viele sollen sogar völlig ohne Schulbildung sein, ernste Studien oder auch nur bildende Bücher vermögen sie also nicht zu beschäftigen. Französisch zu plappern, sogar lieber als die eigene Mutter- sprache, sich mit einer angeborenen Grazie und Liebenswürdig- keit in der Gesellschaft zu bewegen, das verstehen sie gründlich. Ihre Eitelkeit ist ziemUch bedeutend. Viele Familien sind natür- lich bei schlechter Wirtschaft verarmt — reich im Sinne anderer Länder sind nur wenige — ihr Stolz erlaubt aber nicht das ein- zugestehen. Sie bewohnen noch immer den großen Palast, der ihren Namen trägt, von dem aber oft nur ein kleiner Teil und nicht selten dürftig eingerichtet ist, sie empfangen deshalb keine Besuche und geben keine Tischgesellschaften, aber Bediente haben sie noch und Wagen und Pferde auch, sollten sie dafür auch noch so dürftig leben müssen. Der Fremde darf sich daher freilich nicht wundern, wenn er auf der öffentlichen nach- mittägigen Spazierfahrt, an der jede Familie, die noch einen Rest von Selbstachtung hat, unbedingt teilnehmen muß, neben einer kleinen Zahl wirklich schöner Gespanne, eine Menge alter, aben- teuerlicher Fuhrwerke mit Gäulen davor sieht, die selbst einem Berliner Droschkenkutscher -zu schlecht wären. Ein Bedienter sitzt dabei auf dem Bocke, der eigentlich in dem Augenblicke in der Schule sitzen müßte und dessen Anzug entweder auf Zu- wachs gemacht ist oder von dem etwas entwickelteren Vorgänger herrührt. Lassen wir indessen noch zwei Gewährsmännern in Schilde- rung dieser Kaste das Wort, die beide Ansehen genug besitzen und vor allen Dingen den sizilianischen Adel gründlich kannten. Der eine ist der damalige Kapitän, später namentlich durch seine Arbeiten über das Mittelmeer berühmt gewordene englische Ad- miral Smyth, der jahrelang die englische Flottenabteilung in Sizi- lien befehligte und 1824 ein Werk über Sizilien veröffentlicht — 203 — hat. Geändert hat sich seitdem nichts. Hier seine Charakteristik: „Einige wenige von den Adeligen widmen sich den Staats- geschäften und legen ziemlich viel Talent und Scharfsinn an den Tag. Die Mehrzahl derselben jedoch hat infolge von mangel- hafter Erziehung und ohne die Vorteile, die das Reisen bringt, einen beschränkten Geist, der sie die Zerstreuung und die herz- losen Vergnügungen der Hauptstadt landwirtschaftlichen, litera- rischen oder wissenschaftlichen Bestrebungen vorziehen läßt. Weit entfernt, sich der mannigfachen Schönheiten der sizilischen Land- schaft zu erfreuen, sind ihre Landausflüge, die sogenannten Villeggiaturen , auf einen ungefähr einmonatigen Landaufenthalt im Frühling und im Herbst beschränkt, in geringer Entfernung von den großen Städten, wo in der hergebrachten Weise mit Besuche machen und empfangen, mit jenen eintönigen Zusammen- künften, die man conversazioni nennt, und mit Spiel hingebracht wird." Noch gewichtiger, freilich noch härter und über die adeligen Grundbesitzer hinausgreifend ist das Urteil eines vornehmen Sizi- lianers selbst, des Fürsten von Castelbuono. In einer 1867 an Michel Chevalier gerichteten Denkschrift über die Lage seines engeren Vaterlandes sagt derselbe: „In den Schreibstuben der Notare, in den Apotheken, in den zahlreichen Gesellschaftsräumen im Erdgeschoß oder im zweiten Stock, in all diesen Tempeln der Trägheit und der üblen Nachrede, die von denen besucht werden, die nicht in die Kneipe gehen, beschäftigt man sich mit nichts als mit Politik. Der ans Ruder kommende und der ge- fallene Minister, die Linke und die Rechte, die Wighs und die Tories, Napoleon und Frankreich, Bismarck und Deutschland, Rußland und der Orient, das sind die beständig an der Tages- ordnung befindlichen Fragen der geselligen Zusammenkünfte von Palermo. Und wenn das Brot teuer ist, das Mehl fehlt, das Schlachtvieh vom Markte verschwindet, wenn von der Vorsehung gesegnete Landstriche wüst und verlassen sind, wenn der Kredit mangelt, wenn es durchaus an Geld fehlt, so treibt all dies zu nichts weiter als die Regierung zu verwünschen und zu verfluchen und mit immer steigender Wärme die großen Ereignisse zu er- örtern, die sich am politischen Horizonte erheben, wie man hier zu Lande sagt." Und weiter unten: ,, Obwohl der beklagens- werte Mißbrauch der Stiftungen der toten Hand in Sizilien, dank — 204 — ' den letzten italienischen Gesetzen, abgeschafft ist, so ist doch eine andere Art toter Hand, eine schreiende Verletzung des Gesetzes, das dem INIenschen möglichst viel zu erzeugen befiehlt, dort unglücklicherweise noch sehr häufig. In ihren von Wohl- gerüchen durchdufteten Gemächern, die Pfeife in der Hand, ver- achten die großen Grundbesitzer mit wenigen Ausnahmen jede Art von Arbeit. Nie würden sie zustimmen, sich mit der Schande zu bedecken, um Gelderwerb zu arbeiten. Nach ihrer Ansicht ist die Arbeit nur das Erbe der Elenden. Sie haben Sekretäre und Rechtsbeistände, die ihre Geschäfte führen, so gut es eben gehen will. So sehr aber diese Könige im Nichtstun vor der Arbeit erröten, so stolz sind sie auf den idealen Besitz ihrer Landgüter, die sie gewöhnlich nie gesehen haben und die freie Verfügung, deren sie sich nur für eine möglichst kurze Zeit ent- äußern wollen. Nie würden sie einen Pachtvertrag auf längere Zeit unterzeichnen, der den Pächter zu einer Verbesserung des Grund- stücks veranlassen könnte. Demnach vermehrt der Besitzer selbst die Erzeugungskraft der Maschine, die er in Händen hält, nicht allein nicht, sondern er verweigert sogar (was noch schlimmer ist), andern jedes Mittel es zu tun. Würde ihm übrigens sein Rechtsbeistand Pachtverträge auf 25 und mehr Jahre zu schließen raten? Könnten nicht die Unterpfänder für einen Vertrag von solcher Dauer fehlen? Und dann, darf man sich die Hände binden und auf die Vorteile eines möglichen Steigens der Pach- tungen verzichten?" In diesen kurzen Strichen deutet der Fürst ganz richtig auf die Hauptfehler seiner Landsleute und besonders seiner Standes- genossen hin und läßt auf das Leben und Treiben der ,, Gesell- schaft" grelle, aber richtige Schlaglichter fallen. 3. Ansiedelung und Anbau in Apulien. Apulien, eine der von Fremden am seltensten besuchten Landschaften Italiens, ist doch eine der eigenartigsten und ge- schichthch anziehendsten. Es ist eine große, nur ganz flache Falten aufweisende Kalktafel des vormiozänen Appennin, mit diesem erst wieder landfest verbunden, nachdem es wohl lange Zeit eine Insel gewesen, durch eine in der Quartärzeit eingetretene — 205 — Hebung, welche den trennenden Meerann vom Golfe von Tarent bis zur Bucht von Manfredonia schloß. Dieselbe nahm nicht mehr teil an den letzten faltenden Bewegungen, welche die großen Züge des Appenninreliefs schufen. Sie erscheint daher als eine in appenninischer Südostrichtung 250 km weit langgestreckte, im Mittel nur 50 km breite, sich nach Osten neigende einförmige Tafel von geringer Höhe, die sich aber an der hohen Südwest- seite über der ehemaligen mit pliozänen Schichten gefüllten Meer- enge meist in einem Winkel von lo*^ um 100 — 200 m steil er- hebt. Diesen innersten Gürtel einer 3 — 400 m hohen humus- armen, entwaldeten und verkarsteten Kalkhochfläche pflegt man mit dem Namen Murge zu bezeichnen und als Murge von Bari, im Nordwesten, und Murge von Tarent zu unterscheiden. Der höchste Punkt in ersterer, Torre Disperata genannt, erreicht 686 m. Das auch als Baudenkmal berühmte Castello del Monte, ein gewaltiger Bau Kaiser Friedrichs IL, einst ein Jagdschloß mitten im Walde, heute auf kahler Anhöhe auf weithin kahler Hochfläche, liegt auch noch in 540 m Höhe. Eine breite und flache Einsenkung, südlich der Linie Tarent-Brindisi, über welche man, nur eine Höhe von 42 — 43 m erreichend, vom Golf von Tarent an das Adriatische Meer gelangen kann, trennt von den Murge die Serre, die eigentliche salentinische Halbinsel, den Ab- satz des Stiefels von Italien. Längs des Adriatischen Meeres verschwinden die Kreideschichten zum Teil unter einem schmalen, auch nicht ganz ununterbrochenen, 10 — 26 km breiten Saume pliozäner Schichten. Auch finden sich Pliozänschichten wie bei Gravina di Puglia, Gioja del Colle, Canosa u. a. m. noch hier und da diskordant über den Kreideschichten, so daß es scheinen will, als sei die Kreidetafel einst in größerer Ausdehnung vom Pliozän bedeckt gewesen und dieses später der Denudation er- legen. Zum Teil bedingen diese inselförmigen Reste, wo sie wie bei dem geradezu danach benannten Acquaviva delle Fonti aus durchlässigen von undurchlässigen Tonschichten unterteuften Sau- den bestehen, einen in dem wasserarmen Lande besonders wert- vollen Wasserreichtum. Auch sonst sind diese pliozänen Reste von großer Bedeutung. Die plastischen Tone des Pliozän, die bei Ruvo auftreten, haben dort im Altertume eine bewunderns- werte Blüte der Keramik herbeigeführt. Die Wasserarmut ist der hervorstechendste Charakterzug Apu- — ■ 2o6 liens, das schon Horaz, der es als sein Heimatland gut kannte, siticulosa Apulia nennt. Sie beruht darauf, daß es fast durchaus aus äußerst durchlässigem Kalkfels aufgebaut ist. Auf der un- geheuren Strecke von der Mündung des Ofanto, der seine Ge- wässer in den Appenninen sammelt, bis zum Vorgebirge Santa Maria di Leuca mündet auch nicht ein dauernd fließender Fluß oder Bach ins Meer, ja selbst eigentliche Talbildung fehlt auf großen Flächen ganz. Nur dünn gesäet kommen ganz flache, vorübergehend einmal Wasser führende Talfurchen vor, Lame, Mene oder Fossi genannt. Seen fehlen ganz, wenn man von den Küstenhaff'en und einigen wenigen hier und da einmal mit Wasser gefüllten Karsttrichtern absieht. Die Oberfläche des Landes ist also wenig gegliedert und überaus einförmig. Nur in einzelnen Gegenden, wie in der Umgebung von Martano, Fasano und Ostuni sind Dolinen, hier vore oder sore genannt, außer- ordentlich häufig, aber auch hier meist klein, Pockennarben im Antlitz der Erde vergleichbar. Auch an Quellen ist das Land bei der Tafellagerung der durchlässigen Kalkschichten sehr arm. Längs des Meeres treten solche hier und da zutage, aber ihr Wasser ist brackig und kaum zum Bewässern zu brauchen. Auch die Möglichkeit, durch Brunnenbohrungen Wasser zu gewinnen, ist, wie zahlreiche und kostspielige Versuche beweisen, örtlich beschränkt und nur da ist man erfolgreich gewesen, wo die insel- förmigen Pliozänreste auftreten. Die Meteorwasser, welche die hier an der Ostseite Italiens, im Wind- und Regenschatten der Appenninen, auf einförmiger Fläche fallenden Niederschläge lie- fern — sie kommen überdies wohl meist vom Adriatischen Meere her, und erreichen wohl kaum 500 mm im Jahresmittel — , sind gering und sinken auf dem porösen Gesteine rasch in unerreich- bare Tiefen hinab, um wahrscheinlich auf dem Grunde des Adriatischen Meeres wieder zutage zu treten. Ja, man hat hier Sümpfe trocken gelegt, indem man dem an der Oberfläche stag- nierenden und Malaria erzeugenden Wasser durch Bohrungen einen Weg in die Tiefe eröffnete. Höhlen, vielfach als Schaf- ställe benutzt, vom unterirdisch fließenden Wasser ausgewaschen, sind sehr häufig. Die Bevölkerung Apuliens ist daher ganz auf Zisternen an- gewiesen und Trink- und Haushaltungswasser ist hier sehr kostbar. Die ärmere Bevölkerung muß ihr Trinkwasser den öffentlichen 207 — Zisternen entnehmen, die ihr Wasser und damit eine Fülle von gesund- heitsschädlichen Stoffen von den auf den öffentlichen Plätzen und Straßen fallenden Regen erhalten. Daher sind verheerende Typhus- epideraien in den apulischen Städten häufig. Läßt man doch in Bari, mit 7 5 ooo Einwohnern der größten Stadt Apuliens und einer reichen Seehandelsstadt, Trinkwasser mit der Eisenbahn zu 2y,, ja 5 Cen- tesimi das Liter von Neapel kommen, das es sich selbst erst durch seine großartige Wasserleitung 40 km weit von Serino her aus den Kalkmassen des Appennin verschafft hat. Es wird daher seit langem der Plan erörtert, von jenseits der tyrrhenischen Wasser- scheide die mächtige Quelle des in den Golf von Salemo mün- denden Flusses Sele von Capo Sele in der Provinz Avellino herüberzuleiten, ein Werk, das der Wasserversorgung der Rauhen Alb zur Seite zu stellen wäre, nur noch großartiger. Aber es würde immer nur Trinkwasser liefern, während künstUche Be- rieselung so dringend wünschenswert wäre und so reichen Ertrag geben würde, daß selbst der Preis von 8 Centesimi für i cbm Rieselwasser getragen werden könnte. Vielleicht Avird ein großes Stauwerk am Ofanto Abhilfe schaffen. In diesem also in erster Linie geologisch bedingten Wasser- mangel haben wir die eine natürliche Ursache der eigenartigen Siedelungsverhältnisse ApuUens, der Anhäufung der Menschen an wenigen Punkten, eben denen zu sehen, wo Wasser vorhanden oder leicht zu beschaffen war. Eine zweite natürUche Ursache ergibt sich ebenfalls aus dem Aufbau des Landes aus Kalkfels. Dem entspricht eine geringe Mächtigkeit der Verwitterungsschicht, da Kalkfels, je reiner er ist, bei chemischer Auflösung um so weniger unlösbare tonige Bestandteile zurückläßt. Der Boden ist meist so steinig, daß man Apulien selbst in dem so häufig steinigen Italien geradezu das steinige Italien nennen könnte. Die besten Gegenden sind diejenigen, wo diese tonigen Rückstände der Verwitterung, die in den Mittelmeerländern so häufig auftretende Terra rossa, hier Bolo genannt, in größerer Mächtigkeit erhalten sind, sei es, weil sie nicht abgespült, vielleicht sogar durch Wind und Wasser zu- sammengetragen worden sind. Dies gilt besonders von allen niedrig gelegenen und wenig geneigten Gegenden der Kreide- tafel, also dem Küstengebiet, wo der Bolo hier und da 5 m Mächtigkeit erreicht, auch von flachen Einsenkungen. Namentlich — 208 — sind, wie anderwärts in Karstländern, die kleinen Karsttrichter der Hochfläche bei Ostuni, Martina und Ceglia mit Bolo gefüllt. Auch die eigentliche salentinische Halbinsel enthält eine aus- gedehnte Decke von Bolo. Dagegen werden die Hochformen und die Hochflächen frei von aller Verwitterungserde erscheinen, namentlich seit sie entwaldet worden sind. Der Wind während der langen sommerlichen Regenlosigkeit und der Regen in der winterlichen Regenzeit tragen alle gelockerten Feststoffe davon. Wie so heute, von ganz geringen noch mit Wald bedeckten Flächen abgesehen, die eigentliche Murge, der höchste westliche Gürtel der Kreidekalktafel, entwaldet daliegt, so fehlt ihr auch der Bolo und jede fruchtbare Verwitterungsschicht. Die Murge erscheinen so meist als eine kahle, steinige, ja lediglich aus an- stehendem Kalkfels gebildete Hochfläche, wo nur in den Spalten und Rissen und zwischen den Steinen eine dürftige Vegetation Nahrung für Schafe bietet. Anbau und Ansiedelung mußte sich also auf diese Gebiete mit fruchtbarem Boden beschränken. Es kam aber noch eine dritte Ursache dazu, die die Men- schen veranlaßte, sich auf wenige Punkte zusammenzudrängen: eine geschichtliche. Die ewigen Kriege und die allgemeine Un- sicherheit nach dem Untergange des römischen Reiches ver- nichteten zahllose kleinere, schutzlose Ansiedelungen, nur die größten vermochten sich zu behaupten, und in sie, hinter ihre Mauern, in den Schutz ihrer mächtigen, meist flache Anhöhen krönenden Kastelle flüchtete sich die Bevölkerung des flachen Landes. In einigen Gegenden Apuliens läßt sich das Verschwinden von Ortschaften aus dem Vorkommen von Trümmern verschiedener Art, Resten von Ziegelsteinen, Scherben, Gräbern u. dgl. weitab von heutigen Ansiedelungen mit Sicherheit schließen. In gleichem Sinne wirkte dann auch die Feudalzeit. Die Besitzer großer Güter zogen künstlich ihre Hintersassen um ihre Burgen zusammen, wo sie sie leichter beherrschen konnten. Das verschaffte ihnen zugleich höheres Ansehen, höhere Titel. Manche der heute vor- handenen großen Ansiedelungen, wahre Stadtdörfer, sind so ganz neue, willkürliche Schöpfungen, bei denen kaum irgendwelche geographischen Bedingungen mitgewirkt haben. Diese Umstände erklären die Siedelungsverhältnisse von Apulien, die selbst von den in Italien herrschenden abweichen, — 2og — am wenigsten noch von denjenigen Siziliens, weil dort ähnliche, namentlich geschichtliche Ursachen wirksam gewesen sind, aber zu dem, was wir in Mitteleuropa gewöhnt sind, im grellsten Gegensatze stehen. Tatsächlich gibt es in Apulien keine Dörfer in unserem Sinne. Nur in der Provinz Bari kann man von den 62 Wohnorten derselben fünf als Dörfer bezeichnen, von denen aber vier unmittelbar bei Bari liegen. Die wenigen Meierhöfe, Ölmühlen u. dgl. sind für gewöhnlich nur von einem Wächter bewohnt. Die verstreut wohnende Bevölkerung macht im Circondario Bar- letta 2,2 7o. in Altamura 4,3 %, in Bari 9,7% der Gesamtbevölke- rung aus, gegen 27,3% iii ganz Italien. Fast die ganze Bevölke- rung ist in Siedelungen zusammengedrängt, die man nach ihrer Einwohnerzahl in Mitteleuropa als Städte bezeichnen würde, die aber sonst unserem Städtebegriff wenig entsprechen. Es sind Städte, deren Bewohner zum größten Teile Landarbeiter sind, meist mit breiten, geraden Straßen, die von kleinen niedrigen Häusern gebildet werden, von einigen Kirchen abgesehen, meist ohne alle ansehnlicheren Bauwerke. Am Tage, wo die ganze männliche Bevölkerung und auch ein Bruchteil von Frauen und Kindern auf den Feldern arbeitet, erscheinen die Straßen wie ausgestorben, im grellsten Gegensatze zu dem Menschengewimmel am Abend, und besonders an Sonn- und Feiertagen. Ein schmaler Saum von Gärten mit einigen Landhäusern und Gärtnerwohnungen umgibt diese Ackerstädte, dann breitet sich unabsehbar, wenig- stens im Innern von Apulien, in der Gegend von Minervino, Spinazzola, Altamura, wo Getreidebau und Weideland herrscht, das offene Land aus, im Spätsommer, wenn alles abgeerntet ist, öder Steppe ähnlich, in welcher kein Baum, kein Dorf dem Auge einen Ruhepunkt bietet. An der 86 km langen Eisenbahnlinie von Spinazzola nach Gioja del Colle hegen außer diesen beiden Orten nur noch die volksreichen Städte Gravina, Altamura, St. Eramo. Zwischen Spinazzola und Gravina trifft man auf 36 km nur einige Meierhöfe. Das 50000 Einwohner zählende Andria ist 15 km vom nächsten bewohnten Orte, Barletta, ent- fernt! Die ausgedehnte Feldflur dieser Städte des Inneren zerfällt neuerdings, wo der Anbau des Bodens in Apulien große Fort- schritte gemacht hat, vielfach in vier konzentrische Gürtel. Zu- nächst um die Städte Gärten, die aus Zisternen bewässert werden, dann Haine von Fruchtbäumen, Oliven, Mandeln u. dgl., dann Fischer, Mittelmeerbilder. I4 — 2IO Getreidefelder, dann Weideland mit einzelnen Waldresten. Es prägt sich darin die mit der Entfernung vom Wohnorte immer schwieriger werdende Verwertung des Bodens aus. Die Feld- fluren von Spinazzola, Gravina, Altamura dehnen sich auf 20, 25, ja 30 km vom Orte aus. Das ganze Gebiet der Murge ist sehr dünn bevölkert, ja auf 1000 qkm ganz unbewohnt. Was von einer Linie umschlossen wird, welche über die Städte Canosa, Minervino, Spinazzola, Gravina, Altamura, St. Eramo, Gioja, Grumo, Ruvo, Corato, Andria, Canosa läuft, fast die Hälfte der Provinz Bari, ist fast siedelungslos. Dem steht nun in grellstem Gegensatze das Küstengebiet gegenüber, in welchem sich die Menschen und die Siedelungen förmlich drängen. Auf der 98,5 km langen Küstenstrecke von Barletta bis Monopoli kommt auf je 1 1 km Entfernung eine größere Küstenstadt und dieser Städtereihe läuft im Inneren im mittleren Abstände von 10 km eine zweite Reihe von Land- und Ackerstädten annähernd parallel von Canosa bis Castellana, jede mit ihrer maritimen Ergänzung, wohl auch mit zweien, durch schnurgerade Straßen, zum Teil schon Eisenbahnen verbunden. Die größte und in jeder Hinsicht wichtigste dieser Seestädte, Bari, ist in einem Halbkreise von 15 km Radius von nicht weniger als 15 solcher Ackerstädte umgeben. Ja, verlängert man den Radius auf 20 km, so erhält man 22 große Siedelungen auf einer Fläche von etwa 600 qkm mit heute etwa 260000 Bewohnern. Die Volksdichte des Circondario Bari wurde igoi zu ig8, die von Barletta zu 184, die von Altamura dagegen, tiefer im Innern, zu 75 Köpfen auf i qkm berechnet, für die ganze Provinz Bari zu 155. Aber diese große Volksdichte ist, wie schon Altamura erkennen läßt, nur dem schmalen Landstreifen längs des Meeres eigen. Im Circondario Barletta liegen alle Siedelungen bis auf Spinazzola und Minervino auf einem Drittel der Fläche, nämlich auf dem von der inneren Städtereihe begrenzten Landgürtel. Ebenso im Circondario Bari, so daß von den 678 968 Bewohnern, welche die Zählung von 1881 auf den 5350 qkm Fläche der Provinz Bari aufwies, nicht weniger als 640000 auf den 2500 qkm dieses Küstengürtels wohnten, also 256 auf i qkm, ja unmittelbar an der Küste 300 Köpfe. Merkwürdig ist aber, daß trotz dieser Gegensätze der Volks- dichte im Küstengürtel wie im Innern in beiden sich die Menschen 211 in wenigen großen Ortschaften zusammendrängen. In der ganzen Provinz Bari gibt es nur 62 bewohnte Orte. Die Gemeinden, die hier meist nur von der namengebenden Ortschaft gebildet werden, sind, wie schon Spinazzola, Gravina und Altamura er- kennen ließen, sowohl der Fläche ihrer Feldflur, wie ihrer Be- wohnerzahl nach sehr groß, im Circondario Bari fast doppelt, in Barletta und Altamura etwa fünfmal so groß wie im Durchschnitt in Italien. Dabei lebt aber die gesamte Bevölkerung der Städte beider Landgürtel durchaus vom Anbau des Bodens und der Bruchteil, von welchem dies nicht gilt, beschäftigt sich mit der ersten Verarbeitung der Bodenerzeugnisse, Ölbereitung, Wein- bereitung u. dgl,, bzw. mit Anfertigung von Gefäßen zur Auf- nahme oder mit der Ausfuhr derselben, also mit dem Handel mit den Bodenerzeugnissen und allenfalls der Zufuhr von im Lande selbst nicht gewonnenen Erzeugnissen des Gewerbefleißes. Doch fällt dieser nur bei den Küstenstädten ins Gewicht. Was sonst an Gewerbtätigkeit hier vorhanden ist, ist völlig belanglos. Dieses Sichzusammendrängen der Menschen in wenigen großen, ihre Bewohner nach Zehntausenden zählenden Ortschaften er- scheint aber noch auffallender dadurch, daß es Gebiete mit grund- verschiedener Bodenverwertung und infolgedessen auch mit ganz verschiedenem Landschaftscharakter in gleichem Maße kennzeichnet. Jener so dicht mit Städten besetzte Küstengürtel nämlich ist eines der ausgezeichnetsten Gebiete mediterraner Baumzucht, also inten- sivster Bodenkultur mit vorwiegendem Mittel- und Kleinbesitz, während im Innern Getreidebau und Weidewirtschaft mit Groß- grundbesitz vorherrscht. Während in Italien auf jeden Grund- besitzer im Durchschnitt 8,68 ha Land kommen, besitzt in Alta- mura deren jeder 10,68 ha, in Bari dagegen nur 4,55 ha. Gebiete der Baumzucht werden im Mittelmeergebiete sonst fast überall durch Kleinbesitz, aber auch fast überall durch verstreutes Wohnen der Menschen gekennzeichnet. Man kann den ganzen Küstengürtel bis zur inneren Städte- reihe in einer Breite von etwa 15 km als einen ungeheuren Fruchthain von nahezu looo qkm Flächeninhalt bezeichnen. Die Mannigfaltigkeit der ihn zusammensetzenden Fruchtbäume ist groß. Der Ölbaum überwiegt allerdings bei weitem und tritt allein in reinen Beständen auf, die in der ganzen Provinz Bari 98 000 ha bedecken. Daneben spielt aber der Mandelbaum, 14* 212 — wenn auch selten in reinen Beständen, der Feigenbaum, der Johannisbrotbaum, Aprikosen, Pfirsiche, Granaten, Kirschen, Birnen, Äpfel, Pflaumen, Mispeln eine Rolle. Selbst Agrumenhaine finden sich bei Monopoli und Mola. Ungeheure Flächen, zusammen lOOOOO ha sind der Rebe gewidmet. Hier wird der Boden sorgsam bearbeitet und gedüngt, die Bäume beschnitten und ge- pflegt. Meist sieht man davon ab, unter den Bäumen noch andere Gewächse zu ziehen. Doch sind beträchtliche Flächen dem Gemüsebau, Bohnen, Erbsen, Kichererbsen u. dgl., und Handelsgewächsen, wie Anis, Kumin, Fenchel, Kapern, Flachs, Süßholz u. dgl., namentlich früher, gewidmet. Zwei Fünftel der Bodenfläche der Provinz Bari unterliegen somit intensivstem An- bau. Die Lage der landbauenden Bevölkerung ist hier im all- gemeinen besser als sonst in Italien. Der uimiittelbar an diesen Küstengürtel angrenzende Land- gürtel enthält auch noch große Baumpflanzungen, aber sie sind schon mehr oasenartig in die Getreidefelder eingestreut. Und noch weiter im Innern überwiegen diese und das Weideland durchaus, nur um die Städte findet man Baumpflanzungen. Be- deutungsvoll ist aber, daß diese und der Weinbau seit 1870 große Fortschritte auf Kosten des Getreide- und des Weidelandes gemacht haben. Es ist seit 1870 die mit Fruchtbäumen be- pflanzte Fläche in der Provinz Bari um 60 000 ha gewachsen. Dabei zieht man vielfach die Rebe als Vorfrucht für den Ölbaum, denn dieser braucht zehn Jahre und mehr, um vollen Ertrag zu bringen, während dies bei der Rebe meist schon im dritten Jahre der Fall ist. Auch nach dem Innern dringt Baumzucht und Weinbau immer weiter vor, beide erobern immer größere Flächen, so um Altamura, Gravina usw. Die mit Getreide bestellte Fläche ist etwas zurückgegangen und die Vieh-, namentlich die Schaf- zucht, die, früher mit großen Vorrechten ausgestattet, den Acker- bau erschwerte, noch mehr. Immerhin aber rechnet man, daß etwa 1652 ha anbaufähigen Bodens als tratturi, die breiten Wege, auf denen die Herden von den Winterweiden zu den Sommer- weiden und umgekehrt wanderten, aus den Abruzzen bis vor die Tore von Tarent und Lecce, noch unbenutzt daliegen. Hier in Apulien tritt uns daher auch die in Europa so seltene Erscheinung entgegen, daß die ackerbauende Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist und noch immer wächst. — 213 — Im Circondario Altamura und auch noch in dem von Barletta ist in der Zeit von 1881 — 97 die landwirtschaftliche Bevölkerung rascher gewachsen wie die Bevölkerung im allgemeinen. Der Boden Apuliens eignet sich vorzüglich zur Baumzucht, besser als für Getreidebau, ganz wie in Mittel tunesien, wo der Getreidebau so häufigen Mißernten durch Ausbleiben der Regen unterUegt, daß man nur jedes vierte oder fünfte Jahr auf eine volle Ernte rechnen kann, während Baumzucht im Sahel (dem Küstengebiete) noch heute reichen Ertrag bringt und durch Baum- zucht in spätrömischer Zeit dieses öde Steppenland der Gegen- wart in jenes reiche Kulturland verwandelt worden war, von dessen Blüte noch heute die Trümmer zeugen, mit denen es übersäet ist. Apulien besitzt, wie schon hervorgehoben, vor- wiegend Kalkboden der Kreideformation. Hier und da sieht man mitten in den Feldern und Fruchthainen unbebaute, fast kahle Felsflächen. In andern Gegenden sind die Kalkbrocken zu Trockenmauem, Wällen und Steinhaufen zusammengetragen. Im Innern bei Gravina, Altamura, St. Eramo finden sich in den sogenannten Matine, flachen, von felsigen Höhen umschlossenen Becken tonige Bodenarten, die sich am besten für Getreidebau eignen, aber weil dort Großgrundbesitz herrscht, noch vielfach nur als Weideland dienen. Im allgemeinen eignet sich Apulien bei der geringen Mächtigkeit der Verwitterungsschicht, der Steinig- keit des Bodens, der die Verwendung des Pfluges nicht erlaubt, und wegen der herrschenden Trockenheit wenig für Gewächse, deren Wurzeki nicht tief gehen. Die Bäume dagegen und die Rebe treiben ihre Wurzeln, wenn es zunächst auch schwierig ist, sie anzuflanzen, in die Tiefe, wo sie in Spalten und Klüften Feuchtigkeit und fruchtbare Terra rossa finden. Die Übelstände, welche diese eigenartigen Siedelungsverhält- nisse hervorrufen, sind groß und augenfällig. Zunächst vergegen- wärtige man sich den Verlust an Zeit und Kraft, wenn die Land- arbeiter täglich zweimal 2 — 3 Stunden zu gehen haben, um an die Arbeitsstätte zu kommen! Frauen und Kinder sind dadurch geradezu von der Mitarbeit ausgeschlossen. Die Erwerbstatistik läßt erkennen, wie wenig sich die Frauen an der Feldarbeit zu beteiligen vermögen. Es verhielten sich 1881 die an der Feld- arbeit beteiligten Frauen zu den Männern über 15 Jahre im Cir- condario Bari wie i :4, in Altamura wie i :4,8, in Barletta wie 214 — I : lO, während für ganz Italien das Verhältnis wie i : 1,76 war! Bei dem Wohnen weit ab von den Feldern ist es dem Land- arbeiter unmöglich, einen Nebenerwerb durch Halten von Geflügel, Schweinen u. dgl., durch etwas Gartenbau zu erzielen. Die Frauen, denen dies obliegen würde, sind, da sie durch Hand- arbeiten täglich kaum 35 — 40 Centesimi zu erwerben vermögen, vielfach geradezu zur Untätigkeit verurteilt. Dies, wie die Ab- wesenheit der Männer, führt weiter zu schweren, sittlichen Schäden. Der Landarbeiter ist also genötigt, seinen ganzen Lebensunterhalt zu kaufen. Dabei wird jeder Gegenstand durch die städtische Mauth, die vorzugsweise von Nahrungsmitteln erhoben wird imd die Haupteinnahme der Städte bildet, die also von den Armen erpreßt wird, wesentlich verteuert. Der Landarbeiter wohnt natur- gemäß in den Städten teurer, schlechter, ungesunder. Die Sterb- lichkeit unter denselben, namentlich unter den Kindern, ist daher größer als sonst in Italien. Schließlich bringt dies Zusammen- wohnen große, soziale Gefahren. Es ist bei der leichten Erreg- barkeit des Italieners nicht schwer, in Zeiten der Not hier Auf- stände dieser armen, ungebildeten, zusammengedrängten Menschen- massen hervorzurufen. Die Greuelszenen, die so im Mai 1898 in Minervino Murgie sich abspielten, sind noch in frischem An- denken. Vermag doch der Feldarbeiter in Apulien, wenn er alle irgendwie möglichen Tage ausnutzt, nur 300, im äußersten Falle 400 Lire im Jahre zu verdienen. Da die Frau allerhöchstens noch 100 Lire hinzuzuverdienen vermag, so muß also eine ganze Familie von 400 — 500 Lire jährlich leben. Das ist selbst für Apulien zu wenig! Gewiß hat man in der Neuzeit daran gedacht, diesen schweren Übelständen, die dies Zusammendrängen einer land- bauenden Bevölkerung weit ab von dem zu bebauenden Lande zur Folge hat, abzuhelfen und die Landarbeiter aus den Städten hinaus über neu zu gründende Dörfer und Meierhöfe inmitten der Felder zu verstreuen. Die Neugründung solcher Ansiede- lungen wird aber durch die Wasserfrage außerordentlich er- schwert, die nur gelöst werden könnte durch Anlegung zahl- reicher und großer Zisternen im Felsboden. Dazu fehlen aber dem Mittel- und Kleinbesitzer die Mittel und bei der heutigen Lage der Landwirtschaft der rechte Ansporn. Gegenüber der Macht der Gewohnheit wird es daher wohl noch lange dauern, — 215 — ehe in Apulien (wieder?) Dörfer entstehen werden. Wir haben also hier eine der zahlreichen großen Aufgaben vor uns, vor deren Lösung der junge, wenig geldkräftige italienische Staat gestellt ist. 4. Land und Leute in Korsika.^ Von der in den verschiedensten Hinsichten anziehenden Doppelinsel Sardinien-Korsika wird neuerdings das landnähere, von Livorno und Nizza aus leichter erreichbare, auch durch die französische Verwaltung besser aufgeschlossene Korsika immer häufiger, namentlich von Deutschen, besucht, wenn auch meist nur Ajaccio als winterliche Zufluchtsstätte. Da nun über die Insel, wenn wir von Gregorovius' wundervollen, aber nun schon etwas älteren, auch mehr geschichtlichen Schilderungen absehen, nicht viel, oder wenigstens nicht viel Zuverlässiges weder in deutscher noch in einer anderen Sprache geschrieben worden ist, so dürften die nachfolgenden Beobachtungen und Studien des Verfassers manchem Leser erwünscht sein. Ringsum aus tiefem Meere, mitten aus der tiefen Hohlform der Erdrinde, die mit Salzwasser gefüllt uns heute als Nordwest- becken des Mittelmeeres erscheint, erhebt sich Sardinien-Korsika. Es ist diese Doppelinsel, deren Zusammenhang nur durch die schmale (12 km breite) und flache Meerenge von San Bonifacio verhüllt ist, die aber nach allen ihren geographischen Verhält- nissen als zusammengehörig erscheint, das größte Trümmerstück einer alten Festlandsscholle, die in einer geologisch naheliegen- den Vergangenheit bei Bildung jener Hohlform durch zentripetale Bewegungen dieses Teils der Erdrinde zertrümmert wurde. Da auf ihre Kosten im wesentlichen das Tyrrhenische Meer ent- standen ist, so hat man für dies alte Land die Bezeichnung Tyrrhenis eingeführt. Zu derselben gehörten, abgesehen von Kalabrien und Nordostsizilien, auch die toskanischen Inseln und Teile von Toskana, die durch spätere Vorgänge dem Festlande i) Erschienen in der Deutschen Rundschau Febr. 1899. F. Ratzel hat ohne Kenntniss meines Aufsatzes im Juliheft der Annales de Geographie 1899 auf Grund von zwei längeren Aufenthalten in Korsika 1898 und 1899 eine anthropogeographische Studie über Korsika veröffentlicht, in französischer Sprache, übersetzt von Zimmermann. 2l6 — von Italien einverleibt worden sind. Italien liegt denn auch Korsika am nächsten, die toskanischen Inseln verbinden es mit demselben. Korsika gehört also, wie Sardinien, zu dem Lande Italien, wenn es auch seit beinahe anderthalb Jahrhunderten dem geographisch nächstberechtigten Staate Frankreich durch Waffen- gewalt angegliedert worden ist. Immerhin haben die Lotungen der italienischen Kriegsmarine festgestellt, daß die Flachsee, auf welcher die toskanischen Inseln liegen, nicht nach Korsika hin- überreicht, sondern durch eine Rinne mit Tiefen von über 400 m von der Insel getrennt ist. Da das Nordwestbecken des Mittel- meeres ringsum, außer zu beiden Seiten des Ostendes der Pyre- näen, von durch Faltung der jüngeren Schichten der Erdrinde gebildeten Kettengebirgen umgeben ist, so ragt also Sardinien- Korsika aus demselben als ein fremdartiges Gebilde inmitten dieses Wirbels jugendlicher Faltengebirge auf. Dies Fremdartige wird jeder geographisch und naturwissenschaftlich Gebildete bei einigermaßen aufmerksamer Beobachtung beim Betreten dieser Inseln bald feststellen, von welchem Punkte des umgebenden jungen festländischen Faltenlandes er immer kommen mag, dem alpinen, dem appenninischen, dem atlantischen, dem andalusischen oder pyrenäischen. Von wo immer er eine der beiden Inseln, aber namentlich Korsika, betritt, wird er feststellen, daß er hier ganz andere Gebirge, Oberflächenformen, Fels- und Bodenarten vor sich hat, wie auf dem eben verlassenen Festlande. Und dringt er tiefer ein, so stellt er durch Beobachtung fest, daß auch die Pflanzenwelt, wenn sie auch naturgemäß alle wesentlichen Züge der Mediterranflora aufweist, manches Eigenartige, die Tier- welt und selbst der Mensch altertümliche Züge aufweist, die auf längere Absonderung schließen lassen. Nur hier ist in ganz Italien der Damhirsch noch wild erhalten, ebenso das früher weit verbreitete Wildschaf, der Mufflon. Das Wildschwein hat so eigenartige, an das ausgestorbene Sus palustris erinnernde Züge entwickelt oder erhalten, daß manche Zoologen es als besondere Art unterscheiden möchten. Pferde, Esel und Rinder werden durch ihre geringe Größe gekennzeichnet. Auch die Bewohner sind fast unberührt geblieben von den großen Bewegungen des Festlandes, die die Völker untereinander geworfen, aber auch die Gesittung gefördert haben. In ihren Sitten, ihren Einrich- tungen, ihrer Sprache selbst hat sich viel Altertümliches erhalten, — 217 — das auf dem Festlande längst vergangenen Zeiten angehört. Sardinien besitzt sogar in seinen Nuraghi ganz eigenartige vor- geschichtliche Denkmäler, mit denen die auf den Balearen und auf der Insel Pantelleria zwischen Sizilien und Afrika erhaltenen nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit haben. Sie gleichen Wart- türmen, aber über ihren Zweck und ihre Erbauer hat bis heute noch kein Forscher Aufschluß zu geben vermocht. Auch Korsika besitzt in seinen sogenannten Stazzone und Stantare noch vor- geschichtliche Denkmäler, die man aber wohl mit den Dolmen und Menhir vergleichen kann. So bedeutende Abtragung Korsika auch durch die zerstören- den Kräfte des Luftkreises während der langen Zeit, die es nicht vom Meer bedeckt gewesen ist, erfahren hat, so ragt es doch noch immer als alpines Hochgebirge mitten aus dem Mittel- meere auf zu Höhen, die selbst in den Alpen noch ansehnliche sind, im Mittelmeergebiet aber zu den größten gehören. Erreicht doch der Monte Cinto 2707 m. Sein Gipfel ragt also um bei- nahe 6000 m von der Sohle des Mittelmeeres auf! Aus Granit ist die Insel zum großen Teil aufgebaut. Hart und rauh wie dieses Gestein sind ihre Formen, dunkel ihr Pflanzenkleid, ernst der Charakter der Landschaft. Und ernst, zurückhaltend, hart und gewalttätig sind auch meist die Men- schen, wenig fähig der Freude, um so mehr dem Schmerz und der Leidenschaft Ausdruck zu geben. Melancholisch sind ihre Gesänge. Schwarz ist die beliebteste Farbe der Frauen, die doch sonst im Süden so g^oße Vorliebe für bunte, leuchtende Gewänder haben. Nur Männer, die sich durch kriegerische Taten, durch Mut, Kühnheit und Selbstverleugnung ausgezeichnet haben, hat die rauhe Insel hervorgebracht, keine, die die menschliche Ge- sittung, die Kunst oder die Wissenschaft gefördert haben. Nur an der Südspitze, aber in sehr geringer Ausdehnung, in größerer an der Nordostseite, sind, einen meridionalen Rücken und gleichsam den Stil der Insel, die Halbinsel des Kap Korso bildende Schichtgesteine, besonders der Kreideformation, mit be- deutenden Serpentindurchbrüchen dem granitischen Inselkerne angelagert und rufen dort wesentlich mildere Oberflächenformen, besseren Anbau, dichtere Bevölkerung und mildere Sitten hervor. Aber die Küste der Ostseite ist, außer im äußersten Süden und im äußersten Norden, von einer schmalen Schwemmland ebene 2IÖ — gebildet, die hier an der Leeseite der Insel, der den stürmischen Südwest- und Westwinden und dem heftigen brandenden Meere, die die weit geöffnete Rias der Westseite geschaffen haben, abgekehrten Seite, die größten P'lüsse Golo und Tavignano mit ihren Sinkstoffen angelagert haben. Dieselbe verläuft daher fast geradlinig, ist flach, von Haffen und Sümpfen begleitet, fieber- schwanger und ungastlich. Wäre nicht im Süden der Porto Vecchio genannte herrliche Naturhafen, der freilich im Sommer der Malaria wegen fast unbewohnbar ist, im Norden, nahe dem Punkt der größ- ten Annäherung ans Festland, die kleine Bucht von Bastia, so kehrte in der Tat Korsika Italien völlig den Rücken, Bastia ist zu allen Zeiten, vor Bastia das nahe gelegene Biguglia, noch früher Aleria hier an der Ostküste das Organ gewesen, durch welches Korsika den Verkehr mit Italien, namentlich Genua und Livorno unterhalten hat und noch heute unterhält. Hier legten die Genuesen auf steilem Felshügel über der kleinen Hafenbucht eine Festung an, die dem Orte den Namen (Bastei) gegeben hat. Die kleine Bucht selbst dient heute nur noch Fischerbooten, durch gewaltige Steindämme ist ihr ein geräumiger Hafen vorgebaut worden, der nur den einen unverbesserlichen Nachteil hat: wenn der Mistral sich von den steilen Höhen des Kap Korso in wüten- den Stößen herabstürzt, kann kein Schiff aus- und einlaufen. Ein guter Naturhafen, den Napoleon zu einem großen Kriegs- hafen auszubauen beabsichtigte, liegt westlich von Bastia an der Wurzel der Halbinsel, San Fiorenzo. Aber auch er wird von der Malaria verpestet. Malariafrei ist dagegen die kleine, gegen alle Winde geschützte Bucht von San Bonifacio, nahe der Südspitze der Insel, deren sich die Genuesen daher auch für alle Zeit ver- sicherten, indem sie dort ligurische Ansiedler ansetzten, die, gewissermaßen einen kleinen Freistaat bildend, zu allen Zeiten dem Mutterlande treu geblieben sind und sich noch heute von den Korsen scharf unterscheiden. Hier kennt man die Blutrache nicht; hier sieht man die Männer unbewaffnet gemeinsam mit den Frauen im Feld und Garten arbeiten; hier reitet die Frau auf dem Esel und der Mann geht nebenher. Beim Betreten der Gemarkung von S. Bonifacio könnte man sich an die Riviera, in den engen, von viele Stockwerke hohen Häusern gebildeten Gassen in das Hafenviertel von Genua versetzt wähnen. Auf 60 m hoher Kalkplatte, deren Wände zum Teil überhängen oder 2 19 — von der Brandung zu Höhlen ausgewaschen sind, thront das Städtchen, das zu allen Zeiten Festung, von den Franzosen zu einem Gibraltar im kleinen umgeschaffen worden ist. Dieselben haben bereits hier eine Flotte von Torpedobooten aufgestellt und beabsichtigen einen Kriegshafen zu schaffen, der imstande ist, demjenigen der Italiener am anderen Eingange der Meerenge auf der Granitinsel von La Maddalena an der Nordspitze von Sardinien Trotz zu bieten. In genuesischer Zeit spielte auch Calvi, an der Nordwestseite der Insel Genua nahe gelegen, wegen seiner kleinen Hafenbucht und als Hauptort der fruchtbaren Landschaft Balagna eine gewisse Rolle, die es jetzt immer mehr an das nahegelegene Isola Rossa abtritt. Ajaccio dagegen hat erst seit dem Anschluß der Insel an Frankreich und durch größte Begünstigung durch Frankreich, namentlich seit Napoleon III., größere Wichtigkeit erlangt, steht aber noch heute wie an Ein- wohnerzahl, so auch an Verkehr Bastia nach. Immerhin ist es auch durch die Natur begünstigt insofern, als es an dem größten der kleinen, sich nach Westen und Südwesten öffnenden Golfe, die zum Seeverkehr und zur Verdichtung der Bevölkerung im all- gemeinen wenig begünstigt sind, und fast in der Mitte der West- seite liegt, mit einer kleinen fruchtbaren Ebene im Hintergrunde des Golfs, die man nach korsischen Begriffen wohl als Campo dell' Oro bezeichnen konnte. Das Gebiet dieser Rias ist sonst fast menschen- leer. Vor allem hat Ajaccio auch eine sehr geschützte Lage für sich, die es nach Milde des Klimas und südlicher Üppigkeit der Vege- tation fast Neapel gleichkommen läßt. Auch das Landschaftsbild, der Blick auf das Meer und die Vorgebirge, die einen Teil des Jahres schneebedeckten Gebirge, ist entzückend, aber kein Un- befangener wird Ajaccio Neapel im allgemeinen gleichsetzen wollen, wie es hier und da versucht worden ist. Wo ist der Vesuv, wo sind Capri und Ischia, wo Sorrent und die geschicht- lichen Erinnerungen, die den ganzen Golf, vor allem aber Pozzuoli und Bajä verklären? Die Küste von Korsika ist dem Seeverkehr im allgemeinen nicht günstig, von außen her mußte derselbe hier eingebürgert werden, was aber die rauhe Landesnatur wesentlich erschwerte. Heißt es doch, daß Ansiedelungsversuche der Griechen und der Römer förmlich von den undurchdringlichen Wäldern zurück- geschlagen wurden. Völlig heimisch wurde das Seewesen in 220 Korsika niemals, es blieb immer in den Händen der Fremden. Die Korsen sind, obwohl Inselbewohner, doch ein Bergvolk, wie auch die Bewohner der Insel des Pelops niemals in einer langen Geschichte Seefahrer gewesen sind und sich auch heute in geringem Maße an der griechischen Schiffahrt beteiligen. In den Kielen fremder Schiffe wurde den Korsen viel mehr festländische Ge- sittung tropfenweise zugeführt, als daß sie sich dieselbe selbst holten. Die Abgeschlossenheit der Küsten wie der Gebirge der Insel ist noch heute in der scharf ausgeprägten Eigenart dieser Insel- und Bergbewohner zugleich erkennbar. Der Korse ist nur Korse. Das stammverwandte Italien, dessen Sprache er spricht, mit dem ihn eine lange Geschichte und eine Vielheit geographisch bedingter Beziehungen verbindet, steht seinem Herzen ebenso fem wie Frankreich, das die Insel seit mehr als einem Jahr- hundert beherrscht, und dem es seinerseits seinen gewaltigsten Herrscher gegeben hat. Aber der Korse weiß Frankreich zu schätzen, denn es gibt ihm Ämter und Pfründen, es baut ihm Häfen, Straßen und Eisenbahnen und befruchtet die Insel mit seinem Golde. Frankreich ist auch bemüht, und mit Erfolg, die Korsen mehr und mehr zu französieren und die französische Sprache, namentlich durch die Schule, an Stelle der italienischen zu setzen. Für Frankreich ist Korsika seiner Lage zu Italien und zur Südküste Frankreichs wegen außerordentlich wichtig, und es unterhält und ergänzt daher die vorhandenen meist veralteten Festungswerke, die naturgemäß die wichtigsten Punkte an der Küste decken müssen. Im Innern freilich, wo beispielsweise die Straße über den Vizzavonapaß durch ein Fort gesperrt wird und der Bahnhof von Corte, ähnlich wie vielfach in Algerien, von einem mit Schießscharten versehenen Mauerviereck umschlossen ist, sind Befestigungen auffallende Erscheinungen. Ein Granitgebirge durchzieht die Insel in ihrer ganzen Länge und scheidet die Westseite, von altersher, naturgemäß von Italien aus Banda di fuori genannt, von der Ostseite, der Banda di dentro. In zahlreichen Gipfeln erreicht dasselbe mehr als 2000 m, der Monte Rotondo, fast in der Mitte der Insel, hat sogar über 2600, der schon genannte Monte Cinto, der höchste Punkt eines ausgedehnten Porphyrdurchbruches, etwas weiter nach Nor- den, über 2700 m. Kleine, grüne Hochgebirgsseen, die wie Hals- bänder von Smaragden fast jeden dieser massigen granitischen — 221 — Hochgipfel umgeben, den Monte Rotondo allein sieben, Moränen und Gletscherschliffe weisen hier auf die ehemalige Vergletsche- rung, diluviale Schottermassen, oft mit riesigen Granitblöcken, in den Tälern auf die großartige Abtragung hin, die damals vor sich ging. Vom Gipfel des Monte Cinto überblickt man die ganze Nordhälfte der Insel bis zum Kap Korso, ja bei hellem Wetter erkennt man wohl noch in blassen Umrissen Elba, wäh- rend nach Süden das Auge über eine großartige Gebirgswelt und Hochgipfel von wenig geringerer Höhe schweift, deren einzelne, wie der Monte d' Oro, nahe dem Paß von Vizzavona, und der Monte Incudine, der südlichste Hochgipfel, eine kaum minder schöne Aussicht bieten. Freilich muß dieselbe beim Fehlen guter Wege und Schutzhütten, wenn auch nicht häufig vorkommende Steilabstürze und Felswände leicht umgangen werden können, durch größere Anstrengungen und Entbehrungen erkauft werden, als sie ähnliche Höhen in den Alpen bieten, da man hier meist vom Meeresniveau ausgeht. Die Kamm- und Paßhöhe des Ge- birges ist verhältnismäßig groß. Der Col di Vergio, einer der wichtigsten der Insel, hat 1464 m, ist also höher als der Brenner. In schwierigem Anstieg, vielfach auf Treppen, erklimmt man die Paßhöhe der Saum- oder Ziegenpfade, die auf der Insel noch vorherrschen. Wo sie unter großen Kosten in Straßen verwandelt sind, stehen sie den kühnsten der Alpen nicht nach. Jede Win- dung bietet neue Ausblicke, sei es in Schluchten, sei es über Vorgebirge und Meer; alle Hänge sind mit dem dunkeln Grün der duftigen Macchien überkleidet, aus dem hier und da graue Granit- oder rote Porphyrfelsen her\orragen, bis uns auf der Paß- höhe hochstämmige Wälder von Buchen oder Lariciokiefern auf- nehmen. Darüber wölbt sich das herrliche Blau des südlichen Himmels. Selbst die neue Eisenbahn, die jetzt nach langer kostspieliger Bauzeit die ganze Insel quert und Ajaccio mit Bastia verbindet, steigt von Ajaccio auf 47 km Linienlänge 900 m empor und unterfährt schließlich den 1145 m hohen Paß von Vizzavona in einem 4 km langen Tunnel. Eine Gotthardbahn im kleinen windet sie sich an der Nordostseite in langen Kehren, wo man wieder- holt die eben zurückgelegte Strecke tief unter sich sieht, bald durch tiefe Einschnitte, bald über gewaltige Viadukte und Brücken, die nicht selten kühn zwischen zwei Tunneln über einen Abgrund 222 — gespannt sind, zur Scheitelhöhe empor. Diese liegt über der immergrünen Region in einem herrlichen Revier schöner Buchen- und Lärchenwälder, in welchen, wenigstens im Frühling, sich von allen Seiten rauschende Gießbäche über Felswände in die Tiefe stürzen. Beim Aufstieg, noch unter Ölbäumen und Weinpflanzungen dahinfahrend , hat man nicht selten auf der einen Seite einen Ausblick über Berge und Hügel weithin auf das Meer, auf der andern in waldige Täler, in deren Hintergrunde im Frühling mit Schnee bedeckte Berge herüberleuchten. So hoch aufragende, längere oder kürzere Zeit mit Schnee bedeckte Gebirge mitten im wannen Mittelmeere und auf der Bahn der winterlichen Zyklone müssen bedeutende Niederschläge hervorrufen und die geringe Meerferne der höchsten Gipfel — die des Monte Cinto beträgt nur 24 km! — muß den für ge- wöhnlich wasserarmen, aber in ihren smaragdgrünen Tümpeln, forellenreichen Flüßchen und Bächen, die bei der Schneeschmelze und nach starkem Regen zu tobenden Ungeheuern werden, eine riesige Erosionskraft verleihen. So ist die Insel überall von tiefen Tälern gefurcht, ja reich an Schluchten von großartiger Wildheit, die mit ihrer immergrünen Vegetation an einzelne Pyrenäentäler erinnern, deren Steilhänge mit Buchsbaumgebüsch dicht bewachsen sind. Bei der Steilheit, mit welcher die Gebirge, namentlich an der Westseite, emporsteigen, liegen hier oft recht grelle Gegen- sätze nahe beieinander. Von der Küste und aus den untersten Tälern, die den Charakter lieblicher, hier und da allerdings mehr großartiger Mittelmeeriandschaft mit Dattelpalmen und Hainen von Apfelsinen tragen, steigt man in wenigen Stunden durch wilde, in immergrünes Gestrüpp gehüllte Schluchten und hoch- stämmige Wälder mitteleuropäischer Buchen zu alpinen Hoch- gebirgslandschaften empor, die nur im Spätsommer schneefrei werden. In breiten Rücken streicht das Granitgebirge nach Westen und Südwesten aus und bedingt dort die an die Rias von Ga- licia erinnernde Gliederung der Küste in Buchten und Vorgebirge, über welche noch heute felsige Saumpfade die kleinen Ortschaften an den Buchten miteinander verbinden. Es zerfällt so die ganze Insel in zahlreiche kleine Sonder- landschaften und Talschaften, ähnlich denen, die die Urkantone der Schweiz rings um den Vierwaldstättersee bilden. Alle diese, meist auch besondere, in der Geschichte der Insel vielgenannte — 22Z — Namen führenden Talschaften, selbst die ans Meer ausmündenden, verkehren meist nur durch Engpässe oder über steile Kämme miteinander. So begreifen wir, daß die Bevölkerung, wenn auch durch das allumfassende Meer zusammengehalten, von jeher in zahlreiche Clane zerfiel, wie im schottischen Hochlande, und daß die die einzelnen Clane führenden Familien, wenn nicht der Druck der Fremdherrschaft zur Einigkeit zwang, sich unablässig befehdeten. Noch heute haben, zum Hohne des allgemeinen Wahlrechts, tatsächlich etwa zwanzig Familien die wirkliche Herr- schaft auf der Insel. Zu den noch nicht völlig ausgestorbenen Fehden der Clane untereinander sind nun die Wahlschlachten hinzugekommen, die nach der Versicherung eines korsischen Patrioten schlimmer sind als das Banditentum. Ämter und allerlei Vergünstigungen zum Schaden der Allgemeinheit sind die Beute des Siegers, wie das ja mehr oder weniger überall in den völker- beglückenden Republiken der Fall ist. Gemildert wird der gebirgige Charakter der Insel durch das üppige, immergrüne Pflanzenkleid, in welches das milde, nieder- schlagsreiche Klima den größeren Teil derselben bis etwa 800 bis 1000 ra empor hüllen und unter welchem die wilden Fels- formen meist verschwinden. Die Üppigkeit und Undurchdringlich- keit der korsischen Wälder war so groß, daß Besiedelungsversuche in griechischer und römischer Zeit dadurch vereitelt wurden. Freilich ist auch hier der Mensch, wie überall in den Mittelmeer- ländem, des Waldes schließlich und gründlich Herr geworden, nur noch im höheren Gebirge finden sich herrliche, ausgedehnte Wälder, an deren Stelle sonst überall ungeheure Dickichte immer- grüner Sträucher, die sogenannten Macchien (von lat. macula Flecken), in korsischer Mundart Maquis, getreten sind. Man kann so Korsika wohl eine immergrüne Insel nennen. Diese Macchien, je nach Boden und Feuchtigkeit bald übermannshoch und viel- fach von Schlingpflanzen, auch dornigen, durchrankt und un- durchdringUch, bald niedrig und von vereinzelten Sträuchern ge- bildet, kennzeichnen Korsika ganz besonders, wenn sie auch eine überall in den Mittelmeerländern wiederkehrende Vegetations- formation sind. Sie sind hier von einer bunten Mischung von Sträuchern mit meist kleinen Blättern und unscheinbaren Blüten gebildet, von denen viele, wie die M^Tthe, Rosmarin u. a. bei uns in Töpfen gezogen werden. Alle sind aromatisch, und besonders — 224 — im Frühling, wo das Blühen monatelang andauert^ eine Art nach der andern, erscheint die Insel wie in Blütenduft gehüllt, den der Wind vom Lande her, wie von tropischen Inseln, nicht selten dem Ankömmling entgegenträgt. Der Korse liebt diesen Duft seiner Macchien über alles, wie auch Napoleon noch auf St. Helena wehmütig diese Eigenart seiner Heimatsinsel pries. Wundervoll ist namentlich die Baumheide, die ihre schwanken Zweige mit einer unglaublichen Fülle duftiger, zierlicher weißer Glockenblüten bedeckt. Das Aroma dieser Pflanzen wirtschaftlich zur Gewinnung von Wohlgerüchen zu verwerten, wie in der Provence, in Alge- rien und anderwärts geschieht (Rosmarinöl, Thymöl, Lavendel- Öl usw.), dazu ist der Korse noch nicht fortgeschritten, und auch sein Verdienst ist es wohl nicht, wenn die stärkeren Stämme der Baumheide (Briarwood vom franz. bruyere) zu jenen kurzen Tabaks- pfeifen verarbeitet werden, die bei den Engländern so beliebt sind. Ihm dienen die Macchien als Brennholz und als Weide- gründe für seine Ziegen, und unzertrennlich ist mit denselben das Banditenwesen verbunden. „E andato nella macchia*', er ist in die Macchia gegangen, ist der oft gehörte landesübliche Ausdruck für denjenigen, der es für gut findet, sich dem Arme der Ge- rechtigkeit zu entziehen, d. h. Bandit zu werden. Kein Gensdarm vermag ihn in der Macchia aufzustöbern. Aber nicht bloß sichere Zuflucht, auch Nahrung liefert das Waldgebirge dem Verfolgten, selbst wenn ihn seine Freunde nicht unterstützen sollten. Bis in die innersten Gebirgstäler und im Mittel bis zu lOOO m Höhe kommt nämlich die Edelkastarue vor. Oft in Halbkulturen ge- halten und mächtige Stämme bildend, liefert sie eine Fülle von Nährfrüchten, die getrocknet und gemahlen sich das ganze Jahr halten und der verschiedensten Zubereitung, ähnlich unserer Kar- toff"el, fähig sind. Auch bieten wohl kleine Steinhütten in den Kastanienwäldern, die nur zur Erntezeit bewohnt werden, Zuflucht in der rauhen Jahreszeit. Fast ohne Arbeit liefert die Edel- kastanie, nach welcher eine der kleinen Sonderlandschaften geradezu Castagniccia genannt wird, den Korsen den Brodstofi". Castagniccia, das übrigens heute eine der besser angebauten Landschaften Korsikas in dem mesozoischen Hügellande der Ost- seite zwischen dem Golo und Tavignano ist, war daher von jeher einer der Hauptherde des Widerstandes gegen die Genuesen, die Heimat Pasquale Paolis, also ähnlich der von Eichenwäldern — 225 — bedeckten Schumadia, der Zufluchtsstätte der Serben in ihrem langen Unabhängigkeitskampfe gegen die Türken. Zu seinen Kastanienbäumen bedarf der Korse nur noch einer Ziegenherde, die sich auch fast von selbst nährt. Sie liefert ihm Milch und Käse, den berühmten aromatischen Broccio, wohl auch gelegent- lich Fleisch und durch Verkauf einzelner Stücke bares Geld zur Anschaffung der wenigen unentbehrlichen Gegenstände, vor allem eines Dolches und eines Gewehrs mit Schießbedarf, ohne die man keinen Gebirgskorsen sieht. Die Bewohner ganzer Land- schaften, wie des Niolo, sind fast ausschließlich Hirten, die bei- nahe nur von Kastanien und Käse leben: Wanderhirten, denn der rauhe Winter des Gebirges zwingt sie mit den Herden an die Küsten hinabzusteigen, so daß dann die Gebirgsdörfer nur von Greisen, Frauen und Kindern bewohnt sind. Doch ist auch dies eine von der Landesnatur bedingte, überall in den ^Nlittelmeer- ländern wiederkehrende Erscheinung. Kein Zweifel, daß die Kastanie und die Ziege die ausgesprochene Arbeitsscheu des Korsen wesentlich gefördert haben, den Anbau des Landes hin- dern und ihn in Armut und Anspruchslosigkeit erhalten. So konnte in den Köpfen der französischen Jakobiner der Gedanke reifen, alle Kastanienbäume der Insel umhauen zu lassen, um die Korsen zur Arbeit zu zwingen. Die nur im Hochgebirge erhaltenen Wälder verdanken dies ihrer geringen Zugänglichkeit, erliegen aber häufigen Waldbränden, die wohl meist von Hirten angelegt sein dürften. Tausende von Hektaren werden so jährlich vernichtet, ja in den letzten zwanzig Jahren soll ein Viertel des ganzen Waldbestandes dem Feuer erlegen sein. Wo sie erhalten sind, gleichen sie einsamen, schweigenden Urwäldern, in denen Baumriesen, Stämme von 8 m Umfang, nicht selten sind. Große Flechten, gleich dem Barte eines Greises, hängen an den Zweigen, Moos bedeckt die Stämme ; vom Sturm gefällt, strecken sie ihre entrindeten, gebleichten Leiber — Ungeheuern der Vorwelt gleich — am Boden hin, um allmählich zu vermodern. Immerhin ist Bauholz noch ein wesent- licher Gegenstand der Ausfuhr, wie seit Jahrhunderten, besonders für die Schiffswerften von Genua und Livomo. Ähnlich wie im toskanischen Appennin beginnnen sich auch in diesen Gebirgs- wäldem Sommerfrischen zu entwickeln, was wohl hauptsächlich zu ihrer Erhaltung beitragen wird. Fischer, Mittelmeerbilder. 15 226 — Der Wildreichtum dieser Wälder und Macchien ist wegen übermäßiger Ausübung der Jagd nicht mehr sehr groß, aber noch groß genug und so leicht zu vergrößern, daß ein Engländer den Gedanken aussprechen konnte, die Korsen würden sich am besten stehen, wenn man die ganze Insel in einen großen Wildpark ver- wandelte, jedenfalls für englische Sportsmen, also ungefähr so wie die schottischen Hochlande. Das edelste Wild Korsikas, den Mufflon, ein Wildschaf, zu jagen, ist schwierig und entbehrungs- reich, aber selten erfolgreich. Schon die bisherigen Andeutungen lassen erwarten, daß nur ein geringer Teil der Insel angebaut ist. Von vielleicht nicht mehr als einem Drittel mag das gelten. Auch der gebirgige Charakter, der felsige Boden und vor allem die die Täler und Küstenebenen im Sommer heimsuchende Malaria, die ebenso sehr wie die geringe Sicherheit die Bewohner zwang, sich hoch oben auf den Bergen, auf schwer zugänglichen Höhen anzusiedeln, wirken dabei mit. Die auch in der Landesnatur begründeten Clanfehden, die uralte Sitte der Blutrache, die Notwendigkeit, sich gegen fremde Eindringlinge in jahrhundertelangen, fast nie endenden Kämpfen zu verteidigen, ließen auch diesem Gebirgs- volke das Waffenhandwerk als die eines Mannes allein würdige Tätigkeit erscheinen. Höchstens das Weiden der Herden galt daneben noch als anständige Beschäftigung: also ganz wie bei den alten Arkadiern und den Bewohnern der Urkantone der Schweiz. Reisläuferei war daher auch hier heimisch. Italien und Frankreich zogen davon Nutzen. Wie schon früher, besonders im i6. Jahrhundert, korsische Söldnerregimenter in Frankreich dienten, so war mit der Napoleonischen Zeit die Zahl der Korsen als Offiziere und Soldaten im französischen Heere ebenso groß und wichtig, wie die der elsässischen. Im deutsch-französischen Kriege standen nicht weniger als 20 500 Korsen gegen uns im Felde, y^g ^^^ Bewohnerschaft, und 1885 zählte man nicht weniger als 1 2 1 7 korsische Offiziere im Heere und in der Gensdarmerie Frankreichs. Namentlich liefert die korsische Waldlandschaft Baste- lica, südöstlich von Ajaccio, viele Offiziere. Die Zahl der Korsen, die es in den letzten hundert Jahren in Frankreich im Heere (und in der Verwaltung) zu hohen Stellungen gebracht haben, ist unverhältnismäßig groß. In bezug auf körperliche Tüchtigkeit der zur Aushebung kommenden Mannschaften steht Korsika unter 2 2 7 allen französischen Departements bei weitem oben an, indem auf looo zur Stellung kommende Mannschaften im Durchschnitt 774 bis 779, ja in einzelnen Bezirken 886 brauchbar sind. In Korsika spielen die Kinder, eine in nicht-deutschen Ländern sehr seltene Erscheinung, Soldaten oder Banditen. Es leuchtet ein, daß dies den Wert Korsikas für Frankreich wesentlich erhöht, andrerseits die feste Angliederung der Insel an Frankreich fördert. Im bei weitem größten Teile von Korsika, überall da, wo italienische Kultureinflüsse nicht durchgedrungen sind, gilt es für den Mann nicht für anständig, das Feld selbst zu bestellen. Er überläßt das der Frau oder, wenn möglich, gedungenen italieni- schen Landarbeitern, wohl weil sie meist aus der Gegend von Lucca sind oder waren, Lucchesen genannt, deren etwa 12000 alljährlich zu dieser Arbeit herüberkommen. Auf diese fleißigen Leute sieht aber der Korse mit Verachtung herab und gebraucht ihren Namen als Schimpfwort, gerade so wie der Magyare für die besten Bürger des ungarischen Staates den Namen desjenigen deutschen Stammes, aus welchem ein Schiller, ein Uhland, aus welchem die Herrscherhäuser der Hohenstaufen, der HohenzoUern, ja das eigene Herrscherhaus hervorgegangen ist, als Schimpfwort gebraucht. Nur die ganz italienische Halbinsel des Kap Korso, die Gegend von Calvi und von San Bonifacio sind sorgsam be- stellt und gleichen baumreichen Gartenlandschaften, sonst aber sind immer nur kleine Flächen um die Ortschaften angebaut. Wein, Öl, Südfrüchte, Vieh und Holz geben die Mittel zur Er- werbung der nicht hinreichend gewonnenen Brotstoff"e und anderer Bedürfnisse. Die Viehzucht ist durchaus naturwüchsig, sie er- streckt sich auch fast nur auf Schafe und Ziegen, denen die saftarme, aromatische Vegetation besonders zusagt. Ähnlich wie man vor zwanzig Jahren (und vielleicht noch heute) in der Groß- stadt Palermo, vor Fälschung sicher, sich die Milchziege in das dritte Stockwerk eines Palazzo der Hauptstraße hinaufbringen und im Zimmer melken lassen kormte, so sind morgens und abends auch in den Straßen der Städte Korsikas die Ziegen Charakter- figuren. Nachdem sie tagsüber auf den Bergen und in den duftigen Macchien der Milcherzeugung obgelegen haben, tragen sie getreulich ihr Erzeugnis selbst in die Stadt, wo man beim Er- scheinen der Herden die Hausfrauen und Mädchen aus den Häusern herbeieilen sehen kann. Die korsische Ziege zeichnet 15* — 228 — sich durch merkwürdige Buntfarbigkeit ihres langen , hängenden Seidenhaares aus. Die Gewerbtätigkeit Korsikas erstreckt sich als Hausgewerbe und durchaus bodenständig nur auf Deckung des eigenen Bedarfs an Gebrauchsgegenständen, besonders der Bekleidungsstoffe der Gebirgsbewohner, aus Leinen, Schafwolle und Ziegenhaar. Aus letzterem fertigen namentlich die Frauen des Niolo die sogenannten Peloni, rauhe Mäntel, in unübertrefflicher Wetterbeständigkeit an. Die wirtschaftliche Entwicklung der Insel wird aber doch mit der Erschließung derselben durch Straßen und Eisenbahnen, mit der Hebung des Verkehrs im allgemeinen und auch durch den sich mehrenden Fremdenbesuch raschere Fortschritte machen. Unter den Fremden wird nächst den Engländern die Zahl der Deutschen immer größer, während gerade Franzosen die Insel verhältnismäßig selten besuchen und die französischen Beamten gern dieselbe so rasch wie möglich wieder verlassen. Ajaccio namentlich entwickelt sich immer mehr zu einer vielbesuchten Winterstation. Alle diese Umstände, zu denen aber noch andere, im Volks- charakter wurzelnde, hinzukommen, lassen keine dichte Bevölke- rung auf der Insel erwarten. In der Tat hat Korsika, obwohl es nur um looo qkm kleiner ist als das Großherzogtum Hessen und trotzdem die vorher furchtbar zusammengeschmolzene Be- völkerung seit der französischen Besitzergreifung stetig gewachsen ist, nur so viel Bewohner, wie die kleine Provinz Oberhessen, so daß nur ^2 Menschen auf i qkm kommen. Weite, mit Macchien bedeckte Gebiete, besonders zwischen Ajaccio und Calvi, sind fast menschenleer. Und doch könnte die Insel wohl die doppelte Bewohnerzahl ernähren! Lehrreich ist dabei, daß das nördlichste Viertel, die eigentliche Banda di dentro, auf ihrem nur Hügel- land bildenden nichtkristallinischen Boden eine der mittleren Frankreichs entsprechende Volksdichte hat, also doppelt so groß, als dem Mittel der ganzen Insel entspricht, dreimal so groß wie im kristallinischen Korsika. Auf dem etwa 2100 qkm des aus geschichteten Gesteinen bestehenden Korsika wohnen 1 40 000 Menschen, im Arrondissement Bastia sogar 76 auf i qkm, auf den 6600 qkm des kristallinischen Korsika nur 149000. Dieses letztere ist denn auch vorzugsweise das Gebiet der Wälder und Macchien, mehr von Hirten bewohnt als von Ackerbauern, vor- — 229 — wiegend der Schauplatz der Clanfehden und der Vendetta. Man wird selten einen so durchgreifenden Einfluß des geologischen Baues eines Landes auf den Charakter der Landschaft, den An- bau, die Volksdichte und den Charakter der Bewohner feststellen können, wie hier. Dieser geringen Dichte der Bevölkerung entsprechend müssen alle Städte, die naturgemäß vorzugsweise Küstenstädte sind, klein sein. Bastia, noch immer die größte, hat doch nur 23000 Ein- wohner, Ajaccio, so sehr es von Frankreich gefördert wird, nur 1 9 000. Die weit kleinere nationale Hauptstadt der Korsen, Corte, liegt aber im Inneren, den Angriffen der Fremden mög- lichst entrückt. Sie hat in der Geschichte der Insel, namentlich im vorigen Jahrhundert, als Sitz des Diktators Pasquale Paoli gegenüber Bastia und Ajaccio etwa die Rolle gespielt wie Dront- heim als nationale Hauptstadt Norwegens in der Zeit, wo die Hanseaten in dem günstiger gelegenen Bergen, die Dänen in Christiania überwältigenden Einfluß auszuüben vermochten. Die Lage von Corte ist eine sehr malerische und bevorzugte. Nahe dem Mittelpunkt der Insel, auf der von einem kundigen Auge sofort zu erfassenden geologischen Grenze zwischen dem hohen rauhen Granitgebirge und dem rundere Formen und geringere Höhe aufweisenden mesozoischen des nordöstlichen Viertels, also auch zwischen dem wilden, menschenarmen Korsika und dem besser angebauten volkreicheren, haben drei sich hier vereinigende Flüsse, der Tavignano, der größte der Insel, und seine beiden Nebenflüsse Restonica und S. Pancrazio, eine Talweitung aus- gewaschen, deren durch ungeheure diluviale Geröllmassen wieder aufgehöhte Sohle nur eine Meereshöhe von 400 m hat. Mitten in derselben ist ein Felshügel von 100 m relativer Höhe stehen geblieben, der, von gegen das Kristallinische steil aufgebogenen Schichten gebildet, zur Hälfte noch vom brausenden Tavignano umflossen und benagt wird, so daß dort ein 100 m hoher, fast senkrechter Absturz entstanden ist, während gegen Osten der Felshügel etwas weniger steil ist. Auf demselben liegt die noch von den Franzosen als Festung benutzte Zitadelle, zu welcher die Stadt mit übereinander aufgetürmten Häusern emporklimmt. Sie bietet so, mit ihren weißen, hohen, fensterreichen Häusern sich scharf von dem dunklen Gebirgshintergrunde abhebend, von fem ein entzückendes Stadtbild. Freihch, das Innere entspricht dem — 230 — nicht. Schmutz und Unrat füllt die meist engen, steilen Gassen, wenn auch nicht in dem Maße wie in Bastia. Zu der natür- lichen festen Lage kommt noch eine gewisse Begünstigung für friedlichen Verkehr: Corte ist der Knotenpunkt aller Verkehrs- wege im Innern der Insel. Das offene Tal des Tavignano führt zur Ostküste, das nahe und bequem zu erreichende Golotal nach Nordosten nach Bastia, und selbst nach Ajaccio und an die Westküste führen verhältnismäßig gangbare Pässe. Während alle übrigen Städte ähnlich diesen drei größten und geschichtlich wichtigsten aus engen Gassen mit hohen Häu- sern bestehen und meist hoch auf steilen Bergen liegen, bestehen die Dörfer, obwohl auch von ihnen viele eine ähnliche Lage haben, im Gebirge häufig aus vereinzelten kleinen Häuschen, die, aus Granitblöcken erbaut und mit Stroh gedeckt, von mächtigen Kastanien beschattet werden. Die Bevölkerung eines schwer zugänglichen, meerumschlosse- nen Gebirgslandes wird notwendig auch in ethnischer Hinsicht, in Charakter und Sitten manches Eigenartige haben bzw. erhalten haben. Die Korsen dürften, wie man namentlich aus Schädel- messungen zu schließen geneigt ist, Nachkommen der alten Iberer sein, die sich von jeher, von der Landesnatur geschützt, von fremder Zuwanderung und Blutmischung ziemlich rein er- halten haben dürften, wie die schon erwähnte ligurische Kolonie von S. Bonifacio und die im vorigen Jahrhundert in Carghese angesiedelten Griechen zeigen. Die Schädelmessungen lassen wenigstens einen einheitlichen Typus erkennen. Braunes Haar und dunkle Augen überwiegen bei weitem, blonde sind wenig vertreten. Nur im Niolo zeichnen sich die Bewohner durch lichte Hautfarbe, blondes Haar und ungewöhnliche Körperhöhe aus, so daß man auch in ihnen versprengte Reste der Goten hat sehen wollen. Das Niolo, das schwarze Land, nach den dunkeln Wäldern von Lariciokiefern benannt, ist in der Tat das innerste, abgeschlossenste Hochtal der Insel, in welchem der Golo von den Schneefeldern und Seen des Monte Cinto seine Gewässer sammelt. Von der Westseite her ist es nur über den 1464 m hohen Col di Vergio, von Osten her nur durch die enge Schlucht des Golo zugänglich, durch welche ein Ziegenpfad, seit kurzem eine kühne Gebirgsstraße gebahnt ist. In 84 Windungen führt dieselbe empor, einer Treppe gleich, daher Scala di Sta. — 231 — Regina genannt. Männer, welche zwei Meter und mehr messen, sind im Niolo häufig, und mit dem zottigen Pelone bekleidet, machen diese Riesen einen wildeu Eindruck. Das Niolo war von jeher der Schauplatz der wildesten Vendetten, noch heute werden zahlreiche Gensdarmen dort aufgeboten, wenn Markt ist, um blutige Kämpfe zu verhindern. Auch sonst zeichnet sich der Korse durch kräftigen, gedrungenen Körperbau aus. Er ist ge- weckten Geistes, außerordentlich bildungsfähig und ehrgeizig, Vaterlands- und freiheitsliebend, kriegerisch und tapfer, aber auch leidenschaftlich und zu Gewalttaten geneigt. Die Volksbildung ist allerdings noch sehr dürftig, Aberglaube führt allgemein noch die Herrschaft. Das eigentliche Gebirgsvolk zeichnet sich ebenso sehr durch Einfachheit wie Reinheit der Sitten aus. Untreue ist selten und gilt als schwerste Verschuldung. Gastfreiheit wird in Ehren gehalten, selbst gegenüber dem der Vendetta Verfallenen. Bettler gibt es nicht, außer in einigen Städten, wo der Unverstand der Fremden sie groß zieht. Die öffentliche Sicherheit läßt für jeden, der nicht in Blutrache verwickelt ist, nichts zu wünschen übrig. Doch dringen neuerdings manche Schattenseiten höherer Gesittung ein. Der Absynthgenuß z. B. hat von Frankreich her in Schrecken erregender Weise Verbreitung gefunden. Bezeich- nend für Charakter und Gesittung der Korsen ist jedoch die klägliche Stellung der Frau, obwohl einzelne Frauen wegen helden- hafter Taten viel gepriesen werden. Alle Arbeit lastet auf der Frau, sie verblüht daher rasch. Sie ist mehr die Sklavin als die Genossin des Mannes. Sie darf nur das Mahl bereiten, aber nicht mit dem Manne bei Tische sitzen; ja, es gibt viele Familien, in denen ein besseres Brot für die Männer, ein geringeres für die Frauen gebacken wird! Manches Altertümliche hat sich wie bei anderen Gebirgs- oder Inselvölkern auch bei den Korsen erhalten. Eigenartig ist die Totenverehrung. Für die Eltern trägt man drei bis vier Jahre Trauer, für Gatten das ganze Leben, wenn nicht eine neue Ehe geschlossen wird. Jede Familie ist bemüht, eine eigene Toten- kapelle zu besitzen, vorwiegend kleine viereckige, weiß getünchte Bauwerke mit Kuppelgewölbe, die den Kubbas, den Gräbern mohammedanischer Heiliger, wie man sie in Nordafrika so häufig sieht, auffallend ähneln, namentUch wenn sie, wie häufig, ver- einzelt und weithin sichtbar auf den Kuppen der Hügel errichtet — 22,2 — sind. Hier und da stehen sie, wie bei Ajaccio, in langen Reihen nebeneinander, von Zypressen beschattet. Schmuckloser sind die zahlreichen Kreuze an den Wegen, die die Stätte bezeichnen, wo ein Mord verübt wurde. Hierher gehören auch die Toten- klagen, die Voceri, die sich hier wie in Sardinien und anderen abgeschlossenen Landschaften noch erhalten haben. Meist in wehklagendem Tone von den Weibern vorgetragene gereimte Improvisationen zur Verherrlichung des Toten, seiner Tugenden, seiner Taten, wohl auch Vorwürfe, daß er sie verlassen habe, vermögen dieselben, wenn sie einem Ermordeten gelten, auch auf den Unbeteiligten einen furchtbaren Eindruck zu machen. Die Weiber tauchen ihre Taschentücher in die blutenden Wunden, benetzen die Leiche mit ihren Tränen, lassen ihre aufgelösten Haare wehen, erheben die Hände in höchster Leidenschaft gen Himmel und stoßen Schreie der Verzweiflung aus. Die Männer zücken dann die Dolche, stoßen mit den Gewehren auf und brechen in furchtbare Schwüre der Rache aus. Die Blutrache ist auch ihrerseits ein Ausdruck tieferer Ge- sittung und daher namentlich bei Gebirgsvölkern noch recht häufig, in Europa beispielsweise noch bei den Mainoten und den Alba- nesen. Es ist daher unrichtig, wenn behauptet worden ist, das genuesische System, eine Familie gegen die andere zu hetzen, um eine Einigung gegen den gemeinsamen Feind zu verhindern, habe die Vendetta erst ins Leben gerufen. Gefördert hat es dieselbe gewiß. Die Blutrache, gar nicht selten durch einen un- beabsichtigten Totschlag hervorgerufen, erbt sich vom Vater auf den Sohn und weiter, sie nimmt immer größere Ausdehnung an, daß oft die eine Hälfte eines Dorfes gegen die andere, ein Dorf gegen das andere zu Felde lag. Es ist vorgekommen, daß die erwachsene Schwester den kleinen Bruder bei der Totenklage das Blut des ermordeten Vaters saugen und ihn dabei schwören ließ, den Toten zu rächen, sobald er ein Gewehr führen könnte. Und der Knabe erfüllte den Schwur, noch ehe er erwachsen war. Zehn Jahre lang (1830 — 1840) lieferten in Sartene, der viert- größten Stadt der Insel, in deren Umgebung die Vendetta noch am meisten blüht, die Bewohner der unteren Stadt denen der oberen blutige Gefechte; ja noch anfangs der neunziger Jahre ist es nahe bei Ajaccio zu einem Gefecht verfeindeter Familien gekommen, bei welchem vier Tote auf dem Platze blieben und — 2S3 — es mit Mühe einflußreichen Männern gelang, Frieden zu stiften, den alle Männer der gegnerischen Familien feierlich in der Kirche auf dem Altare unter dem Läuten der Glocken und Ausstellung der Sakramente unterschreiben mußten. Zuweilen wird auch durch Abschluß einer Ehe der Frieden besiegelt. Nicht selten endet aber die Fehde mit der Austilgung einer ganzen Familie. Im Innern der Insel kann man selbst die Gemeinderäte mit dem ge- ladenen Gewehr in der Hand oder umgehängt ins Rathaus zur Sitzung kommen sehen. Auch heute noch ist die Achtung vor dem Gesetz so gering, daß sich dies in viel gebrauchten Sprich- wörtern ausprägt, wie z. B.: Ich lege mehr Gewicht auf ein gutes Gewehr als auf einen guten Richter, oder: Wenn man einen Feind hat, so hat man die Wahl zwischen drei S: schiop- petta, stiletto, strada, d. h. Flinte, Dolch, Flucht. Sich selbst Recht zu verschaffen, gilt für so heilige Pflicht, daß, wer es unter- läßt, der Verachtung anheim fällt und man sich lieber dem Tode als der Schande aussetzt. Einen Mörder aus Blutrache pflegen korsische Geschworene freizusprechen, und wer nach einem solchen Morde in die INIacchia flieht, ist, solange er kein gemeines Verbrechen begeht oder gar einer Frau zu nahe tritt, der all- gemeinen Teilnahme sicher. Die Hirten des Gebirges gewähren ihm Zuflucht, die ganze Familie, der ganze Clan unterstützt einen aus solchen Gründen Verfolgten gegen die Behörden und ihre Organe. Wollte jemand gegen Geld einen derartig Verfolgten verraten, der Rächer selbst würde ihn töten. So ist es möglich gewesen, daß im Schutz der Macchien derartige Banditen, die also keineswegs gemeine Räuber sind, Jahrzehnte lang allen Ver- folgungen spotten konnten, ja die berühmte Banditenfamilie der Bella Coscia hielt ein halbes Jahrhundert die Gensdarmerie in Bewegung und schloß 1892 unter Gewährung völliger Amnestie mit der Regierung förmHch Frieden. Schon 1870 war still- schweigend ein Waffenstillstand eingetreten, als dieselben eine Kompanie Franktireurs gegen die Deutschen ins Feld stellten. Im vorigen Jahrhundert scheint die furchtbare Unsitte ihre größte Entwicklung erlangt zu haben. Es erlagen derselben in manchem Jahre bis zu 1000 Männer, meist natürlich in der Blüte der Jahre, ja es wird die Zahl von 30000 für dreißig Jahre angegeben. Mit so großem Erfolge die Franzosen auch dagegen angekämpft haben, so beziff"erten amtliche Angaben, die aber sicher hinter — 234 — der Wahrheit zurückbleiben, die von 182 i — 1852 verübten Morde noch immer auf 4300, und nachdem sich dieselben unter Na- poleon in. durch Einführung strenger Spezialgesetze sehr ge- mindert hatten, scheinen sie in der allerneuesten Zeit nach deren Aufhebung sich wieder zu mehren. Man schätzte in den letzten Jahren die Zahl der in den Macchien und Bergen umherirrenden Banditen auf sechshundert. Nicht selten vereinigen sie sich zu dreißig bis vierzig, nie aber bilden sie wirkliche Räuberbanden. Sie erheben, wenn die Not sie zwingt, nur bei nächtlicher Weile in den Dörfern die unerläßlichen Lebensbedürfnisse, die ihnen niemand versagt. Auch wird der gewöhnliche Reisende, nament- lich wenn er der Landessprache nicht kundig ist, und das Miß- trauen, welches der Korse jedem Fremden entgegenbringt, zu brechen vermag, kaum etwas, es sei denn durch Zufall im men- schenleeren Hochgebirge, von Banditen und Banditentum merken. Diese Mitteilungen beruhen daher auch vorzugsweise auf fran- zösischen bzw. einheimischen Quellen. Ausgefüllt mit fast ununterbrochenen Kämpfen der einzelnen Familien und Clane untereinander oder gegen die Fremdherr- schaft, besonders der Genuesen, kennt die Geschichte von Korsika an Zügen ungebändigter Leidenschaft und Rachsucht, an der Fülle furchtbarer Bluttaten kaum ihresgleichen; andererseits kann sie sich aber auch an Taten aufopfernder Vaterlandsliebe vielleicht nur mit mittelalterlicher Geschichte des rauhen Norwegens messen. Sampiero, der große Patriot des 16. Jahrhunderts, der sich in Frankreich und Italien vom einfachen Söldner zum berühmten Condottiere aufgeschwungen und, heimgekehrt, die Genuesen fast von der Insel vertrieben hatte, erwürgt mit eigener Hand sein junges, schönes Weib, so glühend er es liebt, als der Verdacht auf sie fällt, daß sie Beziehungen zu den Feinden angeknüpft habe. Bald rächt sie der Dolch eines Verwandten. Als 1729 ein allgemeiner Aufstand gegen die Bedrücker ausbrach, schworen die jungen Mädchen von Corte, keinem Manne ihre Hand zu schenken, solange noch der Fuß eines Genuesen den Boden der Heimat beschmutze. In der Tat gelang es, die Zwingherren bis auf die festen Küstenstädte von der Insel zu verdrängen und die ewige Trennung derselben von Genua auszusprechen, so daß ein Abenteurer, ein westfälischer Edelmann, Theodor von Neuhof, der sich rasch die Herzen der Korsen zu gewinnen gewußt hatte, — 235 — sich 1736 zum Könige von Korsika ausrufen lassen konnte. Frei- lich war die Herrlichkeit nicht von Dauer; bis 1768 behaupteten sich noch die Genuesen auf der Insel und traten sie dann an Frankreich ab, das sich jedoch auch nur durch Eroberung in ihren Besitz setzen konnte und erst 1796 sie endgültig mit sich vereinte. So versteht man, wie sich weder die Bevölkerung vermehren noch der Wohlstand und die Gesittung heben konnte, und Frank- reich hier noch eine große Aufgabe zu lösen hat. Aber zu den Naturreizen kommt auf der Insel die Fülle der geschichtlichen Erinnerungen, um jeder Örtlichkeit derselben eine besondere Anziehung zu verleihen. IV. Die Iberische Halbinsel. I. Geographische Skizze der Iberischen Halbinsel. 0 Hinter den Pyrenäen fängt Afrika an, lautet ein französisches Sprichwort. Wir Deutschen sagen: das kommt mir spanisch vor; die Spanier selbst sprechen von Cosas d' Espana. Alle diese sprichwörtlichen Wendungen sollen andeuten, daß in Spanien, wie es tatsächlich der Fall ist, manches absonderlich und jedenfalls anders ist als im übrigen Europa. Die Erklärung dieser Er- scheinung haben wir wohl zunächst in der Landesnatur und den von diesen beeinflußten geschichtlichen Verhältnissen zu suchen. Die Iberische Halbinsel ist ein Länderindividuum mit so scharf ausgeprägten, eigenartigen Zügen, daß sich kein zweites ihm in Europa zur Seite stellen läßt, und nur etwa Arabien oder Afrika Vergleichspunkte bieten. Sie ist eine Welt für sich, eine Welt der Gegensätze. Einem hohen, weit nach SW vorgestreckten Vor- gebirge Europas vergleichbar, eine zu sieben Achtel meerumflossene Halbinsel, trägt sie doch im wesentlichen die Züge einer ge- schlossenen Festlandsmasse, mit geringen Beziehungen zum Meer, überwiegend festländischem, aber an Gegensätzen überreichem Klima. Sie umfaßt trotz geringer meridionaler Erstreckung über noch nicht acht Breitengrade, neben den regenreichsten Gebieten von ganz Europa, neben Landschaften mit sommergrünen Wäldern und Wiesen wie in Deutschland, wo die Bewohner Apfelwein trinken, die niederschlagsärmsten Striche unseres Erdteils, wo nur künstliche Bewässerung, etwa wie am Nordrand der Sahara, dem dürren Steppenboden Ernten entlockt und neben den feurigsten i) Ein Vortrag gehalten in der Ges. für Erdkunde zu Berlin am 4. März 1893. Verh. G. E. Berlin 1893 S. 131 — 146. — 237 — Weinen Südeuropas das Zuckerrohr gedeiht und die Dattelpalme in ausgedehnten Hainen ihre Früchte reift! Abgesondert und in sich abgeschlossen, auf sich angewiesen und auch nach der Fülle und der Mannigfaltigkeit ihrer Erzeugnisse befähigt ein Sonder- dasein zu führen, besitzt die Halbinsel doch vermöge ihrer Ober- flächengestalt so grelle landschafthche, im Zusammenhang damit wirtschaftliche und ethnische Gegensätze, daß sie zur Bildung einer politischen Einheit dennoch unfähig erscheint. Abgeschlossenheit und Vereinsamung, das sind die auffällig- sten Charakterzüge der Iberischen Halbinsel, sie haben dort in erster Linie Verhältnisse geschaffen, die dem Reisenden in Spanien so vieles spanisch vorkommen lassen. Als der Gliederung und der Inselbegleitung fast ganz entbehrendes, geschlossenes Fünfeck erhebt sich dieselbe steil aus großen Meerestiefen zu einer mitt- leren Höhe von etwa 640 m; nach dieser bedeutenden Höhe, nach der Geschlossenheit der Oberflächengestalt wie der Umrisse und der vorherrschenden Trockenheit des Klimas in der Tat ein europäisches Afrika. Gegen Frankreich ist der hohe, geschlossene Wall der Pyrenäen aufgetürmt; hinter diesem liegt der tiefe Gra- ben des Ebrobeckens, welchem wiederum das eigentliche Iberische Tafelland seinen höchsten Teil als Steilrand zukehrt. So betritt man zu Land die Halbinsel nur auf den Wegen um die Enden der Pyrenäen, von denen sich der eine durch das baskische, der andere durch das katalonische Bergland, wie über Brücken zum Tafelland selbst fortsetzt. Im Norden schließt das hohe kanta- brische Gebirge vom Verkehr über das stürmische Biscayische Meer mit schon ferneren Gegengestaden, etwa mit der Bretagne, England und Irland ab; am Südrand, welchem das nahe, aber auch durch hohe Bergketten abgeschlossene Gegengestade von Kleinafrika gegenüberliegt, erhebt sich das noch höhere, aber doch tiefere Querfurchen aufweisende andalusische Faltungssystem. So kehrt die ganze Halbinsel sozusagen Europa und den Nach- barländern den Rücken und vermag nur schwer die Vermittler- rolle zwischen Europa und Nordwestafrika, zu der sie doch auf den ersten Blick berufen erscheinen möchte, zu spielen. Nur einmal, in der Blütezeit der mohammedanischen Herrschaft, hat sie derselben entsprochen. Aber um so innigere Beziehungen unterhält sie vielleicht zum Ozean? Zu diesem neigt sie sich ja, diesem sendet sie ihre großen Ströme zu? Auch dies nicht; — 238 - denn letztere sind wasserarme, echtafrikanische Hochlandströme, die das Innere nicht erschließen. Ohne Inselbegleitung, ohne Gegengestade, ohne eigentliches Hinterland, wenn auch nicht gerade arm an Häfen, vermochten die meist steilen und schmalen Küstensäume keine seetüchtige Bevölkerung großzuziehen. Nur in Katalonien mit den Balearen, und später wohl auch im Basken- lande, war dies geschehen; an den Ozeanküsten mußte Seever- kehr von außen eingebürgert, die Bevölkerung von Fremden zu Seefahrern erzogen werden. Es ist urkundlich bezeugt, daß wiederholt zu Beginn des 12. Jahrhunderts genuesische SchifTs- bauer und Seeleute nach Galizien berufen wurden, um die Be- wohner dieser doch so fischreichen Küsten gegen maurische See- räuber zu schützen. Ähnlich erscheinen Genuesen als Admiräle und Kapitäne der Flotten von Kastilien im Kampf gegen die Mauren im 13. und 14. Jahrhundert; noch im 16. Jahrhundert lag in Spanien die wissenschaftliche Leitung des Seewesens, die Prüfung der angehenden Steuermänner, die Ausarbeitung von Segelanweisungen ganz in den Händen von Italienern. In Por- tugal betrieben umsichtige Herrscher die nautische Erziehung ihres sich sehr langsam aus einem durchaus festländischen, meer- scheuen in ein seefahrendes verwandelnden Volkes ganz syste- matisch. Noch liegen uns die Urkunden vor, durch welche ein genuesischer Admiral, Emmanuel Pessagno, 13 17 in die Dienste Portugals trat und sich verpflichtete, stets zwanzig des Seewesens kundige Genuesen als Kapitäne und Piloten im Dienst des Königs zu halten. Hundert Jahre lang waren Italiener mit der Leitung des portugiesischen Seewesens betraut, wie solche ja auch später noch trotz der nationalen Eifersucht als Entdecker in portu- giesischen Diensten auftreten; denn noch im 15. Jahrhundert waren, nach dem Zeugnis des Barros, des zeitgenössischen por- tugiesischen Geschichtschreibers des Entdeckungszeitalters, die nautischen Keimtnisse der Portugiesen so gering, daß sie ihnen nicht erlaubten, die Küsten außer Sicht zu verlieren. So sehen wir, daß sorgsame, lange andauernde Schulung der Ozeananwohner durch auf dem Mittelmeer ausgebildete Seeleute die Halbinsel erst aus ihrer Vereinsamung gerissen hat. Wie Italiener schon vorher, wie einst im Altertum die Phöniker auf ihren Fahrten nach Flandern und England die Häfen der Halbinsel, besonders Lissabon, mit ihren Flotten belebt hatten, so haben Italiener den — 239 — Grund gelegt zur Entwicklung Portugals zur Welthandels- und Kolonialmacht, so hat ein Italiener der Halbinsel erst ihr fernes Gegengestade gegeben, das wir mit Recht auch nach einem Ita- liener benennen. Durch die Entdeckungen an der Westküste Afrikas, durch die Entdeckung Amerikas, deren Gedenkfeier ja soeben die ganze gesittete Welt begangen hat, ist die Halbinsel erst in eine günstigere Weltstellung gerückt worden. Denn unter allen Ländern Europas liegt sie Zentral- und Südamerika wie Westafrika am nächsten, sie streckt sich denselben förmlich ent- gegen, und Cadiz, Sevilla und Lissabon erscheinen wie zu Aus- gangspunkten des Verkehrs nach jenen Ländern bestimmt. Es haben so die geographischen Verhältnisse mitgewirkt, daß Spanien und Portugal jene ihre fernen Gegengestade so lange beherrscht und unter Ausschluß aller andern Völker ausgebeutet, auf die- selben den tiefgreifendsten Einfluß ausgeübt haben. Freilich dauerte diese Zeit größter Blüte nicht lange; denn sie war nicht, wie etwa bei England, in der gesamten Landesnatur begründet, sondern bis zu einem gewissen Grade künstlich herbeigeführt. Die in Portugal auch ethnische, die Portugiesen von den Spaniern differenzierende Rückwirkung jener fernen, übergroßen, auf einer tiefen Gesittungsstufe stehenden Länder, die ihre Schätze, fast ohne eigene, erziehende Arbeit ihrer Bewohner, über die Halb- insel ergossen hatten, trug zu dem schon mit dem 17. Jahrhundert beginnenden Verfall bei; die Vereinsamung trat nun um so mehr wieder hervor, als die Bewohner der Halbinsel, die all ihr Denken, alle ihre Spannkraft auf die Behauptung jener großen über- seeischen Staatsdomänen zu richten hatten, sich Europa mehr und mehr entfremdeten. Die Beziehungen zu jenen Ländern sind Spanien und Portugal somit geradezu verhängnisvoll geworden; zurückgeblieben, verarmt, entvölkert, wiegt die Halbinsel, obwohl sie an Größe das Deutsche Reich beträchtlich überragt, heute recht leicht in der Wagschale der europäischen Politik, und ihre Bewohner haben auf die Entwicklung der menschlichen Gesittung in den letzten Jahrhunderten fast gar keinen Einfluß auszuüben vermocht. Wenn wir die Ursachen dieser Erscheinungen bis zu ihren letzten Wurzeln verfolgen, so liegen dieselben sämthch in der Landesnatur, vor allem in der Oberflächengestalt der Halbinsel, und diese wird gekennzeichnet durch den alles beherrschenden — 240 — Gegensatz eines großen zentralen Gebiets und der sich rings- um anlagernden schmalen Randlandschaften. Ein Meister unserer Wissenschaft hat uns zuerst ein tieferes Verständnis des Erdteils Asien erschlossen, indem er vor allem den Gegensatz zentraler und peripherischer Gebiete klar darlegte. Einen ähn- lichen Gegensatz, wenn auch im kleinen und gemildert, auf den sich auch die Begriffe zentral und peripherisch nicht in voller Schärfe anwenden lassen, haben wir auf der Iberischen Halb- insel. Diesen alles beherrschenden Gegensatz, der jeden Reisen- den, wo immer er aus den Randlandschaften zu den zentralen emporsteigt, in seiner Unvermitteltheit in Staunen versetzen muß, gestatten Sie mir wohl hier etwas eingehender zu beleuchten. Zu diesem Zweck wäre es nötig, ein Bild der Oberflächen- gestalt der Halbinsel selbst zu entwerfen. Das wäre aber nur möglich unter Eingehen auf die geologische Geschichte und die Tektonik, so daß ich fürchten müßte, Ihre Aufmerksamkeit zu lange in Anspruch zu nehmen. Ich bescheide mich daher mit einem Entwurf in großen Zügen, etwa als legte ich Ihnen eine Karte aus einem kleinen Schulatlas vor. Der Kern derselben und reichlich drei Viertel ihres Flächen- inhalts wird gebildet von der alten Iberischen Scholle, einem der ältesten Stücke des europäischen Festlandes. Aufgebaut aus archäischen und paläozoischen Felsarten, war dieser Teil der festen Erdkruste zu Ende der Karbonzeit zu einem gewaltigen Gebirge von alpinen Verhältnissen zusammengefaltet worden. Heute ist von demselben, nachdem fast ringsum Randstücke auf sich nahezu rechtwinklig schneidenden Systemen von Bruchlinien in die Tiefe gesunken sind, und der Rest einer lange dauernden Abtragung, teils durch die Brandungswoge des Meeres, teils durch die zerstörenden Kräfte des Luftkreises ausgesetzt gewesen ist, nur noch das Grundgerüst vorhanden. Aber selbst dieses tritt nur am Westrand der Halbinsel unverhüllt zutage, sonst trägt es überall eine mächtige Decke wagerecht liegender Schichten, welche aus den Trümmern des alten Gebirges im mesozoischen Zeitalter auf dem Grund des über die alte Scholle hinüber- greifenden Meeres, in der Tertiärzeit in ungeheuren, dieselbe zum Teil bedeckenden Süßwasserseen gebildet wurden. Die weiten Ebenen von Alt- und Neukastilien auf der einen, von Aragonien auf der andern Seite entsprechen den großen tertiären — 241 — Seen, zu denen noch eine Anzahl kleinerer hinzukommt; das beide voneinander scheidende Gebirge besteht aus den nur durch Bruchlinien zerstückten und durch die rinnenden Wasser ge- gliederten, wagerecht liegenden Schichten jener mesozoischen Transgression , die durch eine wohl zu Ende der Tertiärzeit er- folgte Hebung zur Hauptwasserscheide der Halbinsel und zur größten INIassenanschwellung derselben wurde, ein Gebiet, welches in einer Ausdehnung von mehr als 55 000 qkm eine mittlere Höhe von mehr als 1000 m hat. Auch wo das Grundgerüst der Iberischen Scholle der jüngeren Decke entbehrt, erscheint es glatt abgeschliffen wie im südUchen Portugal in großer Ausdehnung als Ebene; in andern Gegenden ist die Faltung ähnlich wie in un- serem Rheinischen Schiefergebirge, an welches man vielfach er- innert wird, in niederen, dem Taunus zu vergleichenden Höhen- zügen erkennbar, und wiederum anderwärts, namentlich in Nord- westen, haben Granitdurchbrüche in einer Ausdehnung von etwa 50 000 qkm ein unregelmäßiges Berg- und Hügelland hervor- gerufen. Überall aber sind die relativen Höhen gering, außer in dem zentralen Scheidegebirge, über dessen genetische Beziehungen wir noch nicht hinreichend aufgeklärt sind, das aber doch wohl als eine Reihe von Horsten aufzufassen ist. Da somit der größte Teil der alten Scholle eine jüngere Decke tafellagernder Schichten trägt, auch die unbedeckten Teile vielfach zur Form der Ebene abgeschUffen sind, so glauben wir die Oberflächengestalt am besten zu kennzeichnen, wenn wir, nach A. v. Humboldts Vorgang die einheimische Bezeichnung Meseta übertragend, von einem Ibe- rischen Tafelland sprechen. Diesem gewaltigen Hauptbau der Halbinsel sind nun später zwei Anbauten hinzugefügt worden, so grundverschieden nach Plan und Stil, wie es etwa Baumeister früherer Jahrhunderte fertig brachten, fast als hätte man an einen alten massigen do- rischen Tempel, die Iberische Scholle, als Seitenflügel zwei reich gegUederte, himmelanstrebende luftige gotische Dome angebaut: das andalusische Faltensystem im Süden, das pyrenäisch-kanta- brische im Norden. Beide haben ihre Ausgestaltung erst in der zweiten Hälfte der Tertiärzeit erfahren und sind durch seitlichen Druck gegen die alte, tief verfestigte Scholle hingepreßt und emporgefaltet worden, die sie nun als hohe Wälle vom Meer ab- schließen. Hier haben wir es also mit parallelen, durch Längs- Fischer, Mittelmeerbilder. l6 — 242 — und Quertäler gegliederte Gebirgsketten zu tun, welche ihrer Höhe nach in Europa nur von den Alpen übertroffen werden und somit das Tafelland weit überragen, Gebirge von großer Mannigfaltigkeit des inneren Baues und überaus wechselvollen Oberflächenformen. Die dem zentralen Tafelland an- und vorgelagerten Rand- landschaften besitzen somit als Faltenlandschaften eine zum Teil schon in ihrer Entstehung begründete, von diesem völlig ver- schiedene Oberflächengestalt; zum Teil ist dieselbe, wo es sich nur um die Abdachung der alten Scholle zum Meere handelt, durch die rinnenden Wasser geschaffen bzw. weiter ausgebildet worden. Das hohe, gegen das Meer fast ringsum durch noch weit höhere Gebirgswälle abgeschlossene zentrale Gebiet beeinflußt nämlich zunächst in hohem Grad die klimatischen Verhältnisse und gibt auch diesen im kleinen einen Anstrich, welcher an Asien erinnert. Namentlich entwickelt sich während des Sommers hier ein Gebiet bedeutender Erhitzung und Auflockerung der Luft, welches Luftströmungen von den umgebenden Meeren, nament- lich aber von N und NW und damit besonders große Nieder- schläge an der ganzen hohen Nordseite hervorruft. Die Rand- landschaften zeichnen sich daher ringsum, da sie vom Innern abgeschlossen und mit steilem Anstieg dem Meer zugekehrt sind, durch maritimes Klima aus, also ziemUch gleichmäßigen Gang der Wärme, milde Winter, reichliche Niederschläge und so große Luftfeuchtigkeit, daß an einzelnen Punkten alles Eisen sofort rostet und das Kochsalz zerfließt. Vor allem zeigen sich die Niederschlagsverhältnisse, die ja durch G. Hellmann vor wenigen Jahren eine mustergültige Darstellung erfahren haben, boden- plastisch beeinflußt. Die Niederschlagshöhe sinkt in den Rand- landschaften nirgends unter 60 cm, ja von der Tejomündung um den West- und Nordrand bis zur Bidassoa nicht unter 80 cm, und steigt in größeren Gebieten auf 160 cm, ja an der portu- giesischen Serra da Estrella auf 3,5 m, eine Niederschlagshöhe, die in Europa selten wiederkehrt. Und diese Niederschlags- mengen verteilen sich überall am Nordrand auf drei Jahreszeiten, ja selbst der Sommer ist dort nicht niederschlagsarm zu nennen. Nur die südöstlichen Randlandschaften von Südvalencia und Murcia, die in jeder Hinsicht in den engsten Beziehungen zum Tafelland stehen, sind infolge ihrer Lage und Oberflächengestalt — 243 — unter den Randlandschaften verhältnismäßig niederschlagsarm, in dem Maße, daß dort vielfach das Land, wo es nicht künstlich bev^rässert werden kann, im Angesicht des Mittelmeers völligen Steppencharakter annimmt. Vom Meer abgeschlossen, haben die inneren Landschaften der Halbinsel wesentlich festländisches Klima, heiße Sommer und kalte Winter, bei großer Veränderlich- keit der Temperatur und großer Trockenheit. Hier liegen die niederschlagsärmsten Landschaften Europas. Diese Gegensätze des Klimas verschärfen nun noch mehr die Gegensätze der Oberflächengestaltung. In den auch petro- graphisch und tektonisch mannigfaltigeren Randgebieten besitzen die reichlich genährten Flüsse und Bäche bei der Steilheit des Abfalls außerordenthche Erosionskraft, überall ist das Land von meist engen und tiefen Tälern zerschnitten, das Relief ein wechsel- volles. In Asturien hatte man die größte Mühe, eine ebene Strecke von nur i km Länge zu finden, um eine Standlinie für die Landestriangulation zu messen! Auf dem Tafelland da- gegen ist bei den geringen Niederschlägen und den geringen Höhenunterschieden die Erosionskraft des Wassers gering, ja es dürften dort die Bewegtheit des Reliefs mildernde Staubablage- rungen nicht ganz wirkungslos sein. Bei der weiten Verbreitung der losen tertiären und quartären Ablagerungen, der großen, das ganze Jahr herrschenden Trockenheit und der Hitze des Sommers sind Staubstürme dort keine Seltenheit; wochenlang lagert sich im Sommer eine Art Hitznebel über die weiten Ebenen, gebildet durch feinste Staubteilchen, welche mit der überhitzten Luft auf- steigen. Die Erscheinung ist so gewöhnlich, daß man einen eigenen Namen, Calina, dafür hat. Sie ist oft so intensiv, daß die Sonne als blasse Scheibe erscheint, in die man ungeschützten Auges sehen kann. Erst wiederholte heftige Regengüsse im Herbst vermögen diese Staubmassen niederzuschlagen und die Luft zu reinigen. Während so an der Nordküste auch im Som- mer alles frisch und grün ist, erscheint die Landschaft in KastiUen grau in grau; alle Wege verwandeln sich in tiefe Staubbetten, Staub bedeckt die Reste der verdorrten Vegetation, die Felder, die Häuser, die Menschen. In den Randlandschaften also ein reich gegliedertes Relief, hohe Berge mit lange ausdauernder Schneebedeckung, ja selbst mit Gletschern noch in Andalusien, tiefe, gewundene, nicht selten i6* — 244 — kanonartige Täler, die alle zum Meer ausmünden, oftmals viel- verzweigte, ausgedehnte, aber in sich abgeschlossene und schw^er zugängliche Talschaften fast mit alpinen Verhältnissen, auf dem Tafelland überall ebenflächige Ausbreitungen, wie schon die immer wiederkehrenden Bezeichnungen Meseta, Paramo und Muela er- kennen lassen, höchstens zu flachwelligem Hügelland gegliedert, ja einförmige, baumlose, tischgleiche Ebenen, in denen man sich, wie in der Mancha, auf hunderte von Kilometern vorwärts be- wegen kann, ohne seine Meereshöhe auch nur um 50 m zu ändern. Dort gefällreiche, gewerbliche Anlagen treibende, zum Teil vom Hochland durchbrechende Flüsse, murmelnde Bäche, von Forellen belebt, grüne Wiesen auf den Talsohlen wie in Deutschland, grüne, frische Wälder aus Buchen, Eichen, Eschen, Kastanien und dergleichen an den Berghängen, wo der Boden von Heidel- beergestrüpp oder üppigem Farnkraut bedeckt ist, efeuumrankte Felsen und Ruinen; hier wasserarme, träge dahinschleichende Flüsse, die keine Täler zu bilden vermocht haben und sich streckenweise in Sümpfen verlieren; Bäche, die nur selten Wasser führen, aber häufig stehende Gewässer, die zwar flach, aber oft seeartig ausgedehnt, im Sommer nicht selten ganz verdunsten oder salzhaltig werden; selbst Salzseen in kleinen abflußlosen Becken in Einsenkungen der Ebenen kommen vor; jede flache Bodenschwelle ist als Ersatz der fehlenden Wasserkraft von den klassischen Windmühlen Don Quixotes besetzt; bald herrscht, namentlich auf dem jungen Deckgebirge völlige Baumlosigkeit, und erscheinen unabsehbare Flächen bei dem geringen Anbau als dürftige Gips- und Salzsteppe, bald sind die flachen Wellen des alten Gebirges mit niederen, dürftig belaubten, aber vielfach aromatischen und blütenprächtigen Gestrüppdickichten bedeckt. Meist liegen diese Gegensätze so dicht beieinander, daß sie um so drastischer wirken, mag man von Katalonien oder Valencia oder vom Kantabrischen Meer dem Hochland zustreben. Denn ringsum steigt man, die Eisenbahnen benutzend, durch zahllose Tunnels und Überbrückungen von den Küsten zum Tafelland empor. Am größten und unvermittelsten sind die Gegensätze allerdings am Nordrand. Die Eisenbahn, um nur ein typisches Beispiel zu nennen, welche Asturien und Altkastilien verbindet, hat in 60 km Luftlinie vom Meeresufer fast Brennerhöhe zu er- klimmen und vermag zuletzt einen Steilanstieg von 280 m nur — 245 — zu überwinden, indem sie eine gerade Entferung von nur 1 1 km zu 43 km in 60 Tunneln auszieht. Aus dem La Perruca-Scheitel- tunnel, welcher unter dem Puerto de Pajares in 1283 m Höhe hindurchgeführt ist, hervortauchend, sieht der Reisende unabsehbar die einförmige Ebene von Altkastilien zu seinen Füßen liegen. Diese Schwierigkeiten des Landverkehrs bewirken, daß auch heute noch Schiffahrtslinien rings um die Halbinsel, von Bilbao bis Barcelona, in Betrieb sind und einen beträchtlichen Teil des Güterverkehrs vermitteln. Ebenso groß sind auch die Gegensätze in der Boden- verwertung und im Ertrag des Bodens. Die Randlandschaften sind überall der Sitz eines blühenden, auf hoher Entwicklungs- stufe, nicht bloß nach spanischem Maßstab, stehenden Acker- baues, der mehr mit der Hacke oder hackeähnlichen Geräten betrieben, bei vorherrschendem Kleinbesitz oder Kleinpacht mehr den Charakter der Gartenwirtschaft trägt, in den nördlichen Randlandschaften mit geringer oder ganz fehlender, in den medi- terranen unter ausgiebigster Anwendung eines wunderbar ent- wickelten Systems künstlicher Bewässerung. Die Mannigfaltigkeit der angebauten Gewächse, die Fülle von Fruchtbäumen der ver- schiedensten Art geben der Landwirtschaft der Randlandschaften ein eigenartiges Gepräge und rufen den Eindruck ungeheurer Gartenlandschaften hervor, so daß ich das ganze mediterrane Randgebiet von Katalonien bis Andalusien geradezu den Gürtel des Huertas (von hortus, Garten) nennen möchte. Die künstliche Bewässerung erhöht dort den Wert des Bodens und die Erträge in dem Maße, daß überall selbst die großartigsten, kostspieligsten Anlagen, Terrassierungen der Berghänge, bis hoch hinauf, Fels- sprengungen, Kanäle, welche weit hin bald an den Berghängen entlang, bald in Tunneln durch die Berge, bald in staunens- werten Überbrückungen über tiefe Schluchten dem fruchtbaren Boden das Wasser zuführen, sich noch lohnen. Ganze Flüsse werden durch Stauwerke, wie sie in Europa nirgends wieder- kehren und sich etwa nur noch in Indien finden, zu Seen an- gespannt, welche die Berieselungskanäle das ganze Jahr speisen. Das berühmte Berieselungssystem der Huerta von Valencia, das als Muster für den ganzen Gürtel der Huertas gelten kann, ist ja bekannt genug. Düngung, abgesehen von der schon vom Rieselwasser gegebenen, mit Guano und anderen künstlichen — 246 — Mitteln, ja mit allen irgendwie erreichbaren Abfallstoffen, wie in China, wird dort im reichsten Maße angewendet, der Straßen- schmutz, der Kehricht selbst, wird teuer bezahlt. So trägt der Boden in den Huertas auch mindestens zwei Ernten im Jahr, meist mehr, und zieht man besonders hohen Ertrag gebende Ge- wächse, wie Zuckerrohr, Baumwolle, Reis, Apfelsinen u. dgl. In den Huerta von Valencia kann man die wichtigste Futterpflanze, Luzerne, sechs Jahre lang 10 — I2mal im Jahre schneiden. In Murcia gibt bewässertes Land den 3 7 fachen Ertrag des un- bewässerten, und der Wert des Bodens steigt dort auf 10 000 Pesetas (Franken) für den Hektar, ja für Apfelsinenland zahlt man in der Huerta von Alcira, in der südlichen Küstenebene von Valencia, 18 — 24000, ausnahmsweise bis 30000 Pesetas! Solche Preise lassen auf eine sehr hoch gestiegene Bodenkultur schließen und zeigen, daß in den Randlandschaften von Trägheit und Zurückgebliebenheit der Bevölkerung keine Rede sein kann. Bewundernd sieht man, wie vielfach, namentlich im südlichen Katalonien, mit Pulver der Felsboden, meist wohl nur eine der nordafrikanischen ähnliche Kalkkruste, gesprengt und mit schweren Hämmern zerkleinert wird, um ihn mit guter Erde gemischt trag- fähig zu machen, oder wie die Felsbrocken zu breiten, hohen Wällen aufgetürmt werden, die dann zugleich Windschutz ge- währen. In solcher Weise ist ein großer Teil des Campo de Tarragona allmählich in reiches Fruchtland verwandelt worden, und zwar schon seit römischer Zeit, wie es andererseits auch irrig ist, die Bewässerungsanlagen ausnahmslos auf die Araber zurückzuführen. Auch da können die christlichen Spanier bis in die Gegenwart sich großer Leistungen rühmen. Ein großer Teil des Campo de Tarragona war gebildet aus einer i m mächtigen Travertinschicht, auf welcher nur die allerbescheidensten Vertreter der Mediterranflora Nahrung finden; unter derselben liegt aber sandiger oder kalkiger Ton. Durch Sprengen und Zermalmen des Travertins und Mischung desselben mit dem Ton, durch Be- rieselung der so gewonnenen fruchtbaren Erde, namentlich aus gebohrten Brunnen, dehnt sich so vor unsern Augen noch heute dies Fruchtgefilde immer weiter aus. Nur in Norwegen, wo aber dem eisernen Fleiß kein so reicher Lohn winkt, kann man ähn- liches beobachten. Freilich von dem Lohn der Arbeit empfängt hier der Arbeiter, der das Land mit seinem Schweiß düngt, einen — 247 — gar zu bescheidenen Teil. Er lebt als kleiner Pächter des über- großen, geschichtlich gewordenen, namentlich früher in der Hand der Kirche angehäuften Großgrundbesitzes meist in kläglicher Annut und nährt sich, oft mitten in der üppigsten Huerta, recht dürftig. Daher ist es hier in rein oder überwiegend landwirt- schaftlichen Provinzen schon häufig zu sozialistischen und kom- munistischen Aufständen gekommen. Die Behandlung mancher Erzeugnisse, wie Wein und Öl, ist freilich auch noch eine so schlechte, daß dieselben minderwertig bleiben. Unter den Aus- fuhrgegenständen Spaniens stehen die Erzeugnisse der Pflanzen- welt bei weitem obenan; sie allein machen etwa 66^: ^^ der Ge- samtausfuhr aus: die Randlandschaften sind es, welche sie fast allein liefern! Aber die Randlandschaften, und fast sie allein, bergen auch innere Schätze. Wie schon die Phönizier hier ihre Schatz- kammern füllten — es sei nur an Tartessos erinnert — , nach ihnen Karthager und Römer, so ist die Halbinsel heute wiederum eines der ersten bergbauenden Länder der Erde, in bezug auf Mannigfaltigkeit der bergbaulichen Erzeugnisse vielleicht von keinem übertroffen. Dieser Reichtum mag wohl vorzugsweise darauf beruhen, daß in den Randlandschaften Schichtenstörungen am intensivsten und häufigsten waren, daß dort die archäischen und paläozoischen Felsarten vielfach von Verwerfungen zerstückt und von den verschiedenartigsten Eruptivgesteinen durchsetzt sind. Die Schätze Amerikas hatten den Erzreichtum des eigenen Landes ganz in Vergessenheit gebracht; erst nach dem Verlust der amerikanischen Kolonien erinnerte man sich derselben wieder. Aber fremder Unternehmungsgeist, fremdes Geld, fremdes Können und Wissen hat den spanischen Bergbau wieder zur Blüte ge- bracht. Engländer, Franzosen, Deutsche, Belgier, ziehen daher bis heute den größten Vorteil aus demselben. Wie oft findet der deutsche Reisende in den öden Gebirgslandschaften des Südostens gastliche Aufnahme bei einem deutschen Bergmann, der dort als Leiter eines großen Betriebes ein einsames, ent- behrungsreiches und freudenarmes Dasein führt. Den Randland- schaften des Nordens gehören jene überreichen Vorkommen der vortrefflichsten Eisenerze im Baskenlande, besonders in der Um- gebung von Bilbao an, wo dieselben in Tagebauen, meist dicht am Meer, gewonnen werden. Eigene Dampfer führen von dort — 248 — aus eigenen Bergwerken den Kruppschen Werken in Essen die Erze zu. Auch Asturien ist reich an Eisen, noch reicher aber an Steinkohlen, die ebenfalls dem Meer nahe billig gewonnen werden. Die Römer betrieben im westlichen Asturien jahrhunderte- lang auch einen großartigen Goldbergbau, dessen Spuren noch allenthalben zu erkennen sind, der aber heute nicht mehr lohnen würde. Das wichtigste Bergbaugebiet liegt heute am Südwest- rand der Iberischen Scholle in der Provinz Huelva, wo 22 — 24^0 des Kupfergewinnes der Erde, ebenfalls in Tagebauen und billig, gefördert wird. Ich nenne nur den allbekannten Namen Rio Tinto. Blei und Silber werden vornehmlich in dem archäischen und paläozoischen inneren Gürtel des andalusischen Falten- systems, in der Umgebung von Almeria und Kartagena, gewonnen. Sonnenverbrannte, wild zerrissene, wasserarme, völlig menschen- leere Gebirge sind dort seit 50 Jahren erschlossen worden, die schmale silurische Sierra Almagrera, dicht am Meer, in der Mitte zwischen den beiden genannten Seestädten, eines der erzreichsten Gebirge der Erde, hat dem kalifornischen Gold- fieber ähnliche Erscheinungen hervorgerufen, als man 1838 ihren Silberreichtum wieder entdeckte. Auch in Katalonien wird Berg- bau auf Blei und Silber getrieben. Die 130 — 150 Mill. Pes., welche dem Wert der jährlichen Ausfuhr Spaniens an Erzeug- nissen seines Bergbaues entsprechen, kommen so ebenfalls fast ausschließlich auf die Randlandschaften. Nur etwa die Queck- silberbergwerke von Almaden verdienen auf dem Hochland Er- wähnung. Bergbau und Ackerbau liefern nun aber auch die RohstoiTe für die spanische Gewerbtätigkeit, die somit ebenfalls ihre Sitze lediglich in den Randlandschaften hat, wo sie überdies durch die vorhandenen Wasserkräfte, die vom Innern Hochland oder aus den Faltengebirgen herabstürzenden Bäche und Flüsse wesentlich gefördert wird. So beleben gewerbliche Anlagen die Täler des Baskenlandes oder Asturiens, oder in Katalonien be- fruchtet dasselbe Wasser, welches eben noch Triebkraft war, als Rieselwasser den Boden. Und aus dieser bodenständigen Ge- werbtätigkeit konnte sich in den über das völkerverbindende Meer schauenden Randlandschaften leicht eine mit überseeischen Rohstoffen arbeitende entwickeln. Die Randlandschaften wurden somit auch die Sitze des Handels. Ihre Bewohner traten mit — 249 — anderen Völkern in häufigeren Verkehr; größere geistige Regsam- keit, rascheres Fortschreiten auf allen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens, größerer Wohlstand mußte hier Platz greifen, alles freilich, um das Bild nicht zu verlockend erscheinen zu lassen, mit spanischem Maßstab gemessen! Am meisten mußte dies der Fall sein im Baskenlande und in Katalonien, die ge- wissermaßen als Brücken zugleich auch den Landverkehr mit Frankreich und dem übrigen Europa vermitteln. Das wirtschaft- liche Schwergewicht liegt somit heute auf den Randlandschaften. So mußte sich also in diesen auch die Bevölkerung in einem für die menschenarme Halbinsel ungewöhnlichen Maße auf das Doppelte und Dreifache der mittleren Dichte verdichten. Dem- nach liegen alle Großstädte der Halbinsel, bis auf die Hauptstadt Madrid, in den Randlandschaften. Bei etwa 45% ^^^^ Flächen- inhalts kommen (yd^/^ der Bevölkerung auf diese. Den Gegensatz des zentralen Gebietes in allen seinen Verhältnissen den Randlandschaften gegenüber kann man sich, trotzdem die größte Meerferne nur etwa 300 km beträgt, kaum grell genug denken. Größte Einförmigkeit der Oberflächengestalt, der Bodenarten, die gleichen klimatischen Verhältnisse und Be- dingungen des Anbaus, die gleichen Erzeugnisse, die gleiche Unterlage des wirtschaftlichen und des geistigen Lebens überall. Die Decke mesozoischer und tertiärer Gesteine entbehrt der inneren Schätze völlig, und da zugleich in den unabsehbaren Ebenen und bei der großen Trockenheit des Klimas die Wasser- kräfte und Brennstoffe, wenigstens bis jetzt, fehlen, so fehlen auch alle Bedingungen zur Entwicklung der Gewerbtätigkeit. Ackerbau und Viehzucht beschäftigen die Bewohner daher aus- schließlich, sind aber so einförmig wie das Land selbst; jener erstreckt sich nur auf Weizen, diese auf Schafe (Merinos), aber auch die Schafzucht ist in Verfall, im Süden auch auf Schweine. Die Beziehungen zu den Randlandschaften, und durch deren Vermittelung mit der übrigen Welt, sind erschwert durch die hohen Randgebirge, durch welche erst spät und unter ungeheuren Kosten Verkehrswege gebahnt werden konnten. Besitzt doch das arme Spanien nächst den Alpen die großartigsten, freilich in den Händen fremder, besonders französischer Gesellschaften befind- lichen Gebirgsbahnen in Europa. Ungeheure Strecken des Tafel- landes entbehren des Anbaus ganz; abgeerntet gleichen die — 250 — Weizenfelder auch ihrerseits im Spätsommer öden Steppen. Kein Wald, kein Fruchthain belebt das einförmige Land- schaftsbild, meist ohne einen Kranz von Gärten, freudlos und reizlos sind die Siedelungen mitten in die kahle Ebene hinein- gestellt, oft 20 — 30 km voneinander; denn kleine Ortschaften, Dörfer in deutschem Sinn, Weiler und Einzelhöfe gibt es nur in den Randlandschaften, wo denselben die herrlichen Frucht- haine, in welchen sie fast verschwinden, noch besondere Reize verleihen. An geschichtlichem Wert, an anziehenden Bauwerken fehlt es diesen Städten allerdings fast niemals; aber überall sieht man die Spuren des Verfalls, ganze Straßen, ganze Viertel sinken in Trümmer, fast allein in der rasch emporgeblühten Hauptstadt sieht man Neubauten. Einzelne, wie Toledo, Avila, Teruel gleichen Museen mittelalterlicher Kunst. Der fruchtbarste Boden wird aufs lässigste bebaut und bringt geringen Ertrag; Düngung und künstliche Bewässerung, die in weit größerer Ausdehnung möglich wären, als sie angewendet werden, sind in ganzen Land- schaften unbekannte Dinge. Alle Versuche, sie einzubürgern, scheitern an den Vorurteilen und, nach dem Ausspruch eines spanischen Patrioten, an der an Stumpfsinn grenzenden Trägheit der Bewohner. Weite Strecken, oft zusammenhängend Tausende von Quadratkilometern, im SW von Toledo z. B. eine ganze Pro- vinz von etwa 5000 qkm, liegen völlig unbewohnt da, die be- rüchtigten Despoblados. Stillstand, ja Rückgang, Verödung, Ent- völkerung treten uns fast überall in den zentralen Landschaften entgegen; auch hier geben die ackerbauenden, d. h. die zentralen Gebiete ihre Bewohner an die Bergbau und Gewerbe treibenden, d. h. an die Randlandschaften, ab und entvölkern sich noch mehr. Selbst die Provinzhauptstädte der zentralen Gebiete, außer Madrid, zeigen eine Abnahme der Bevölkerung, deren Dichte schon heute in vielen Provinzen auf 14 — 15 Köpfe, also unter die Hälfte Spaniens, etwa auf ein Drittel des dünnstbevölkerten Regierungsbezirks von Preußen, Köslin, gesunken ist. Die zentralen Landschaften sind es vorzugsweise, welche trotz sehr geringer überseeischer Auswanderung die Bevölkerung Spaniens überaus langsam zunehmen machen. Diese Erscheinungen erklären sich zunächst aus der Ge- schichte des Landes, in welcher selbst wir aber überall die Wir- — 251 — kungen der geographischen Verhältnisse erkennen. Die zentralen Landschaften, namentlich die durch die Sierra de Guadarrama nicht wirksam voneinander geschiedenen beiden Kastilien, bilden das größte einheitUche Gebiet der Halbinsel, das, wenn auch fast ausschließlich auf Ackerbau angewiesen, doch nach Boden und Klima einer sehr bedeutenden Verdichtung der Bevölkerung fähig wäre und jedenfalls so ausgedehnt ist, daß es auch heute noch wirklich die ihm nach seiner Stellung zukommende Rolle zu spielen vermag. In diesen Ebenen wogte Jahrhunderte hindurch der Kampf zwischen Christentum und Islam hin und her, er ent- völkerte das schutzlos offene Land, nur Städte und feste Burgen, die ihm den Namen gegeben, gewährten Schutz. Hinter den zurückweichenden Mauren stiegen auch die im Kampf empor- gekommenen Adelsfamilien mit ihren Hintersassen in die Rand- landschaften, namentlich nach dem reichen Andalusien hinab, wo sie, mit großen Gütern ausgestattet, sich dauernd als Grenzhüter niederließen. Ihre alten Feudalsitze und die Grenzfesten auf dem Hochland begannen zu veröden. In den langen Kämpfen war der kriegerische Sinn so erstarkt, daß die bürgerlichen Be- rufe in Mißachtung gerieten. Kastilien lieferte so vorzugsweise die Heere, mit welchen Spanien seine Kriege in zwei Welten führte, jene Scharen von Abenteurern, welche die Neue Welt hispanisiert haben. Nach Kastilien vorzugsweise flössen aber auch die Schätze der Neuen Welt, hier wurden damit auch die zahlreichsten und größten Klosterpaläste gebaut und ausgestattet. Das zeitweilig riesig angewachsene Mönchswesen und der religiöse Fanatismus, dem es hier in den offenen Landschaften gelang, die jüdische und maurische Bevölkerung völlig auszutilgen oder zu vertreiben, vollendeten die Verödung. Hier feierte der Jesui- tismus seine allergrößten Triumphe, und verzehrten die Scheiter- haufen der Inquisition, was an unabhängigem Bürgersinn und Tatkraft noch übrig geblieben war. In den zentralen Land- schaften tritt uns daher der Verfall ganz Spaniens am grellsten entgegen; sie und ihre Bewohner sind es somit, welche uns vor- zugsweise spanisch vorkommen. Hier zweifelt man zuweilen, ob die Behauptung eines spanischen Patrioten heute noch richtig ist, daß Spanien das reichste Land der Erde sei, da die Spanier seit 3000 Jahren bemüht seien, dasselbe zu ruinieren, ohne bis- her ihr Ziel erreicht zu haben. — 252 — Die großen Gegensätze der Landesnatur, die namentlich orographisch begründete Gliederung der Halbinsel in zahlreiche Sonderlandschaften, mußte notwendig von jeher auch in der politischen Geographie zum Ausdruck kommen. Wohl niemals, außer als Glied des Römerreiches, ist die Halbinsel völlig pohtisch geeint gewesen. Dem wirkte vor allem entgegen das Vorhanden- sein vieler abgeschlossener Gebirgslandschaften, in welchen sich auch besiegte und schwache Völker gegen einen übermächtigen Gegner zu behaupten vermochten. Die Faltengebirge, die im N und im S dem Tafelland angelagert sind, bieten solche Herde des Widerstandes, solche Ausgangspunkte neuer Staatenbildungen: das Baskenland, Asturien, die Wiege des Staates Leon und Kastilien, Sobrarbe in den Pyrenäen, diejenige von Aragon. Ihnen läßt sich in gewissem Sinn auch das Bergland von Nord- portugal anschließen. In der Vielheit der Ausgangspunkte war auch die Vielheit der Staaten begründet. Andrerseits vermochten im Süden im andalusischen Faltenland, namentlich in der tief ins Gebirge eingebetteten, nur durch Engpässe wie bei Loja und Jatin zugänglichen Hochebene von Granada die besiegten Mauren ein volles Vierteljahrtausend dem Ansturm der Christen zu wider- stehen! Nur ein einziger jener Staaten hat sich bis heute der beherrschenden Stellung Kastiliens gegenüber zu behaupten, bzw. seine schon auf 60 Jahre verloren gegangene Selbständigkeit wieder zu erlangen vermocht: Portugal. Auch in dieser Tatsache wird, so wenig es auf den ersten Blick scheinen will, die Wirkung geographischer Faktoren greifbar. Portugal ist die selbständigste aller Randlandschaften, die- jenige, welche am meisten individualisiert ist. Es verhält sich zur übrigen Halbinsel, also zu Spanien, wie Holland zum übrigen Deutschland. Holland ist innerhalb des norddeutschen Flach- landes der einzige völlig maritime Teil desselben, vom Meer durchsetzt, zum Teil dem Meer abgerungen — seine Bewohner sind ja im Kampf mit dem Meer groß geworden — und durch Wasserstraßen bis an seine innere Grenze mit dem Meer ver- bunden. Und diese innere Grenze, der fast ungangbare Gürtel von Mooren, nordwärts und südwärts vom Rhein, schied das völlig maritime Land derartig von dem festländischen, in sich zerrissenen Deutschland, daß die völlige politische Loslösung geographisch begründet erscheint. Ähnlich ist Portugal, wie die — 253 — größte, so auch die einzige bis an ihre innere Grenze dem Meer erschlossene, hafenreiche und völHg maritime Randlandschaft, also im grellsten Gegensatz zu den landeinwärts angrenzenden spanischen Landschaften. Und während der Rhein als große Straße noch Holland an Deutschland knüpft, sind die großen aus dem Innern der Halbinsel kommenden Flüsse nur in ihren untersten Laufstrecken, bis an die innere Grenze Portugals, schiff- bar; weder sie noch ihre Täler bilden Straßen aus dem Innern ans Meer. Im Gegenteil, sie sind tiefe Grenzgräben, welche die zentralen Landschaften auch von dieser Randlandschaft wirksamer scheiden, als sonst die Randgebirge. Der portugiesische Tejo und Douro sind anthropogeographisch fast in dem Maße als vom spanischen Tajo und Duero verschiedene Flüsse aufzufassen, wie die Alten lange Zeit Danubius und Ister als verschiedene Flüsse ansahen. Die Landgrenze von Portugal von der Mündung des Guadiana bis zu der des Mino wird auf der Hälfte ihrer Länge von engen, aber steilen und tiefen Tälern gebildet, welche die Flüsse kanonartig in die festen, namentlich granitischen Gesteine der Iberischen Scholle eingenagt haben. Den großartigsten dieser Kanons hat der Duero dort, wo er die Grenze auf iio km unter- halb Zamora bildet, in das Granitmassiv des Sayago eingeschnitten; 200 — 400, streckenweise 500 m tief braust er stromschnellenreich durch eine Schlucht dahin. Das Zuckerrohr und die Dattelpalme gedeihen an seinem Ufer, wo Raum zum Anbau ist, während oben auf der Hochfläche nur der Weizen, kaum noch die Rebe fort- kommt. Die andere Hälfte der Grenze liegt in menschenleeren Gebirgen. Einzig das Tal des Guadiana bildet eine Straße von Kastilien nach Portugal, die vom Knie des Stromes bei Badajoz gerade auf die Hauptstadt Lissabon und die Tejomündung zielt. Auf dieser Linie haben sich die fast ausschließlich kriegerischen Beziehungen beider Staaten vorzugsweise bewegt, hier liegen daher Portugals wichtigste Festungen. Portugal besitzt auch neben Lissabon und Porto gute Häfen, nur haben diese beiden den Vorzug großer Hinterländer, die ihnen auf von der Natur vor- gezeichneten Wegen ihre Erzeugnisse zuführen. Dadurch werden sie zu wichtigen Sitzen des Handels und des Weltverkehrs, nament- lich ist Lissabon zugleich die europäische Kopfstation für den Schnellverkehr mit Südamerika. Aber, wiederum einer jener wunderlichen Gegensätze, selbst der Eigenhandel Portugals wird — 254 - heute noch überwiegend von fremden, besonders englischen Schiffen vermittelt. Es ist heute, wie im Mittelalter, ein vorwiegend ackerbauendes Land. Portugal bringt alle Erzeugnisse der ganzen übrigen Halbinsel hervor, namentlich auch, und diese allein unter allen Randlandschaften, Brotstoffe für den eigenen Bedarf; es ist also auch in dieser Hinsicht von Kastilien unabhängig. Es fehlen somit die Bedingungen eines Handelsverkehrs zwischen beiden Ländern so gut wie ganz, und tatsächlich besteht auch, abgesehen von etwas Schmuggel, fast gar kein Verkehr zwischen denselben. Portugal schaut über die Meere, am Meer hegen alle seine wich- tigsten Siedelungen und verdichtet sich seine Bevölkerung am meisten, es kehrt Spanien den Rücken. Die politische Grenze beider Länder bildet auch eine so scharfe Grenze in der Sprache, den Sitten, dem Charakter, der Lebensführung, der Zu- und Ab- neigung der Bewohner, daß sich jedem Reisenden diese wunder- baren Gegensätze aufdrängen. Haß ist das Gefühl, welches die beiderseitigen Grenzanwohner vorzugsweise einander entgegen- bringen. Wohl noch niemals sind selbst im Land der Gegensätze die Gegensätze der zentralen und der Randlandschaften so groß ge- wesen wie heute, im wesentlichen weil auch die Iberische Halb- insel spät und langsam und zunächst in den Randlandschaften, während die zentralen noch in rückläufiger Bewegung sind, der rascheren Entwicklung Europas in unseren Tagen gefolgt ist. Doch scheint uns darin, wenigstens solange die monarchische Staatsform aufrecht erhalten und nicht etwa durch die RepubUk ersetzt wird — das Schlagwort Förderativrepublik hört man ja oft genug, — keine Gefahr zu liegen, daß sich nach dem Bei- spiel Portugals die Sonderlandschaften auch wieder politisch selb- ständig machen könnten, so groß und allgemein die Abneigung, ja der Haß ihrer Bewohner gegen die Kastilianer auch ist, und so sehr z. B. der Karhsmus darin seine Wurzeln hat. Die Rand- landschaften sind jede für sich kleiner und schwächer als Kasti- lien, sie vermögen, zum Teil weit voneinander entlegen, alle nur durch Kastilien Beziehungen zueinander zu unterhalten; Kastilien ist der große Saal, — um das Bild zu gebrauchen, durch welches uns die Bedeutung der großen chinesischen Ebene für China durch Ferd. von Richthofen veranschaulicht worden ist, — um welchen alle anderen Landschaften wie Kammern ringsum liegen; sie bilden — 255 — auch ihrerseits Gegensätze und haben nur wenig gemeinsame wirt- schaftliche Interessen, während Kastilien ihnen allen Brotstoflfe liefert und der nächste Abnehmer ihrer Erzeugnisse ist. Mehr als jemals liegt aber heute auch Kopf und Herz Spaniens in Kastilien. Wenn wir Philipp II. nicht schon aus anderen Gründen für einen scharfsichtigen Staatsmann halten müßten, so unbedingt darum, daß er Madrid zur Hauptstadt Gesamtspaniens gemacht hat. Fast im geometrischen Mittelpunkt der Halbinsel gelegen, in der Mitte Kastiliens, aber ohne provinzielle Erinnerungen, ohne geschicht- liche Zu- und Abneigungen, hat Madrid erst in den letzten Jahr- zehnten, wo nachgeholt worden ist, was die Nachfolger Philipps versäumt hatten, als Knotenpunkt des ganzen spanischen Straßen- und Eisenbahnnetzes , durch Herbeileitung herrlichen Wassers weither aus den innersten Tälern der Sierra de Guadarrama, trotz der armen, wenig verlockenden Umgebung, einen erstaun- lichen Aufschwung genommen. Alle Provinzen liefern ihm, trotz des ungünstigen Klimas, Bewohner; es ist heute unbestritten der Hauptsitz und der Brennpunkt aller geistigen und wirtschaftlichen Bestrebungen, der Kunst, der Wissenschaft, der Geldmächte, Madrid vermag heute die Verödung Kastiliens, alle provinziellen Gegensätze mehr und mehr auszugleichen. Und schließlich hat doch der lange, gemeinsam durchgekämpfte Kampf gegen die Ungläubigen, die gemeinsam durchlebte große Zeit des i6. Jahr- hunderts ein so festes Band um alle Spanier geschlungen, daß gegen einen äußeren Feind jeder Spanier nur Spanier ist. 2. Skizzen aus Südspanien.0 Wer Spanien in erster Linie ästhetischer Genüsse halber besucht und nachdem er vorher schon Italien kennen gelernt hat, was beides wohl von der überwiegenden Mehrzahl der Reisenden gilt, wird immer eine gewisse Enttäuschung erfahren. So reich das Land an Kunstdenkmälern jeder Art ist, so viel es auch land- schaftlich hier und da bietet, es steht doch in beiden Hinsichten l) Als Schilderung einer im Jahre 1888 durchgeführten Reise in Wester- manns Monatsheften erschienen. — 256 — Italien nach. Spanien hat nur zwei Blütezeiten gehabt, die ara- bische und die zu Beginn der Neuzeit, während in Italien aus griechischer, aus römischer, byzantinischer, normannischer und vor allem aus der großen Zeit um den Übergang des Mittelalters zur Neuzeit, wie namentlich aus der Zeit der Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften eine Fülle von Kunstschätzen auf- gestapelt ist, die sich mit der Erleichterung des Verkehrs, mit der immer innigeren Verwachsung auch der abgelegeneren Gegen- den des Landes mit dem Kreise europäischer Gesittung immer mehr als Schätze, als eine der reichsten Einnahmequellen des Landes erweisen. Es war wohl unserer Zeit vorbehalten, die griechischen Tempel, die römischen Amphitheater, die herrlichen Dome usw. vom volkswirtschaftlichen Standpunkte nach ihrem Werte als zinstragende Kapitalanlagen anzusehen. Wenn man schätzungsweise annehmen kann, daß jährlich eine halbe Million Fremder Italien besucht, die etwa 250 Millionen Mark ins Land bringen, so bilden doch in erster Linie die Kunstschätze, nur nebenbei die Reize der Landschaft und des Klimas die Lock- mittel, welche diesen Goldstrom herbeilenken. Das wären also die Zinsen eines auf die Schaffung und Erhaltung jener Schätze verwendeten Kapitals von fünf Milliarden Mark, die Zinsen von ungefähr der Hälfte der italienischen Staatsschuld. Wie trefflich haben die alten Römer, als sie mit den Steuern unterworfener Völker das Kolosseum, wie trefflich die Päpste, als sie mit den „Pfennigen" der ganzen Christenheit St. Peter erbauten, für die Nachkommen gesorgt! Verfolgen wir diese Reichtümer Italiens aber weiter, so erkennen wir den Einfluß, welchen auch in dieser Hinsicht geographische Gesetze ausgeübt haben. Die Vielseitig- keit der Beziehungen, welche Italien nach seiner Weltstellung innerhalb des Mittelmeergebiets kennzeichnet, prägt sich eben in diesen Denkmälern aus griechischer, römischer, byzantinischer, arabisch -normannischer Zeit usw. aus. Diese Vielseitigkeit der Beziehungen fehlt Spanien. Als eine gewaltige, hohe, von den Küsten, die auch ihrerseits nur an wenigen Punkten bequem zu- gänglich sind, meist schwer zu ersteigende Felstafel ist es dem äußersten Südwesten Europas angeschweißt, lag es an der west- lichen Peripherie der gesitteten Welt des Altertums und des Mittelalters, nur schwach brandeten an seinen Gestaden die von den Gesittungsherden Phönikiens, Griechenlands und von Rom — 257 — ausgehenden Wogen. Von Frankreich trennt es der Wall der Pyrenäen so scharf, daß man sich dort in dem Satze gefällt: „Hinter den Pyrenäen beginnt Afrika", was aber ebensowenig wie vieles andere den Spanier hindern würde, in den Franzosen die ,, sympathische" Nation zu sehen — wenn es für ihn nämlich außer dem Spanier oder richtiger außer dem Kastilianer, Aragonesen, Katalanen usw. überhaupt sympathische Nationen gäbe. Nur in zwei Richtungen unterhält die Iberische Halbinsel, geographisch bedingt, innigere Beziehungen: zu Nordafrika und zu Amerika. Und diese Beziehungen prägen sich in der Ge- schichte des Landes, in der Gesittung und dem Charakter seiner Bewohner aufs schärfste aus. Die Beziehungen zu Afrika, dessen nächster Punkt der Südspitze Europas an der Meerenge fast auf Kanonenschußweite (14 Kilometer) gegenüber liegt, kennzeichnet die arabisch-berberische Überflutung am besten, welche zahlreiche herrliche Denkmäler und tiefe Spuren in den körperlichen Eigen- schaften und im Charakter der Bewohner, wie im Anbau des Landes hinterlassen hat. Der während sieben Jahrhunderten, ja fast wäh- rend eines Jahrtausends — denn er fand mit der Eroberung von Granada keineswegs seinen Abschluß — im Vordergrunde stehende Kampf gegen die Ungläubigen verlieh hier dem christlichen Be- wußtsein, der katholischen Kirche besondere Macht, und es ent- standen im Gegensatz zu den Moscheen des Islam prächtige Kirchen und Klöster, zu denen dann die Beziehungen zur Neuen Welt immer reichere Mittel Ueferten. Auch dort galt es ja Kampf gegen Heiden und Bekehrung derselben. Durch die Entdeckung Amerikas, die bezeichnenderweise zwar von Spanien aus erfolgte, aber durch einen Italiener, die im ganzen Mittelalter die Träger und Vervollkommner aller seemännischen Erfahrungen waren, rückte die Halbinsel, wie ähnlich die britischen Inseln, vom Rande der gesitteten Welt sozusagen in die Mitte derselben. Zum Ozean dacht sich dieselbe ja vorzugsweise ab, zum Ozean leiten seine Ströme; wer aus dem Mittelmeer kommend nach Nordwesteuropa oder in die Neue Welt hinüber wollte, mußte spanische Häfen anlaufen, und ebenso wer von Norwesteuropa dorthin strebte; denn bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts lagen die Länder der Sehnsucht der Europäer südlich vom Wendekreis des Krebses, von Spanien aus kreuzte man den Ozean. Die Weltstellung der Iberischen Halbinsel ist somit im ganzen Fischer, Mittelmeerbilder. I7 — 258 — unbedingt weit ungünstiger als die des viel kleineren Italien. Aber auch die Oberflächengestaltung ist eine ungünstigere, der Bildung einer politischen Einheit im höchsten Grade hinderliche. Auf ihr beruht es, daß die Halbinsel, wenn wir von der römischen Eroberung absehen, niemals ein einziges Staatswesen für sich ge- bildet hat und eine Vereinigung der beiden Reiche Spanien und Portugal wohl nie zu erwarten ist. Wenn auch durch das Meer und den Wall der Pyrenäen zusammengehalten, ist doch die Halbinsel ihrer Oberflächengestaltung nach überaus reich gegliedert und zerfällt in eine ganze Anzahl von Sonderlandschaften, welche wesentlich verschiedene Züge der Landesnatur und abweichende Wechselbeziehungen zwischen Land und Bewohnern aufweisen. Das ist der Hauptgrund der jahrhundertelangen politischen Zer- splitterung und der erst mit Beginn der Neuzeit erreichten Ver- einigung all der ehemaligen einzelnen Reiche zu einem Reiche Spanien. Diese frühere politische Autonomie und die verschiedene ethnische Mischung der Bewohner der einzelnen Sonderland- schaften, die geringen Beziehungen derselben untereinander noch heute, trotz der Eisenbahnen, erklären die allenthalben vorhan- denen höchst auffälligen Unterschiede im Volkscharakter, in den Mundarten, ja das Vorhandensein verschiedener Sprachen, die gegenseitige Abneigung der einzelnen Landschaften untereinander, aller aber gegenüber den Kastilianern. Die landschaftlichen, in letzter Ursache auf die Oberflächengestaltung zurückzuführenden Gegensätze sind in Spanien weit, weit größer als in Deutschland, die innere nationale Verwachsung der Bewohner des Reiches ist noch weit entfernt von der bei uns gottlob! längst erreichten. Das sind Dinge, die man außerhalb Spaniens, eben weil das Land wenig besucht wird, kaum kennt. Den spanischen National- charakter zu schildern, ist unmöglich, einen solchen gibt es eben nicht; was man gewöhnlich darunter versteht, bezieht sich wesent- lich auf die Kastilianer, von denen aber die Andalusier, die Katalanen, die Gallegos z, B. sehr verschieden sind. Erst vor kurzem, viel zu spät, hat man einen entscheidenden Schritt getan^ die nahezu im geometrischen Mittelpunkt des Landes gelegene Hauptstadt zum wirklichen politischen und geistigen Mittelpunkt zu machen und ihr als Hauptknoten aller Verkehrswege auch wirtschaftlich Gewicht zu verleihen. Es ist ein Irrtum, Madrid als eine Gründung Philipps IL zu — 259 — bezeichnen. Während des ganzen Mittelalters bestand dort eine namhafte, schon vor dem Jahre looo wichtige Stadt, die wieder- holt Sitz der Cortes und Krönungssfadt war. Zur Hauptstadt hat Philipp sie allerdings gemacht, und wir möchten das als einen der wichtigsten Belege seiner hohen staatsmännischen Einsicht bezeichnen. Wie er eigentlich der erste König von Spanien ist, so schuf er auch eine neue Gesamthauptstadt im Gegensatz zu Toledo, Sevilla usw., den Hauptstädten der alten Teilreiche. Er hoffte aus Aragonesen, Andalusiem usw. Spanier zu machen. Noch heute ist dies Ziel nicht ganz erreicht. Es fehlte der Stadt zu einem größeren Aufschwünge an Hilfsquellen in der unmittel- baren Umgebung. Diese ist zwar durchaus nicht so arm und dürr, wie man es zu schildern liebt, im Gegenteil, man sieht jetzt überall wohl angebautes Land und freundliche Ortschaften mit baumreichen Gärten an den Eisenbahnen in der Umgebung von Madrid, aber immerhin steht die reizlose Hochebene mit ihrem wechselvollen Klima an Lockmitteln und inneren Hilfs- quellen, stehen ihre Bewohner an Rührigkeit und Wohlstand allen Landschaften Spaniens nach. Madrid hat bis auf die neueste Zeit keinen Einfluß auf die Provinzen ausgeübt, im Gegenteil, es unterlag dem Einfluß der Provinzen. Es wurde nicht zum Sitze des geistigen Lebens erhoben, man versäumte durch gute Ver- waltung, durch Herbeiführung von Wasser die spröde Natur zu bekämpfen. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten erst ge- ändert, wo Madrid einen bedeutenden Aufschwung genommen hat: Madrid ist heute Sitz einer blühenden Universität und zahl- reicher sonstiger Lehranstalten, es besitzt im Königlichen Museum eine der herrlichsten Kunstsammlungen Europas, ausgedehnte Gärten und Spaziergänge und verfügt durch einen 70 km langen, 1859 vollendeten Kanal, welcher das Wasser des Lozoyaflusses durch großartige Überbrückungen aus der wasserreichen Sierra de Guadarrama herbeiführt, über eine Fülle von Wasser bis in die höchsten Stockwerke der Häuser. Eine selbständige Gewerb- tätigkeit und der Handel erlangen immer größere Bedeutung, alle großen Eisenbahnlinien der Halbinsel, nicht weniger als fünf, laufen hier radienförmig zusammen und verbinden Madrid auf möglichst kurzem Wege mit allen namhaften an der Peripherie gelegenen Orten, mit der französischen Grenze östlich und west- lich der Pyrenäen, mit Barcelona, Valencia, Alicante, Cartagena, 17* — 26o Malaga, Cadix, Huelva, Lissabon, Oporto, Coruiia, Santander und und San Sebastian. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Madrid eine größere Entwicklung und einen die provinziellen Gegensätze im Laufe der Zeit mildernden Einfluß erlangen wird. Diese, wie wir sahen, vor allem in der Oberflächengestaltung begründeten Gegensätze sind so groß wie in keinem anderen Lande Europas. Sie äußern sich zunächst im Klima. Afrika- nischer Trockenheit und Hitze, wie sie im Südosten, in Murcia, herrscht, wo fast aller Anbau auf künstliche Bewässerung an- gewiesen ist, steht der mitteleuropäisch feuchte Nordrand mit zwar milden Wintern, aber nicht sehr heißen Sommern; dem inneren Tafellande, das durch hohe Gebirgswälle ringsum und hohe Lage dem Einfluß des Meeres etwas entrückt ist und daher ziemlich trockenes, kontinentales Klima hat, steht die Südküste Andalusiens gegenüber, welche bei reicher winterlicher Benetzung die mildesten Winter in Europa hat und Erzeugnisse der Tropen im großen hervorbringt. Das ganze Gestadeland am Mittelmeer ist der in jeder Hinsicht begünstigste Teil Spaniens, der am besten angebaute, der am dichtesten und von rührigen, in Ackerbau, Gewerbtätigkeit, Handel, wie im geistigen Leben vorangehenden Menschen bewohnte. Während es sonst in Spanien noch weite Striche gibt, die wohl anbaufähig, aber mit Gestrüpp bedeckt kaum als Weideland brauchbar und weithin menschenleere Ein- öden sind, gehören die kleinen Ebenen und die unteren Hänge der Gebirge am Mittelmeer zu den dichtest bevölkerten Gegen- den Europas. Was dort im Laufe der Jahrtausende seit kartha- gischer und römischer, aber namentlich in arabischer Zeit geleistet worden ist in Urbarmachung des Felsbodens und Wasserzuführung, das ist staunenswert. Und noch immer wächst dort die angebaute Fläche, immer weiter wird die nach Vernichtung der Wälder den Boden bedeckende Vegetationsformation der Macchien, der aus Zwergpalmen und aromatischen immergrünen Sträuchern, Myrten, Lavendel, Cistusrosen, Lentiscus usw. bestehenden Gestrüppe zurückgedrängt. Im südlichen Katalonien zwischen Taragona und Tortosa besteht die bald ganz schmale, bald auf mehrere Kilo- meter verbreiterte Küstenebene meist aus festen tertiären Konglo- meraten, auf denen selbst dies Gestrüpp nur dürftig gedeiht. Unter unsäglicher Mühe werden die Felsen gesprengt und teils weggeführt, teils zu hohen Wällen aufgetürmt oder zu Terrassen- — 201 — mauern venvendet, teils auch zerkleinert und herbeigeführte gute Erde darunter gemischt, ähnlich wie ich es hier und da, aber in weit kleinerem Maßstabe, in Norwegen sah. Ganze Hügel- gehänge fand ich so ganz neuerdings auf weite Strecken in sauber und geschickt angelegte Terrassen verwandelt; anderwärts grenzten breite und hohe Steinwälle die so dem Felsboden abgewonnenen Felder ab, welche nun mit Ölbäumen, Reben oder Johannisbrot- bäumen bepflanzt sind. In ähnhcher Weise hat man an der Südküste von Andalusien die kleine, ebenfalls aus festen tertiären Konglomeraten bestehende Küstenterrasse von Nerja dem Anbau zu gewinnen begonnen. Dieses mehr als 7000 Einwohner zäh- lende Städtchen liegt mitten in einer Steinwüste auf dem etwa 15 m hohen Steilrande der Küstenterrasse, aus welcher hier die Brandung eine kleine, durch ein Vorgebirge geschützte Bucht ausgewaschen hat. An dieser siedelten sich wohl zuerst Fischer an, da die ganze Küste an natürlichen Zufluchtsstätten selbst für kleine Fahrzeuge sehr arm ist. Vor kurzem fand auch noch aller Verkehr zur See statt, jetzt ist wenigstens eine fahrbare Straße nach Westen hin, nach Velez Malaga und Malaga vor- handen, nach Osten aber führt heute noch nach dem noch etwas größeren, 25 km entfernten Nachbarstädtchen Almunecar nur ein Saumpfad beständig auf und ab über die steil zum Meere ab- brechenden Bergspome und in so schlechtem Zustande, daß man mir, sehr mit Recht, in Nerja allgemein riet, lieber zu Fuß zu gehen und meine Habe einem Eselchen anzuvertrauen. Diese Weltabgeschiedenheit, die im Winter, wenn es draußen auf dem Meere stürmt, eine vollständige sein mußte, mag die Bewohner von Nerja zuerst dazu gedrängt haben, den Felsboden um die Stadt urbar zu machen und das Wasser der am inneren Rande der Ebene am Fuße der Kalkberge hervorbrechenden Quellen herbeizuleiten. Heute ist bereits ein großer Teil des trostlosen Karstfeldes aufgearbeitet und bringt reiche Zuckerrohremten her- vor, nur im Norden reicht dasselbe noch unmittelbar an die Stadt. Auch die Hänge der Berge, die von fem kahl und tot erscheinen, sind bis hoch hinauf, bis zu Höhen von 1200 bis 1500 m terrassiert und angebaut, zahllose kleine weiße Häuschen, sogenannte Cortijos, meist Wohnungen ärmerer Pächter, sind über die Berghänge und durch die Täler verstreut. Besonders zahl- reich sind diese Cortijos an dem hohen Bergwalle, welcher die — idz — kleine Küstenebene von Velez Malaga im Halbkreise umschließt, so daß sie der Landschaft einen höchst eigentümlichen Charakter verleihen. Von dem Fleiß, dem von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Geschick in Bearbeitung der steinigen, steilen Gehänge, der Befestigung des Bodens durch Steinmauern, der Herbeileitung von Wasser, wie andererseits von der Anspruchslosigkeit, Genüg- samkeit und Armut der Bewohner kann man sich erst eine Vor- stellung machen, wenn man mit ihnen gelebt hat. Am häufigsten ist die Fruchtbarkeit, der treffliche Anbau und die sorgsame Bewässerung der Huerta von Valencia ge- schildert worden. Es handelt sich dort in der Tat um eine große herrliche Gartenlandschaft, die aber doch meinen vielleicht zu hoch gespannten Erwartungen, möglicherweise auch infolge des selbst hier strengen Winters von 1887/88 nicht ganz ent- sprochen hat. Die freilich weit kleinere, von wunderbaren Berg- formen umrahmte Conca d'Oro von Palermo entspricht in weit höherem Maße mit ihren dichten, fast die ganze Ebene füllenden Fruchthainen den Vorstellungen südlicher Üppigkeit. Die Huerta von Valencia ist im Grunde nur ein Teil der langen schmalen Küstenebene, welche den flachen Golf von Valencia auf 170 km vom Kap St. Antonio im Süden bis Kap Oropesa im Norden umsäumt. Die Ebene besteht keineswegs, wie man auf den ersten Blick annehmen möchte, aus jungem, von den zahlreich hier mündenden Flüssen angeschwemmtem Lande, solche Bil- dungen spielen eine ganz untergeordnete Rolle; es sind vielmehr tertiäre marine Ablagerungen, die durch eine neuere Hebung des Landes in eine sich sehr sanft zum Meere neigende Küstenebene verwandelt worden sind. Der Boden ist demnach an und für sich auch nicht besonders fruchtbar, die Bearbeitung und Be- wässerung bei sorgsamer Düngung und günstigem Klima macht ihn erst dazu. Durch diese Hebung ist selbst eine ehemalige Küsteninsel verlandet worden, sie bildet heute das ganz insel- artig aus der Ebene gegen das Meer vorgeschobene Kap Cullera. Andererseits ist das Haff (die Albufera) von Valencia ein noch nicht ausgefüllter Meeresrest. Die Breite dieser Küstenebene ist sehr verschieden, am größten ist sie etwas südlich von Valencia, wo sie sich am Jucar und seinem rechten Zufluß Albaida tiefer ins Innere erstreckt. Die mittlere Breite mag etwa 8 km be- tragen, ihr Flächeninhalt etwa 1200 — 1400 qkm. Diese ganze — 203 — Fläche ist gartenartig angebaut, eine Huerta grenzt an die andere, sie ist meist künstlich bewässert und bringt vielfach mehrere Ernten im Jahr. Doch würde man irren, wenn man das Ganze für einen großen Fruchthain hielte, nur im Norden und im Süden herrschen Baumpflanzungen vor, bei Valencia schon überwiegt offenes, wenn auch sehr baumreiches Land, um den Strandsee und am Jucar liegen die berühmten Reisfelder, die überaus reichen Ertrag geben. Um Valencia herrscht der Anbau von Weizen, Mais, Hülsenfrüchten, Melonen und einer Fülle von Gemüsen wie Futterkräutern vor, Fruchtbäume, namentlich Orangen, Feigen, Granaten, Pfirsiche und Maulbeerbäume sind in großer Zahl da- zwischen gepflanzt, auf unbewässertem Lande pflanzt man 01- und Johannisbrotbäume, an den Hängen Reben. Die Bewässe- rungsanlagen, deren Schöpfer wohl die Araber waren, sind wunderbar entwickelt, die die Küstenebene durchströmenden Flüsse, die eigentlichen Schöpfer dieses Reichtums, der Mijares, der Palancia, Turia, Jucar, Serpis, werden durch zahlreiche Ka- näle, zum Teil schon innerhalb der Berge, angezapft und liegen den größten Teil des Jahres in ihrem untersten Laufstück trocken. Kunstvoll wird das Wasser über die ganze Ebene verbreitet, die sich kaum merkbar in völlig wagerechten, ganz unter Wasser zu setzenden Terrassen ausgelegt zum Meere hinabsenkt. Am größten ist der Wasserbedarf für den Reis- und Orangenbau. Letztere zieht man nicht wie in Sizilien in meist ummauerten Gärten auf hochstämmigen, fünf bis sechs Meter Höhe erreichenden Bäumen, sondern mehr auf niederen Bäumchen von kaum drei Meter Höhe auf offenen Feldern, die aber immerhin gegen Beginn des Früh- lings mit ihrer unglaublichen Fülle goldener Früchte, die fast aus dem Eisenbahnwagen greifbar sind, einen herrlichen Anblick ge- währen. Der nördliche Teil der Ebene bei Castellon de la Plana, Burriana und Villareal ist eine wenig unterbrochene un- geheure Apfelsinenpflanzung. Noch reicher ist aber der südliche Teil der Ebene, am Jucar und im unteren Albaidatale, um Alcira, Carcagente und das wasserreiche Jativa. Dort ist auch die Mannigfaltigkeit der Fruchtbäume viel größer, der Granat- baum wird im großen gezogen, und die Dattelpalme, die weiter nach Süden in der Provkiz Murcia ganze Oasen büdet, tritt hier schon in so großer Zahl auf, daß sie den Landschaftscharakter bestimmt. Da die Berge hier ziemlich kahl sind, die Bauart der — 264 — Häuser, die Gesichtszüge und die Kleidung der Bewohner noch vielfach an die Araber erinnern, so fand ich die Ähnlichkeit dieser Gegend mit den schon hochgelegenen Oasenlandschaften am Nordrande der Sahara, die ich zwei Jahre früher bereist hatte, sehr groß. In der echten Palmenoase von Elche in der Provinz Murcia gibt es Punkte, wo man, nach der Umgebung urteilend, glauben müßte, man befinde sich in einer Oase der nördUchen Sahara. Leider zeigte im Frühjahr 1888 diese para- diesische Landschaft ein recht trauriges Ge.sicht, die Apfelsinen- haine waren von Alcira bis Jativa bis in die Wurzeln erfroren, mit verbrannten Blättern, zum Teil ganz laublos standen sie da, Massen verfaulter Früchte bedeckten den Boden, auch die Jo- hannisbrotbäume, hier und da selbst die Ölbäume waren erfroren, die Dattelpalmen dagegen nicht überall. Es war im Februar Schnee gefallen und ein paar Tage liegen geblieben, er hatte die üppiggrünen Bäume bedeckt, die so am meisten gelitten hatten, während er an den hängenden Fiedem der Dattelpalmen weniger haftete. Bei Castellon hatten zur Zeit meines Aufent- haltes die Apfelsinen, die zum großen Teil auch schon abgeerntet waren, noch nicht gelitten, ich erfuhr aber, daß wenige Tage nachher ein Nachtfrost, Mitte März, durch einen mehrere Taü;e wehenden Mistral verursacht, auch dort großen Schaden getan hat. Im Süden der Provinz Valencia ist der Wohlstand einer ganzen Landschaft auf vielleicht ein Jahrzehnt vernichtet, bis neue Pflanzungen wieder herangewachsen sind. Überhaupt ist der Winter 1887/88 auch in Spanien sehr heftig aufgetreten, der Verlust an Eigentum durch Frost und Schnee, die Not der meist armen Bewohner, die wochenlang nicht in den Feldern arbeiten und ihren dürftigen Tagelohn (i bis 1,25 Franken) verdienen konnten, war dort weit größer als bei uns. Noch an der warmen Südküste Andalusiens fand ich das Zuckerrohr an vielen Punkten völlig erfroren und auch damit die einzige Ernte vieler Grund- besitzer verloren. Schon ein Besuch des berühmten botanischen Gartens in Valencia zeigte trotz schützender Matten und Zypressen- hecken furchtbare Verheerungen des Frostes. Doch kehren kalte Winter zum Glück hier nur in langen Zeitabschnitten wieder. Der Gegensatz zwischen diesem Gebiete intensivster Boden- verwertung und den angrenzenden nicht bewässerbaren Land- schaften im Gebirge und auf dem Hochlande ist ein überaus — 205 — scharfer: hier ein Gebiet höchsten Boden wertes, bedeckt von zahlreichen Städten, Dörfern, Weilern und einzelnen Häusern, dort fast wertlose Einöde mit weit verstreuten, dann aber immer ihre Bewohner nach Tausenden zählenden Ortschaften. Von der Provinz Valencia ist eigentlich nur die Küstenebene bebaut, reich- lich die Hälfte ihrer Bodenfläche ist unangebaut, womit aber durchaus nicht gesagt sein soll, daß sie nicht anbaufähig sei. So drängen sich die Bewohner in den Huertas zusammen. Man kann im Gestadelande Spaniens am Mittelmeere nach den vorwiegend gebauten Gewächsen vier verschiedene Gebiete unterscheiden: in Katalonien herrscht die Rebe und der Ölbaum vor, in Valencia die Apfelsinen, in Murcia in noch schärfer aus- geprägten Berieselungsoasen die Dattelpalme, daneben Apfelsinen, schließlich in Andalusien das Zuckerrohr. Der Zuckerrohrbau in Andalusien ist in den letzten Jahrzehnten wieder zu großer Be- deutung gelangt, steht aber jetzt im ganzen Mittelmeergebiet einzig da. Im Mittelalter und noch im i6. Jahrhundert versorgten die Mittelmeerländer allein Europa mit Zucker, der steigende Anbau in der Neuen Welt ließ denselben aber bald nicht mehr lohnend erscheinen, zuletzt, in der Zeit, als er in Andalusien wieder auflebte, erlosch er auch in Sizilien. Daß die Araber erst den Anbau des Zuckerrohrs, das von Indien nach Oman und dem unteren Mesopotamien verpflanzt worden war, über die Mittelmeerländer verbreitet haben, unterliegt keinem Zweifel. In Ägypten, wo es ja heute wieder im großen gebaut wird, in Syrien, auf Cypern, Rhodus, vor allem auf Sizilien fand im Mittelalter Zuckerrohrbau im großen statt. Von da kam es nach Andalusien, Madeira, den Azoren und den Kanarischen Inseln und dann in die Neue Welt, wo es erst seine große Bedeutung erlangte. Handel mit Zucker spielte im Mittelalter in den Mittelmeerländern eine wichtige Rolle, von Damaskus und Alexandria, von Anda- lusien kamen im 15. Jahrhundert besonders große Mengen in den Handel, im südlichen Marokko wird schon im 10. Jahrhundert bedeutender Zuckerrohrbau erwähnt. Ebenso alt und jedenfalls durch die Araber eingeführt dürfte er in Sizilien sein, sicher nachgewiesen ist er dort seit dem 1 1 . Jahrhundert. Namentlich bei Palermo und anderwärts an der wohlbewässerten Nordküste wurde viel Zuckerrohr gebaut; bis gegen Ende des 16. Jahr- hunderts blüht dieser Anbau, dann aber beginnt er dem amerika- — 266 — nischen Wettbewerb zu erliegen. Bis in den Beginn dieses Jahr- hunderts hatten sich noch einige Reste, die letzten bei Avola, südlich von Syrakus, erhalten. Jedenfalls ist das Zuckerrohr so- fort bei der ersten Besiedelung (1435) auch nach den Azoren verpflanzt worden, Prinz Heinrich belehnte dort den Christus- orden mit der Hälfte des Ertrags der Zuckerrohrpflanzungen. Auch Behaim gedenkt derselben dort auf seiner Weltkarte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Zuckerohrbau Anda- lusiens im 15. und 1 6. Jahrhundert vorzugsweise dieselben Gegen- den umfaßte wie heute. Ob derselbe ganz zum Erliegen gekommen war, ist nicht sicher festzustellen, aber wahrscheinlich. Als Moritz Willkomm 1844 und 1845 diese Küstengebiete bereiste, fand er die heute ein großes Zuckerrohrfeld bildende, von einer schönen Straße durchschnittene Ebene der Mündung des Guadalhorce bei INIalaga noch als wüsten Sumpf, den man landeinwärts umging. In der Ebene von Motril und bei Almunecar erwähnt er saftig grüne Zuckerrohrfelder, aber nur nebenbei, sie waren off'enbar ohne größere Bedeutung, während wir heute hier einen geradezu großartigen Zuckerrohrbau haben. Nur bei Velez Malaga wurde derselbe damals wieder im großen betrieben und war ein Spanier, Ramon de la Sagra, der ehemals Direktor des botanischen Gartens in Havana gewesen war, im Begriff, eine große Zucker- fabrik und Raffinerie zu bauen. Seine Versuche hatten ergeben, daß der spanische Zucker dem westindischen nicht nachstehe. Er scheint Erfolg gehabt zu haben, und seitdem hat sich der Zuckerrohrbau, nur noch einmal während des amerikanischen Bürgerkriegs, der auch hier wie im ganzen Mittelmeergebiet einen wahren Baumwollenschwindel -hervorgerufen hatte, unterbrochen, gewaltig ausgedehnt. Alles in den kleinen Küstenebenen von Tarifa im Westen bis Adra im Osten, ja selbst an den Berg- hängen, nur irgendwie bewässerbare Land, eine sehr bedeutende Fläche, ist mit Zuckerrohr bestellt, alle Grundbesitzer, große wie kleine, bauen dieses am reichsten, selbst noch vor den Apfelsinen lohnende Gewächs, viele setzen alles auf diese eine Karte. Zu Dutzenden sind Zuckerfabriken entstanden, ihre hohen Schlote bilden im Landschaftsbilde eine ebenso ungewohnte wie häufige Erscheinung wie im Niltale am Fuße der Pyramiden. Viel Land ist für diese gewinnreiche Pflanze urbar gemacht worden, das ohne sie wohl noch lange des Bearbeiters geharrt hätte, groß- — 267 — artige, kostspielige Wasserleitungen sind angelegt worden, welche tiefe Täler auf hohen Brücken überschreiten und weitab von jedem Flusse oder jeder Quelle gelegene Flächen, die vorher mit Gestrüpp bedeckt waren oder höchstens Weizen hervor- brachten, überaus ertragreich gemacht haben. Bei Nerja fand ich die Hügel bis zu bedeutender Höhe mit Zuckerrohr bestellt, teils terrassiert, teils derartig in Furchen angelegt, daß das hinein- geleitete Wasser den Boden gründlich durchfeuchten muß. Also ähnlich wie man auf Madagaskar und in Südostasien vielfach Reis an Berghängen baut. Es ist dort eine mächtige Quelle, ein sogenannter Nacimiento, der bei dem Dorfe Maro am Fuße der Sierra de Almijara aus dem Kalkgebirge in wunderbarer Fülle und Klarheit, einen kleinen Fluß bildend, hervorbricht, in eine Leitung gefaßt und 6 km weit bis Nerja geführt, wo sich das zum Zuckerrohrbau geeignete Land in größerer Ausdehnung fand. Eine 50 m tiefe Schlucht mußte in vierfacher Bogenstellung über- einander dabei überbrückt werden. Hier, wo das hohe Küsten- gebirge sich steil über dem Meere erhebt und Schutz gewährt, war das Zuckerrohr nicht erfroren; aber weiter westwärts, wo dieser Schutz geringer ist, bei Velez Malaga und in der Ebene von Ma- laga selbst, war auf weite Strecken die ganze Ernte verloren. Ich habe im März und April 1888^) fast das ganze anda- lusische Zuckerrohrgebiet bereist, es gehört zu den malerisch- sten Gegenden Spaniens, wie es das klimatisch begünstigste ist. Nur gegen Gibraltar zu Lande an der Küste entlang von Malaga aus vorzudringen, war unmöglich. Ich hatte den Versuch gemacht, die zweitägige Strecke, die zur Hälfte nur zu Pferde gemacht werden kann, zurückzulegen und war eines Morgens mit dem Poststellwagen von Malaga aufgebrochen. Es regnete heftig; wie auch in Andalusien und Nordmarokko, wohin ich später über- setzte, diese Monate überaus regnerisch und verhältnismäßig kühl waren; die sogenannte Straße, die man in Deutschland kaum als Feldweg bezeichnen würde, geht steil bergauf und bergab und besteht bald aus vom Wasser zerrissenem Felsboden, bald aus unergründlichem Schlamm. Die aus dem Gebirge kommenden Gießbäche, die meist trocken liegen, entbehren natürUch der l) Ich betone, daß diese Schilderung des spanischen Zuckerrohrbaus sich auf 1888 bezieht. Die Einführung des Zuckerrübenbaus in den letzten Jahren ist nicht ohne Einfluß geblieben. — 268 — Brücken, im günstigsten Falle hat man ihr Bett verbreitert, flach ausgetieft und gepflastert, so daß das Wasser rasch darüber- schießt, Geröll, Gestrüpp usw. mitreißt und man ohne Gefahr hindurchfahren oder reiten kann. Wir waren in dieser Weise bereits glücklich über mehrere dieser Ramblas hinüber, über die letzte, die einen solchen Übergang bereits zum Teil zerstört hatte, nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr, als uns nach sieben- stündiger Fahrt der Fluß von Fuengirola Halt gebot. Er war so stark geschwollen und so reißend, daß selbst ein Reiter, der die beste Furt erkunden sollte, sich nicht hineinwagte. Es war übrigens an demselben Tage in der Nähe von Gibraltar ein des Landes im hohen Grade kundiger Engländer bei dem Versuche, auf der Heimkehr von der Jagd einen geschwollenen Gießbach zu durchreiten, umgekommen. Ich hatte nun die Wahl, zu warten bis der Regen aufhörte und das Wasser sich verlief, was zuweilen in wenigen Stunden der Fall ist, oder nach Malaga umzukehren. Ich entschloß mich rasch zu letzterem und langte nachts nach mühseliger Fahrt wieder in Malaga an. Der Guadalhorce, der westlich von Malaga mündet und von einer schönen Eisenbrücke überspannt wird, war inzwischen gewaltig gestiegen und reichte fast bis an die Brücke: wenige Stunden später riß er sie weg. Wäre ich nicht sofort umgekehrt, so wäre ich für vier Tage zwi- schen den beiden Flüssen in dem armseligen Fuengirola gefangen gewesen, denn auch das Meer war so stürmisch, daß sich keine Barke hinauswagen konnte. Geringer waren die Schwierigkeiten des Küstenwegs in öst- licher Richtung, obwohl auch dort, wie schon erwähnt, die Strecke von Nerja nach Almuüecar zu Fuß zurückgelegt werden mußte. Es war ein zwar anstrengender sechsstündiger Marsch in glühen- der Sonne, aber landschaftlich überaus lohnend. Durch die riimenden Wasser in zahlreiche senkrecht zur Küste streichende Bergrücken zerschnitten, bricht hier die Sierra de Almijara steil am Meere ab, eine tiefe Schlucht bildet die Grenze zwischen den Provinzen Malaga und Granada. Von hier führt der Pfad auf eine kurze Strecke durch einen lichten Wald von Aleppo- kiefern, länger durch immergrünes, duf'Jges, hochgewachsenes Gestrüpp von Rosmarin, Salvien, Lavendel, Lentiscus, Ginster, Immergrüneichen, Zwergpalmen und dergleichen. Sonst sind auch hier, wo es nur irgend möglich war, die steilen Hänge an- — 26g — gebaut, namentlich mit Tomaten, die in dieser sonnigen Lage (am 31. März nach kaltem Winter!) schon ziemlich reif waren. Die vereinzelten Cortijos liegen meist an höchst malerischen Punkten, aber nur ein einziges Dorf findet sich, Herradura, am Rande einer mit Zuckerrohr bebauten Ebene an einer kleinen hufeisenförmigen Bucht, daher der Name des Ortes, die durch eine kleine Küstenfeste verteidigt wird. Solche Festen, meist noch in brauchbarem Zustande erhalten, finden sich an der ganzen Küste an jedem Punkte, der nur einigermaßen eine Lan- dung möglich erscheinen läßt. Sie galten vorzugsweise den See- räubern der Berberei. Almunecar liegt sehr hübsch auf und an einem vereinzelt aus einer kleinen Bucht mitten aus einer kleinen Ebene sich erhebenden Kalkfelsen, dessen höchster Gipfel dicht über dem Strande eine alte Feste trägt. Die Entstehung dieser kleinen buchtenartigen Küstenebenen wie bei Herradura, Almunecar, Motril, Malaga usw. ist eine be- sonders anziehende Frage, deren Lösung einer der Hauptzwecke meiner Reise war, wie ich mit ähnlichen Zielen zwei Jahre früher die ganze Küste Nordafrikas von Cherchel in Algerien bis zur Syrte und 1888 von Andalusien aus die marokkanische Küste, stückweise wenigstens, von der Meerenge bis Oran in Algerien bereist habe. Ich habe mir die Ansicht gebildet, daß an Stelle dieser kleinen Ebenen sich in naheliegender geologischer Ver- gangenheit, bis zum Begiim der Quatärzeit, Meeresbuchten be- fanden, die wohl vorzugsweise durch die Tätigkeit der Brandungs- welle, welcher große, das , ganze Gebirge durchsetzende Quer- brüche, wie bei Malaga und Motril, bequeme Angriffspunkte gewährten, ausgespült worden waren. Seitdem trat eine an der ganzen Mittelmeerküste Spaniens nachweisbare aufsteigende Be- wegung des Landes (nicht Zurücksinken des Meeresspiegels) ein, und infolgedessen begannen die in diese Buchten mündenden Flüsse, unterstützt von Brandungswelle und Küstenströmung, welche die an den Vorgebirgen abgenagten Massen in den Buchten ab- lagerten, dieselben auszufüllen. Dieser Vorgang ist schon so weit gediehen, daß nur noch sehr flache iVusbuchtungen übrig sind. Die Hauptarbeit fällt dabei den Flüssen zu. Diese sind zwar die meiste Zeit wasserlos, namentlich da sie auch für künstliche Be- wässerung verbraucht werden, aber sie haben breite geröllreiche Betten, die sogenannten Ramblas, für gewöhnlich die bequemsten — 270 — Wege ins Innere, und führen nach heftigen Regengüssen, wie sie hier die Regel sind, unglaubUche Massen Geröll dem Meere zu. Diese Geröllführung ist teils auf das Klima zurückzuführen, indem in der langen trockenen Zeit der Boden ausdörrt, in Spalten auf- reißt, gelockert wird, so daß die dann plötzlich eintretenden Regengüsse ihn um so leichter angreifen und die Massen in Be- wegung setzen können, teils auf die petrographischen Verhältnisse des Gebirges, das zum großen Teil aus leicht verwitternden Kalk- und Tonglimmerschiefern besteht. Der Zugang zu diesen heutigen Zuckerrohrgefilden aus dem Inneren erfolgt meist über ziemlich hohe und schwierige Pässe, da die Flüsse in ungangbaren tiefen Schluchten, ähnlich den Klammen unserer Kalkalpen, das Küsten- gebirge durchbrechen. Die kürzeste Straße von Granada ans Meer bei Motril folgt zwar nach Überschreitung der unter dem Namen Sospiro del Moro bekannten Paßhöhe dem Tale des Guadalfeo abwärts, wird aber schließlich gezwungen, den west- lichen Rücken der Sierra de Lujar zu übersteigen, um Motril zu erreichen. Das Tal des bei Malaga mündenden Guadalhorce ist erst durch die Eisenbahn dem Verkehr dienstbar gemacht worden, die bei dem Knotenpunkt Bobadilla in ca. 450 m Meeres- höhe den dort auf dem Hochlande in breitem, flachem Tale dahinfließenden Fluß erreicht. Die Straßen übersteigen weiter östlich von Antequera und Loja aus in Pässen bis zu 1285 m Höhe, an denen in arabischer Zeit wiederholt blutig gekämpft worden ist, das Küstengebirge. Von Bobadilla aus hat sich der Fluß, dem off"enbar ein großer Querbruch und starke Schichten- störungen die Arbeit erleichterten — an der engsten Stelle der Klamm stehen die Kalkbänke ziemlich senkrecht — , ein immer tieferes Bett gegraben und eine der großartigsten Schluchten, den sogenannten Hoyo von Chorro gebildet, der, da der Fluß stets Wasser führt, auf eine Strecke ganz unzugänglich ist. Ich selbst mußte mich von der Unmöglichkeit überzeugen, wie schon früher unternehmungslustige junge Deutsche von Malaga, daß die Strecke zwischen den Eisenbahnstationen Chorro und Gobantes durchaus ungangbar ist, wenn man nicht einen Weg in die Felsen hauen läßt. Der Fluß stürzt in einem Wasserfall drei Kilometer ober- halb Chorro wie aus einem Tore aus einer 150 m hohen senk- rechten Felswand hervor. Der Eisenbahnbau hat hier ein volles Dutzend Tunnel erfordert, zwischen denen zum Teil eiserne — 271 — Brücken über Querschluchten geschlagen werden mußten. Hier findet einer der raschesten und darum überraschendsten Über- gänge zwischen dem Hochlande und der Südküste statt. Bei Bobadilla trägt die Landschaft einen rauhen, fast nordischen Charakter, Weizenfelder und Weideland dehnt sich weithin aus, nur der Ölbaum und Zwergpalmengestrüpp erinnert an den Süden. Ist man aber durch die Tunnel von Chorro hindurch, so er- weitert sich das Tal sehr rasch, die Hänge werden sanfter, kleine Dörfer, Städtchen mit den Trümmern maurischer Burgen und den Villen reicher Kaufleute von Malaga treten auf, umringt von Pflanzen der Tropen. Das ganze Tal ist ein herrlicher Frucht- garten voll größter Mannigfaltigkeit: die Apfelsinen, hier in mäch- tigen alten Bäumen, herrschen vor, die Dattelpalme breitet schützend ihre Krone über sie aus, hier und da dunkle Zypressen, unten am Fluß Silberpappeln und Dickichte hohen Rohres, an der Eisenbahn hoch aufgeschossene bläuliche Eukalypten, die schon ganze Haine bilden, an den Berghängen dunkle Johannis- brotbäume und graue Oliven, auch rötUch schimmernde Granat- bäume sind häufig, selbst Birn- und Pflaumenbäume fehlen nicht, auffällige Erscheinungen neben den saftstrotzenden Opuntien und Agaven der Neuen Welt. Alles prangt in frischem Grün des Frühlings, der Feigenbaum und der Weinstock haben schon voll entwickelte Triebe am 24. März! Weiterhin mündet das Tal in die Vega von Malaga aus, die Fruchtbäume werden seltener, das Zuckerrohr herrscht vor. Wie schon der Name erkennen läßt, ist Almunecar ein Ort mit noch ganz arabischem Gepräge, rings von Zuckerrohrfeldern umgeben, die sozusagen in die Stadt selbst eindringen. Der Burgfelsen war gewiß einmal eine Insel, die ihr Dasein der großen Festigkeit des marmorartigen blauen Kalksteins verdankte, den die Brandungswelle nur langsam abzutragen vermochte. Daß er zum Teil dennoch abgetragen wurde, zeigt eine Klippenreihe, die ihm ins Meer hinaus vorgelagert ist und so den Schiß"en etwas Schutz bietet. Dieser Umstand, wie die natürUche Festig- keit des Burghügels und die wohlbewässerte fruchtbare kleine Ebene sind die drei Ursachen, welche hier wohl sehr früh eine Siedelung haben entstehen lassen. In arabischer Zeit hat Almu- necar eine gewisse Rolle gespielt; hier landete im Jahre 755 — 272 — Abderrahman, der Sohn Moawias, einer der wenigen der Ver- tilgung ihrer Familie durch die Abbasiden zu Damaskus ent- ronnenen Ommijaden, der Begründer des Kalifats von Cordova. Daß der Ackerbau auf so beschränktem Gebiet, neben welchem Fischerei wenig ins Gewicht fällt, die 8000 Bewohner des Städt- chens zu nähren vermag, läßt auch hier erkennen, welche Volks- dichte in diesem glücklichen KUma möglich ist. Übrigens konnte ich hier noch eine neue Art, Schweine zu verwenden und zu mästen, kennen lernen: man führt sie am Seil durch die Straßen und läßt diese so reinigen, gewiß gründlicher, wie es die Ziegen tun, die ich anderwärts in Spanien dies Geschäft besorgen sah. Wie viel praktischer sind doch die wackeren Bürger von Almu- necar als die vorurteilsvollen Mohammedaner, welche aus religiösen Gründen Hunde und Geier mit dem Auffressen des Unrates be- trauen, die doch ihrerseits nicht zu essen sind. Da ich am Ostersonnabend in Almuhecar anlangte, so genoß ich auch da noch in der Nacht einen der großen Umzüge, in welchen man in der Osterzeit stundenlang mit Musik und Wind- beziehungsweise Wachslichtern meist lebensgroße Wachsfiguren, ■welche sich auf die Leidensgeschichte Chrisii beziehen, durch die Stadt trägt, imd ganz wie am Mittwoch vor Ostern und Grün- donnerstag in Velez Malaga, am Karfreitag in Nerja solche statt- fanden. Selbstverständlich war von wirkUcher Andacht bei den Tausenden von Menschen, welche an dem Umzug teilnahmen oder von Baikonen und Fenstern zuschauten, wenig zu merken, man sagte mechanisch Gebete her und vergnügte sich so viel wie möglich; es war mehr ein nächtliches Volksfest. Am groß- artigsten, aber völlig zu öffentlichen Schaustellungen ausgeartet sind bekanntlich diese Umzüge in Sevilla, wohin jetzt, wie einst zum Osterfeste in Rom, alle Fremden in Spanien zusammen- zuströmen pflegen, zur großen Freude der Gastwirte, die ihre Schafe dann gründüch scheren. Es gelang mir, Sevilla noch rechtzeitig zu verlassen, ohne darum diesen Umzügen ganz ent- rinnen zu können. Diese Tage vor Ostern, besonders Grün- donnerstag und Charfreitag, sind die höchsten Feiertage in Spa- nien, für die so strenge Vorschriften bestehen, daß der Kutscher, der mich am Karfreitag in einer Diabola (kleiner zweiräderiger Einspänner, anderwärts Tartane genannt) von Velez Malaga nach Nerja gefahren hatte, dort von der Polizei deswegen in Strafe — 273 — genommen werden sollte. Das hinderte nicht, daß ich unterwegs allent- halben Landleute in den Feldern beschäftigt fand. Ja, am Ostersonn- tage herrschte in der Ebene von Motril die allerlebhafteste Arbeits- tätigkeit, wie sie in Deutschland an diesem Tage ganz undenkbar wäre. Von Almuhecar führt eine neue gut gebaute Straße nach Motril; da aber das einzige, wie mir von verschiedenen Seiten bestimmt versichert wurde, in der ganzen Stadt vorhandene Fuhr- werk, eine Diabola, tags vorher nach Motril gefahren war, so mußte ich die vier Stunden lange Strecke zu Pferde zurücklegen, wobei wir die Windungen der Straße, die durch zahlreiche Quer- täler bedingt sind, auf steilen Reitwegen abschnitten, fast ununter- brochen in sünd flutartigem Regen. Nur für eine kurze Weile hörte der Regen auf und brach die Sonne durch, just am schön- sten Punkte, als beim Umbiegen um den letzten Bergsporn das alte Felsennest Salobrena, dahinter die herrliche Ebene von Mo- tril vor mir lag, Salobrena war in maurischer Zeit eine starke Feste, die am Rande der reichen Vega von Motril am Meere auf einem hohen vereinzelten Kalkfelsen thronte, heute liegt sie, zuletzt von den Franzosen zerstört, in malerischen Trümmern da. Um den Burgberg hat sich das gleichnamige Städtchen angesiedelt, dessen zwei große Zuckerfabriken wenig in das Landschaftsbild passen. Hier begann nun ein Treiben, wie es überraschender am Ostersonntage nicht gedacht werden konnte. Die Zuckerrohr- ernte war in vollem Gange, Tausende von Arbeitern waren da- mit beschäftigt. Die ganze Ebene von Motril, die ehemals mannigfachen Wechsel von Zuckerrohr-, Baumwoll-, Mais- und Batatenfeldern, untermischt mit Hainen von Oliven und Apfelsinen, wie Gruppen von anderen südlichen Fruchtbäumen und Dattel- palmen darbot, ist jetzt ein einziges großes Zuckerrohrfeld, das mitten in der Ernte mit den Tausenden geschäftiger Menschen einem wimmelnden Ameisenhaufen glich. Schon durch die engen Gassen von Salobrena war schwer durchzukommen, denn in langen Zügen, zu zwanzig bis dreißig auf einmal, kamen mir Maultiere, Pferde und Esel entgegen, zu beiden Seiten mit schweren Bürden von Zuckerrohr beladen, das sie der Fabrik zuführten. Da andere Züge in gleicher Richtung mit mir leer zu den Feldern zurück- eilten, fehlte es nicht an Drängen und Stoßen, Zurufen und Schreien der Treiber. Doch ging es stets friedlich ab, nichts von jenen rohen Schimpfereien, wie sie bei uns unvermeidlich Fischer, Mittelmeerbilder. l8 — 274 — gewesen wären. So ging es fort, reichlich auf anderthalb Stunden durch die ganze Vega, auf meist engen, grundlosen Wegen, ja eine volle Stunde geradezu im Wasser reitend, Wasser von oben, Wasser von unten. Der Guadalfeo nämlich, der größte der von der Sierra Nevada nach Süden gehenden Flüsse, der in zwei Hauptarmen, von denen zahlreiche Kanäle abgeleitet sind, die von seinen Anschwemmungen gebildete Ebene durchströmt, war stark angeschwollen und hatte die Ebene zum Teil überschwemmt, namentlich aber hatten die Kanäle besonders die ausgetretenen Wege überflutet und in Bäche verwandelt. Der Hauptarm des Flusses war 350 m breit und bot, wenn auch nur 0,5 — 0,75 m tief, durch die starke Kiesel rollende Strömung (eine Brücke war selbstverständlich nicht vorhanden) den schwerbeladenen Tieren viel Schwierigkeiten, was natürlich die eigentümliche malerische Landschaft noch mehr belebte. Hier gewann man den Eindruck eines tropischen Deltalandes, wie ja in der Tat die Vega von Motril das mildeste Klima in Europa besitzt und die größte Zahl tropischer Gewächse hervorbringt. Bei seiner Breite und Wasserfülle machte der Fluß, der an jener Stelle, wo ich ihn durchritt, auf zwei bis drei Kilometer durch Dämme und Flechtwerk notdürftig gerade gelegt ist, mit seinem breiten Saume von hohem Rohr und im ersten frischen Grün prangenden Silberpappeln einen bedeutenden Eindruck. Im Sommer dürfte er wohl nur ein trockenes Kiesbett aufweisen. Die Ernte hatte auch hier diesmal später begonnen und viele Felder waren zu gleicher Zeit in Angriff genommen worden. Scharen von fünfzig und mehr Arbeitern sah man auf den ein- zelnen Feldern, die Männer hieben die dicken Rohre, die hier drei Meter Höhe erreichen, ab; die Frauen und größere Kinder befreiten sie von den Blättern. Diese werden dann aufgehäuft und dienen zur Düngung. Aufseher, hier und da auch die Be- sitzer zu Pferde, eilen von Trupp zu Trupp; alles kaut Zucker- rohr, die Treiber der Lasttiere wie die Kinder in den Dörfern, Zuckerrohrstengel werden in dieser Zeit in ganz Andalusien von den Obstverkäuferinnen verkauft. Um das Zuckerrohr dreht sich heute geradezu alles in diesem fruchtbarsten Teile Andalusiens. Man zieht durch die zur Bewässerung eingerichteten Felder, nach- dem sie tüchtig gedüngt sind, tiefe Furchen, in welche man lange Rohrstengel legt und leicht mit Erde bedeckt. Diese schlagen dann aus, im ersten und zweiten Jahre bleiben aber die Stengel klein und haben wenig Zuckergehalt, vom dritten Jahre an beginnt erst der volle Ertrag, nach weiteren acht bis zwölf Jahren muß aber das ganze Feld gründlich umgearbeitet und neu angelegt werden. Die Ernte beginnt meist Mitte Februar, dies Jahr fast vier Wochen später, von da an arbeiten die Fakriken etwa drei Monate. Dieselben gehören teils reichen Großgrund- besitzern, eine große Zahl dem ,, Könige von Andalusien" Larios, einem der reichsten INIänner Spaniens, wohl wesentlich durch eigene Tüchtigkeit emporgekommen, teils Gesellschaften. Auch die Zuckerrohrfelder gehören vielfach reichen Grundbesitzern, doch haben die hohen Erträge, ähnlich wie in unseren Zucker- rübengebieten, auch die kleinen Besitzer fast ausnahmslos zum Anbau des Zuckerrohrs gebracht. Motril, drei Kilometer vom Meere nahe dem oberen Ende der Ebene gelegen, ist durch Zuckerrohrbau eine der wohlhabendsten Städte Spaniens gewor- den; die stattlichen Häuser, Villen und Gärten, einzelne schöne schnurgerade, gut gepflasterte Straßen zeugen von dem dort herrschenden Wohlstande, trotzdem die Stadt nur 1 7 000 Ein- wohner zählt. Natürlich hatte sich auch hier die Spekulation breit gemacht, der Wert des Bodens war vor drei Jahren bis auf 200^ Iq gestiegen. Seitdem ist aber auch hier ein gewaltiger Rückschlag eingetreten; der deutsche Rübenzucker, der billiger ist als der andalusische Rohrzucker, überflutet auch den spa- nischen Markt, die Fabriken, außer den besonders gut geleiteten des Larios, erzielen keinen Gewinn mehr und haben die Preise für das Rohr so herabgesetzt, daß die Bauern behaupten, dabei nicht bestehen zu können. Selbst\'erständlich sehen sie die Preis- herabsetzung als einen Ausfluß der niederträchtigen Gewiimsucht der Fabrikbesitzer an, es war kurz vor meiner Ankunft zu einem förmlichen Aufstand in Motril gekommen, in blinder Wut waren die Zuckerrohrfelder in Brand gi^steckt, ja der Sohn eines reichen Grundbesitzers erschossen worden, die bewaffnete Macht mußte einschreiten und eine Gerichtskommission hatte die Untersuchung in die Hand genommen. Einzelne Besitzer haben infolge des Preisrückganges schon angefangen, ihre Felder mit Baumwolle zu bestellen, da diese heute besser zu lohnen scheint wie Zuckerrohr. Die Verluste durch Frost werden diese Neigung noch bestärken. Statistische Angaben über die andalusische Zuckergewinnung zu geben ist unmöglich, es gibt keine, und gäbe es welche, so i8* — 276 — wären sie, wie mir ein gründlicher Kenner Spaniens und Anda- lusiens unter Belegen versicherte, falsch. Alles, was in Spanien an amtlicher Statistik geliefert wird, selbst die Bevölkerungszahlen, sind falsch, alle Aufnahmen werden von den Beamten liederlich ausgeführt, und die gegen alles, was von dem Beamtentum aus- geht, mit Recht mißtrauische Bevölkerung macht mit Absicht falsche Angaben. Die Verderbtheit des spanischen Beamtentums ist, wie ja verschiedene in der letzten Zeit durch die Tages- presse bekannt gewordene Vorgänge gezeigt haben, eine so trost- lose, daß selbst das magyarische Ungarn und Rußland noch besser daran sind und ich nur in der Türkei ähnliche Zustände gefunden habe. Es hängt das mit dem Treiben der Parteien und dem beständigen Wechsel der Beamten zusammen. Jeder sucht sich so rasch wie möglich zu bereichern. Auch ist die Mißachtung, in welcher die Beamten stehen, eine große, aber wohlverdiente. Von den Summen z. B., welche für die Über- schwemmten in Murcia und für die durch das furchtbare anda- lusische Erdbeben, dessen Spuren heute noch frisch sind, Heim- gesuchten auch bei uns aufgebracht worden sind, ist tatsächlich nur ein kleiner Teil in die Hände der Bedürftigen gekommen, das meiste ist in den zahlreichen Beamtenhänden, durch die es ging, kleben geblieben. Der verstorbene tüchtige König Alphonso, der diese Zustände wohl kannte und sie mit der Zeit wohl auch gebessert haben würde, verteilte eigenhändig Geld in dem Erd- bebengebiet, aber da auch er sich nur ausnahmsweise an die Geschädigten unmittelbar wenden konnte und sonst nur an die Gemeindevertretungen, so ist selbst von diesen Gaben des Königs ein großer Teil unterschlagen worden. Der Steuerdruck ist für die Masse der Bevölkerung, namentlich weil sich gerade die steuerkräftigsten Kreise der Besteuerung zu entziehen wissen, ein ungeheurer, fast unerträglicher, selbst für ein so genügsames Volk wie das spanische, die Mißverwaltung in allen Zweigen eine sehr große, und man begreift so, daß in einem Lande fast von der Größe des Deutschen Reiches, aber nur ein Drittel der Be- völkerung, wo fruchtbares Land in Fülle für die dreifache Volks- menge vorhanden ist, fortdauernd eine beträchtliche Auswande- rung nach Südamerika und Algerien stattfindet. Die Masse der Bevölkerung ist blutarm und tief verschuldet, sie lebt von der Hand in den Mund; kann sie, wie in diesem kalten und reg- — 277 — nerischen Winter, nur einige Zeit nichts verdienen, so entsteht große Not, und die Großgrundbesitzer sind dann genötigt, Vor- schüsse zu machen oder geradezu den Hungernden Brot zu geben. Viele Tausende hungernder Landleute waren Ende März in Granada zusammengeströmt, um ihr Leben von Almosen zu fristen, in Scharen standen sie, wenn einmal die Sonne schien, an der Sonnenseite der Straßen und wärmten sich. Durch die Verwüstungen der Reblaus sind auch in Andalusien viele Besitzer verarmt. Das Verkehrswesen liegt sehr im argen; man hat ja in der letzten Zeit viel Eisenbahnen gebaut und es ist den dringendsten Bedürfnissen in dieser Hinsicht wohl genügt, aber die Linien sind bis auf eine kleine Ausnahme — und dies ist die einzige anständige Eisenbahn in Spanien — in den Händen französischer Kapitalisten, die den Verkehr in noch schamloserer Weise wie in Frankreich ausbeuten. Es gehen wenige Züge, mit wenigen Beamten, geringer Fahrgeschwindigkeit, ohne Ein- halten der Fahrzeit mit einem geradezu ekelhaften Wagenmaterial. Letzteres ist allerdings zum Teil Schuld der Bevölkerung. Jeden- falls sind die spanischen Eisenbahnen die schlechtesten Europas. Der Bau ist allerdings teilweise, der Aufstieg von den Küsten aufs Hochland überall schwierig und kostspielig gewesen. Es ist nicht zu verkennen, und gute Kenner des Landes geben das auch zu, daß auch in Spanien Fortschritte zum Besseren gemacht sind, aber es geht damit unendlich langsam. Es fehlt an Unter- nehmungsgeist, Arbeitslust, Zuverlässigkeit, auch die beste Regie- rung kann nicht viel tun, wenn ihr, wie heute, die Unterstützung durch ein tüchtiges Beamtenheer fehlt. Heute ist Spanien ein zwar an unentwickelten Hilfsquellen reiches, aber im übrigen armes, schwaches Land, das noch für lange Zeit in der euro- päischen Politik, da es ganz außer stände ist, namhafte Kräfte außer Landes zu verwenden, ohne Einfluß bleiben wird. Be- lustigend mußte es daher wirken, daß wiederholt selbst gebildete Spanier auf die Karolinenfrage zu sprechen kamen und der festen Überzeugung waren, Spanien hätte es auch allein recht wohl mit dem Deutschen Reiche aufnehmen können. Das Schul- wesen und die Volksbildung liegt eben in Spanien tief danieder, der Spanier reist möglichst wenig, er kennt sein eigenes Land nicht, die ganze übrige Welt liegt ihm unendlich fem, nur selten fällt sein Blick durch eine französische Brille auf sie. V. Die Atlasländer. I. Die Küstenländer Nordafrikas in ihren Beziehungen und in ihrer Bedeutung für Europa. 0 Zu den wertvollsten und charakteristischen Seiten der von Karl Ritter zuerst so erfolgreich angewendeten Methode, erdkund- liche Tatsachen aufzufassen, gehören Untersuchungen über die Küstenbeschafifenheit, sowie das Vorhandensein und den Cha- rakter der Gegengestade irgend eines Landes mit Rücksicht auf das Maß seiner Entwickelungsfähigkeit. So klar wie es auf der Hand liegt, daß eine ungünstig gebildete Küste die Entwickelung der materiellen und geistigen Kultur eines Landes hindern muß, ebenso muß der Mangel eines Gegengestades in gleichem Sinne einwirken. Die dem Ozean zugekehrten Landschaften der Ibe- rischen Halbinsel und Großbritanniens lagen am Rande der be- wohnten Erde, außerordentlich ungünstig, trotz ihrer trefflichen Häfen, bis zu dem Augenblick, wo Europa durch Entdeckung der Neuen Welt, damit im ursächlichen Zusammenhange der di- rekten Verbindung mit Indien, sein Gegengestade erhielt. Das Vorhandensein eines Gegengestades ist mindestens von gleich hoher Bedeutung wie eine günstige Küstenbeschaffenheit, Gestade und Gegengestade müssen notwendig in den innigsten Bezie- hungen zueinander stehen, die größere oder geringere Ausstattung des einen muß auf das andere den tiefgreifendsten Einfluß aus- üben, historische Vorgänge auf dem einen ihre Schatten auf das andere werfen. All das in um so höherem Maße, je näher beide l) Erschienen in der Deutschen Revue 1882. — 279 — einander gegenüberliegen ; im allgemeinen aber wird das we- niger reich ausgestattete dem Einflüsse des reicheren unterliegen, nur in kurz vorübereilenden Perioden besonderer, von einer neuen Idee getriebener oder von außen dorthin verpflanzter Kraft- entfaltung der Bewohner kann das Umgekehrte eintreten. Die hier allgemein ausgesprochenen Sätze finden ihre vollste Anwen- dung auf die südlichen Gestadeländer des Mittelmeeres, die ja in der letzten Zeit so auffallend in den Vordergrund der Er- eignisse getreten sind und voraussichtlich noch für lange Zeit immer und immer wieder treten werden. Es dürfte daher von allgemeinem Interesse sein und das Verständnis nicht nur der letzten politischen und militärischen Vorgänge in Nordafrika wesentlich fördern, sondern auch einen Blick in die Zukunft ge- statten, wenn wir die Vergangenheit der Beziehungen Nordafrikas zu Südeuropa vor unserm Geiste vorübergehen lassen, insofern dieselben sich aus geographischen Tatsachen und somit gewisser- maßen aus Naturgesetzen herleiten lassen. Ägypten, ohne näheres Gegengestade am äußersten Südostende des Mittelmeeres gelegen, noch mehr als Durchgangsland als um seiner selbst willen von Wichtigkeit, durch einen ungeheueren wüsten Küstenstrich von den übrigen Gestadeländern Nordafrikas abgesondert, spielt eine von diesen völlig abweichende Rolle und fällt deshalb außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung, Diese wird vorzugsweise auf die Küstengestaltung, sowie auf die sonstigen wichtigeren geo- graphischen Faktoren der nordafrikanischen Gestadeländer von Barka westwärts, wie sich dieselben in der Geschichte spiegeln, einzugehen haben. Die Küsten Nordafrikas, namentlich soweit sie den Atlas- ländern, die Karl Ritter nicht unpassend als Kleinafrika bezeichnet hat, angehören, erscheinen auf den ersten Blick als für Afrika ungewöhnlich günstig entwickelt. Wir sehen hier halbinselartig Barka in das Mittelmeer vorspringen, wir sehen das Syrtenmeer in den Rumpf eindringen, in der kleinen Syrte sogar reich an stattlichen Inseln, wir erkennen den Golf von Tunis, der eine kleine Halbinsel ausschneidet, und von da westwärts eine an kleinen Buchten so reiche echt mediterrane Küste, wie sie in Afrika nur im Kaplande wiederkehrt, kurz, das Mittelmeer, das Meer der Halbinseln, Meerbusen und Meerengen, scheint auch das ungefüge Afrika aufschließen zu wollen. Indes, bei näherer — 28o — Prüfung erweist sich auch hier der Grad der Begünstigung in bezug auf reichere Küstengliederung als geringer, als man aus einem Blick auf die Karte schließen darf. Jene größeren Ein- buchtungen weisen meist geschlossene Küsten auf, die Natur des Binnenlandes, die Verbindung desselben mit der Küste ist eine ungünstige, diese selbst steht allenthalben unter den un- günstigsten Windverhältnissen. Die jetzige politische Gliederung der Gestadeländer Nord- afrikas ist eine so tief in den geographischen Verhältnissen be- gründete, daß sie zu allen Zeiten bestanden und nur vorüber- gehend einer Einheit Platz gemacht hat. Selbst von der Drei- teilung des Atlasgebiets gilt dies, nur die Grenzen haben sich zuweilen etwas verschoben. Bei den drei östlichen, Barka, Tri- politanien und Tunesien, hat die Natur einen einzigen Punkt so außerordentlich bevorzugt, daß derselbe mit dem ganzen Land mehr oder weniger identisch ist, während in Algerien und Ma- rokko dagegen eine solche Vielzahl der Schwerpunkte von der Natur geschaffen ist, daß es selbst der zentralisiertesten Verwal- tung gar nicht oder nur vorübergehend gelingen kann dem einen oder dem anderen das entschiedene Übergewicht zu geben. Die Bedeutung der Gestadeländer Nordafrikas für Europa ist eine doppelte, einmal insofern dieselben reich an inneren Hilfsquellen jeder Art sind, vermöge deren sich hier im Alter- tum, teilweise auch noch im Mittelalter, große Bevölkerungsver- dichtung und hohe Kultur zu entwickeln vermochte, dann aber namentlich weil sie die Eingangstore zu dem an Erzeugnissen der verschiedensten Arten überreichen transsaharischen Afrika bilden. Allerdings trennt sie von jenem die ungeheuere Wüste in einer mittleren Breite von 1700 km (Entfernung Berlin-Kon- stantinopel) und es läßt sich gegenüber einer Fülle von Tat- sachen nicht mehr verkennen, daß die Wüstenbildung in der Sahara, seit der Pluvialzeit, ja vielleicht bis in die geschichtliche Zeit fortgeschritten ist, aber dennoch ist die Wegsamkeit der Wüste größer als man gewöhnlich annimmt, auch ist sie durch artesische Brunnen, mit deren Hilfe die Franzosen im südlichen Algerien ganze Oasen geschaffen haben, in hohem Grade zu ver- bessern. Selbst die Möglichkeit, eine Eisenbahn durch die Wüste zu bauen, kann durchaus nicht bezweifelt werden, der günstigste Ausgangspunkt derselben wäre aber unbedingt Tripolis, der denkbar ungünstigste, wegen der größeren Oasenarmut und des eigentümlichen Charakters der Bewohner der westlichen Sa- hara, dagegen irgend ein Punkt der Küste von Algerien, und die Franzosen haben sich auch bei den Stämmen der Wüste so un- erbittlichen Haß zugezogen, daß noch für sehr lange Zeit dafür gesorgt ist, daß auch hier die Bäume der so ausdehnungslustigen Französischen Republik Aicht in den Himmel wachsen werden. Seit einem halben Jahrhundert mühen sich sowohl einzelne fran- zösische Forscher wie ganze Expeditionen ab, die Wüste von Algerien zum Niger oder umgekehrt zu durchqueren: erst nach fast zwanzigjährigem Bemühen ist dies dem vortrefflichen F. Fourreau 1899 gelungen. Wie gangbar aber schon jetzt die Wüstenstraßen sind, wie wichtig sie selbst wenig fortgeschrittenen Völkern waren, das erkennen wir deutlich daraus, daß ganze Völker- stämme aus Nordafrika nach dem Sudan eingewandert sind, Sudankönige ihr Gebiet bis Fezzan, Herrscher von Marokko das- selbe bis Timbuktu ausgedehnt haben. Noch in den 40er Jahren ist der Stamm der Auläd Soliman mit Weib und Kind und aller Habe aus der Umgebung der Großen Syrte vor den Türken aus- gewandert und treibt jetzt sein räuberisches Wesen in Kanem östlich des Tsadsees. Wie Nachtigal nachgewiesen hat, gehörte im 13. und 14. Jahrhundert Fezzan bis Wadan zum sudanischen Reiche Kanem, damals also mögen die Italiener in direkten Handels- beziehungen zu Zentralafrika gestanden haben. Umgekehrt herrsch- ten die Sultane von Marokko lange Zeit zu Ende des 16. Jahr- hunderts über Timbuktu, den Schlüssel und Knotenpunkt aller Wüstenstraßen vom Nigergebiet zu den Atlasländern und den Mittelmeerküsten. Nicht nur für Karawanen, sondern für ganze Völkerstämme und Heere sind die Wüstenstraßen also gangbar. Die natürlichen Endpunkte derselben am Mittelmeere müssen daher immer und immer wieder, mag der Handel auch durch politische Verhältnisse, durch Verödung der Sudanländer oder der Gestadeländer Nordafrikas eine Zeitlang oder selbst lange Zeit auf ein Minimum herabsinken, zu der Bedeutung gelangen, welche ihnen durch den Zug der Oasen, durch ihr näheres Hinterland, durch die Küstenbeschaffenheit, durch die Gegen- gestade vorgezeichnet ist. ') Diese Punkte sind Tripolis, Tunis, i) Wenn heute die Wüstenstraßen verödet sind und der Sudan, der irgend ein Punkt an der Küste von Algerien (Bona, Bougie, Algier, Oran, wie wir diese Verschiebung weiter unten aus der Küstenbeschaffenheit erklären werden), Ceuta oder Tanger und Mogador. Von vorübergehender Bedeutung wird dagegen für den innerafrikanischen Handel ein Punkt an der Kleinen Syrte und Bengasi sein. Ersterer wird nur unter ganz besonderen po- litischen Verhältnissen mit Tripolis und Tunis, letzteres mit Alexandria in den Wettbewerb eintreten können. An der inner- sten Kleinen Syrte mußte sich zeitweilig ein Ort zu einiger Be- deutung erheben, da dort die Küste eine so entschiedene Wen- dung macht und sich sowohl die von Osten, wie die von Norden kommenden Straßen in gleicher Richtung ins Innere des Konti- nents festsetzen, südwärts über Rhadames in transsaharische Räume. So hat Gabes, das jetzt fast nur von dem Ertrage seiner Oase lebt, im Altertum und wieder im Mittelalter eine große Rolle gespielt. Nach Strabons Zeugnis erreichten hier die Waren aus dem inneren Afrika die Küste, ja die Griechen be- nannten die ganze Umgebung der Kleinen Syrte eben der Wich- tigkeit für den Handel wegen Emporia. So hat femer seit den 40er Jahren der Handel von Bengasi etwas Leben erhalten da- durch, daß durch die Ägyptischen Eroberungen im oberen Nil- gebiet der Handel sich von der bequemen Nilstraße ab und di- rekt nordwärts zum Mittelmeere gewendet hatte und er auch neuerdings wiederum seit der Eroberung von Darfor von Wadai aus diese Wüstenstraße nach Bengasi aufgesucht hat. Doch wird dies immer nur vorübergehend der Fall sein, da Bengasi eines Hafens ermangelt und diese Wüstenstraße zu den wasserarmsten gehört. Dennoch aber wird es immer eine gewisse Wichtigkeit behaupten, da es der bei weitem am günstigsten gelegene Ort von Barka, ja geradezu mit Barka identisch ist. Sein Besitz schließt stets denjenigen dieses Landes ein, das, im Rücken, im Osten und im Westen die Wüste, von den zunächst liegenden Tripolitanien und Ägypten scharf getrennt als eine Mittelmeer- insel anzusehen ist, von der man in wenigen Stunden das natür- liche Gegengestade Morea oder Kreta erreicht. Von dort empfing vom Beginn geschichtlicher Überlieferung an nach Norden, nach dem medi- terranen Kulturkreise geblickt hat, heute sein Gesicht nach dem Golf von Guinea gewendet hat, so kann auch das sich wieder ändern. - 283 - das Land seine griechischen Bewohner und Kultur, mit Griechen- land fand im ganzen Altertum der engste Verkehr statt, mit Kreta verbanden auch die Römer, die Meister einer wohlgeord- neten Verwaltung, die Kyrenaike zu einer Provinz. An Stelle der Griechen sind die Italiener getreten, ihre Sprache ist die des Verkehrs, der seit dem Mittelalter fast nur mit Italien und Malta stattfindet. Erschwert wird derselbe aber ungeheuer da- durch, daß an der ganzen steil zu großen Meerestiefen hinab- sinkenden, heftigen Nord- und Nordweststürmen ausgesetzten Felsenküste weder ein Hafen existiert, noch, wenigstens nicht ohne große Kosten, herzustellen ist. Wochen-, ja monatelang darf zuweilen im Winter kein Schiff diesen Gestaden nahen und dadurch wird die überaus günstige Lage dieser mächtigen in das Mittelmeer an die große Straße von Gibraltar nach Alexan- dria und Port Said vorgeschobenen Bastion sehr benachteiligt. Dies bestimmte wohl auch die Amerikaner in erster Linie die herrliche Küstenoase von Derna, welche sie 1815 besetzt und sich bereits durch in den Ruinen noch heute erhaltene Be- festigungen zu sichern begonnen hatten, wieder aufzugeben. Auch die Franzosen hatten schon früher, 1799, bei Gelegenheit der ägyptischen Expedition sich hier festzusetzen versucht. Anders freilich war es in griechischer Zeit, da lagen hier blühende See- städte, deren Ruinen noch wohlerhalten sind, da besaßen die Kyrenäer große Flotten, mit denen sie den Karthagern die Spitze boten, ja man schrieb ihnen die Erfindung der Lembi, einer Art leichter, schneller Barke zu. Die gewaltige Erosion der Meereswellen bei den Nordstürmen und eine säkulare Senkung, welche die ganze Küste erleidet, hat die Klippen und Felsen- inseln, welche den kleineren Schifi^en jener Zeit hinreichenden Schutz gewährten, ganz oder teilweise unter den ^Meeresspiegel verschwinden gemacht. Immerhin aber bleibt die Gunst der Lage und die natürliche Begabung des, nur das anbaufähige Land in Betracht gezogen, dem Königreich Würtemberg gleichenden, aber nur von y^ Millionen Menschen bewohnten Landes noch groß genug. Ist das Land auch jetzt Nomaden anheimgefallen und verödet es unter türkischem Drucke immer mehr — man zählt jetzt nur vier dauernd bewohnte Orte, — so ist es doch noch immer wohlbewässert und fruchtbar, imstande reiche Ernten an Weizen, Öl, Wein usw. hervorzubringen, treffliche Rosse und — 284 — Rinder und wohl mindestens l Million Bewohner zu nähren, als eine wertvolle Provinz eines zivilisierten Staates. Und derjenige Staat, dem naturgemäß das Land zufallen müßte, Italien, scheint denn auch sein Auge darauf gerichtet zu haben. Im vergange- nen Frühjahr hat eine italienische Expedition — wir wollen gern glauben, nur mit kommerziellen Hintergedanken — in Mai- land organisiert, das Land durchzogen und es sehr schön ge- funden.') Weit größer sowohl an sich wie hinsichtlich des inner- afrikanischen Handels ist aber die Bedeutung von Tripolitanien. Für letzteren, der jeden denkbaren Aufschwungs fähig ist, ist zu allen Zeiten die Küste von Tripolitanien die günstigste gewesen. Sie liegt Sizilien und Malta in geringer Entfernung gegenüber am Syrtenmeere, das hier tief in den Rumpf Afrikas eindringt, so daß die Entfernung von dem Tsadsee geringer ist als von irgend einem anderen Punkte der Küste, und zwei verhältnismäßig kurze Wüstenstraßen, die von einer Reihe von Oasen vorgezeichnet sind, endigen hier. Die eine führt über Rhadames, Rhat und Air in das Haussagebiet, die andere über Murzuk und Kawar nach Kuka und an den Tsadsee. Ja selbst der Handel mit Wadai hat sich seit 1873 vorzugsweise hierher gezogen. Der Ver- kehr mußte sich an demjenigen Küstenpunkte festsetzen, welcher sich am frühesten entwickelt hatte, aber schließlich mußte der Punkt die Oberherrschaft erlangen und behaupten, der den besten Hafen hatte. Verhältnismäßig wasserreich und fruchtbar ist der ganze Küstensaum von Masrata am westlichen Eingange in die Große Syrte bis an die jetzige tunesische Grenze, Oase reiht sich dort an Oase, der Steilrand der großen Wüstentafel des Binnenlandes verdichtet den dazu nötigen Wasserreichtum, aber doch waren es drei Örtlichkeiten, — daher der Name Tripolis, der schließlich an der mittelsten haften blieb und auch mit Recht auf die ganze Landschaft übergegangen ist — drei Punkte, an welchen sich durch besonderen Wasserreichtum und Fruchtbarkeit die größten Oasen zu entwickeln vermochten und deren Wichtigkeit daher schon die Phöniker erkannten. Es waren I) Barka hat seitdem eine gründliche Bearbeitung durch einen meiner Schüler erfahren : Dr. G. Hildebrandt : Cyrenaika als Gebiet künftiger Besiede- lung. Bonn 1904. - 285 - von West nach Ost Sabratha, Oea und Leptis magna. Letztere war am reichsten durch den Kinyps bewässert, der eine Oase schuf, in welcher angebUch der Weizen dreihundertfältige Frucht gab. Daher entwickelte sich Leptis früh zu einer bedeutenden Stadt, die sich auch das Meer durch einen entweder ganz künstlich gegrabenen oder wenigstens verbesserten Hafen erschloß. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war es eine der größten und prächtigsten Städte des Römerreichs, die Haupt- stadt Tripolitaniens, der Ausgangspunkt für alle Handels-, For- schungs- und kriegerischen Unternehmungen in das Innere des Kontinents. Die Blüte von Leptis sank mit derjenigen des Römer- reichs, sein künstlicher Hafen versandete und an seine Stelle ist seitdem und für alle Zeiten Tripolis (Oea) getreten, das eben- falls eine wasserreiche Ebene hinter sich und die gleich günstige Verbindung mit dem Hinterlande und dem Sudan, überdies aber eine von der Natur selbst geschaffene auch größeren Schiffen schuzbietende und leicht zu verbessernde Rhede hat, die einzige zwischen Alexandria und dem Tunesischen Golfe! Darauf beruht auch seine Bedeutung in der Zukunft, nicht nur als Hauptstadt Tripolitaniens, sondern als wichtigstes Tor des Sudan! Eine Klippenreihe löst sich dort von der ziemlich steilen Küste ab und setzt sich in nordöstlicher Richtung mehr als eine See- meile, durch Riffe sogar drei Seemeilen weit ins Meer hinaus fort, und schafft dadurch einen ziemlich sichern und tiefen leicht zu verteidigenden Hafen, der, wenn man, wie es zum Teil schon der Fall ist, die Klippen noch weiter durch Steindämme ver- bände, ein geräumiges fast gegen alle Winde geschütztes Becken bilden würde. Hier in dem nächsten, sichersten Hafen wird sich der Verkehr immer wieder konzentrieren und je mehr derselbe wachsen wird, je mehr Innerafrika erschlossen, die Wüstenstraßen gesichert werden, um so größer wird die Wichtigkeit von Tripolis werden. Trotz ungünstiger Verhältnisse im Sudan, trotz der trostlosen Zustände des Türkenreiches macht sich im letzten Jahrzehnt in Tripolis fortschreitende Entwickelung, Aufblühen der Stadt, mehr als Verdoppelung des Hafenverkehrs bemerkbar. Zum Teil beruht dieser Aufschwung mit auf der Gewinnung von Alfa im Hinterlande, das ausgedehnter und gewiß nicht weniger frucht- bar ist als das von Bengasi und noch heute vielleicht des glei- chen Kulturzustandes fähig ist wie in römischer Zeit. Eine dichte — 286 — hoch zivilisierte Bevölkerung saß damals in den reich bewässer- ten Küstenebenen, wo sich noch heute eine Dattelpalmen-Oase an die andere reiht, wie auf dem noch heute olivenreichen Hochlande, bzw. an dem niederschlagsreichen von Tälern ge- furchten Steilabsturze der großen Kreidetafel der Wüste. Rö- mische reich verzierte Monumentalbauten finden sich noch heute wohlerhalten in dem meist Nomaden anheim gefallenen Innern des Landes, als Denkmäler dessen, was das Land einst war und was es wieder werden wird. Bei einer Ausdehnung, die der- jenigen des Deutschen Reiches ungefähr gleich gesetzt werden kann, hat das Land jetzt doch nur etwa ^3 Million Bewohner, vermöchte aber unter geordneter Verwaltung mehrere Millionen zu nähren. Noch in den letzten Jahrzehnten ist die Bevölkerung beständig zurückgegangen, die türkische Besitzergreifung im Jahre 1835 hat auch hier ihre unheilvolle Wirkung nicht verfehlt, aber in den Händen einer zivilisierten Nation, unter geordneter Ver- waltung würde das Land sich rasch wieder heben, es würde die kürzeste Straße nach dem Sudan gesichert und Tripolitanien da- durch, obwohl es an sich von der Natur weniger reich ausge- stattet ist als die Atlasländer, die wertvollste Landschaft Nord- afrikas werden. Jene werden niemals, selbst Marokko nicht, den Wettbewerb um den innerafrikanischen Handel mit Tripolis aus- zuhalten vennögen. Tripolitanien wird an Bedeutung im inter- nationalen Handel gleich nach Ägypten kommen. Noch mehr wie Barka ist Tripolitanien auf Italien hingewiesen, da es eben- falls durch Wüsten auf allen Seiten isoliert, mit seinem Gegen- gestade von jeher in lebhaftesten Beziehungen gestanden hat. Die Beziehungen zu den Phönikern scheinen nicht tief gedrungen zu sein, römische Kultur um so tiefer, und seitdem sind die Be- ziehungen zu Italien nicht mehr unterbrochen worden. Die euro- päische Kolonie in Tripolis besteht heute fast ganz aus Italienern und Maltesern. Schon 1 2 1 6 schlössen die Genuesen einen Handelsvertrag, der ihnen die ganze Küste bis Barka öffnete und das ganze Mittelalter hindurch hatten sie am ganzen Syrtenmeere das Monopol des Handels. Schon auf den ältesten uns erhalte- nen italienischen Seekarten, aus dem Anfange des 14., wahr- scheinhch aber der Mitte des 13. Jahrhunderts erscheinen die Umrisse des Syrtenmeeres , mit den Namen zahlreicher Küsten- plätze bedeckt, sehr genau dargestellt, genauer als auf unseren - 287 - modernen Karten bis zu den englischen Aufnahmen in den zwanziger Jahren. Anderer Art ist die Wichtigkeit von Tunis und Tunesien; sie beruht weniger auf dem Handel mit Innerafrika als auf den eigenen Hilfsquellen und der Lage an der großen das östliche Mittelmeer mit dem westlichen verbindenden Straße, die sehr viel enger ist als jene zwischen Barka und Kreta und an welche Afrika nicht wie dort in der Gestalt einer hafenlosen Hochlands- bastion, sondern mit einem tiefen Meerbusen heranreicht. Die Breite dieser Straße, die wir am besten nach dem mitten darin in der tiefsten Rinne aufgebauten Inselvulkan von Pantelleria benennen, beträgt 150 km, aber die Strömung geht die afrika- nische Küste entlang und die nördlich vom Golf von Tunis liegende Skerki Bank wie die Adventure und andere Bänke zwi- schen Pantelleria und Sizilien drängen den Verkehr nach Afrika hinüber. Die Beherrschung der Meerenge wäre weit leichter von Pantelleria aus, wenn diese Insel nicht gegen Malta dadurch zurückstände, daß sie an ihren steil aus großen Tiefen aufstei- genden Küsten auch der kleinsten Bucht entbehrt und selbst künstliche Hafenanlagen schwierig sind. Um so größere Wichtig- keit hat aber dadurch der Golf von Tunis, an dem naturnot- wendig stets ein wichtiger Handels- und Kulturmittelpunkt liegen muß. So folgen hier aufeinander Utika, Karthago, dann wieder Utika, dann Neukarthago, schließlich nach kurzer Unterbrechung Tunis. Diese Unterbrechung fällt in die ersten Jahrhunderte der arabischen Herrschaft, in die Zeit, wo der Haß zwischen Christen- tum und Islam so groß war, daß nicht einmal Handelsbeziehungen zwischen beiden stattfanden, zugleich die Zeit, in welcher die Araber selbst noch vor dem Meere zurückschreckten. Darum hatten sie Kairwan weiter südwärts im Binnenlande gegründet, das wohl durch Industrie und Landhandel emporblühte, aber doch als mehr oder weniger künstliche Schöpfung von dem Augenblicke an wieder sinken mußte, wo der Seeverkehr in Nordafrika wieder auflebte und die alten Beziehungen zu Italien sich wieder gel- tend machten. Von diesem Augenblick an trat der Golf von Tunis wieder in seine ihm von der Natur verliehenen Rechte, welche der Mensch nur vorübergehend zu schmälern vermag. Für mehrere Jahrhunderte wurde Tunis nun auch Endpunkt der großen innerafrikanischen Handelsstraßen, die sich damals in — 288 — Wargla, in der jetzt französischen Sahara vereinigten. Selbst die türkische Besitzergreifung im i6. Jahrhundert machte dem noch nicht völHg ein Ende und noch heute gilt Tunis den Wüstenbewohnern als eine große, reiche und überaus prächtige Stadt. Daß hier an der Westseite des Golfs jeder Zeit eine Großstadt blühen muß, erklärt sich aber nicht allein aus der Lage dieses Golfs am nordöstlichsten Vorsprunge der Atlasländer und an der Meerenge, sondern auch daraus, daß hier die Natur die Lage der Hauptstadt des ganzen östlichen Atlasgebietes, etwa in der Ausdehnung des heutigen Tunesien, vorgezeichnet hat. Hier mündet nämlich der Medscherda, nicht der größte, aber jedenfalls einer der wasserreichsten Flüsse des Atlasgebietes, dessen ausgedehntes, wohlbewässertes und außerordentlich frucht- bares Gebiet, einst die Kornkammer Roms, die einzige größere geographische Einheit im östlichen Atlasgebiet bildet. Die Haupt- stadt des Medscherdagebiets muß am Meere liegen, sie verfügt über seine Hilfsquellen und erlangt daher bald in ähnlicher Weise das Übergewicht über die östliche Abdachung Tunesiens wie etwa Paris, der Mittelpunkt des einheitlichsten und geschlossen- sten der Flußbecken Frankreichs über die übrigen, um so mehr als an der ganzen Ostküste sich kein einziger Naturhafen findet und im Altertum daher Schiffahrt erst künstlich an diese Küste verpflanzt werden mußte. Noch allenthalben findet man die Spuren der Hafenbecken, welche hier zuerst von den Karthagern gegraben wurden. Nur derjenige Küstenplatz vermochte in mo- derner Zeit eine gewisse Bedeutung zu erlangen, der bei Pro- duktenreichtum der Umgebung den Schiffen einige Sicherheit gewährt, Sfaks nämlich mit seiner durch die vorliegenden Kar- kenahinseln etwas geschützten Rhede. Hier in Tunesien hat also die Natur in ähnlicher Weise einen Punkt des Landes bevorzugt wie in Tripolitanien, der Besitz der Medscherdamündung und des Golfs bedeutet den von Tunesien. Eine Naturkraft, eben der Medscherda, ist es aber auch, welche die beständige Ver- schiebung der Hauptstadt von Utika bis Tunis verursacht hat. Der Medscherda ist ein mächtiger Deltabauer, er arbeitet rüstig an der Zuschüttung des Golfes, mehrere Inseln hat er schon landfest gemacht. Buchten und Landseen geschaffen, die er aber ebenso sicher nach und nach in Land verwandelt. Kein Hafen im Bereiche seiner Anschwemmungen, so sehr dieselben Grabung — 289 — künstlicher Hafenbecken erleichtern, ist vor Verlandung geschützt. So wurde das alte Utika auf einer felsigen Küsteninsel gegründet, welche jetzt trümmerbedeckt 11 km vom Meere liegt; auch die Stätte von Karthago lag ursprünglich auf einer solchen nur etwas größern und höhern Küsteninsel, die aber wohl schon bei Grün- dung der Stadt zur Halbinsel geworden war und seitdem immer mehr verlandet ist. Nördlich und südlich lagern ihr noch flache Seen an, abgeschnittene Meeresteile, welche der Verlandung rasch entgegengehen. Der See von Tunis wird immer seichter und sperrt die Stadt immer mehr vom Meere ab, statt sie mit dem- selben, wie es einst der Fall war, zu verbinden. Am besten können wir die Verlandung eines solchen ehemaligen erst durch den Fluß gebildeten Küstenhaffs am nördlichen Eingange des Golfs verfolgen. Dort finden wir das Haff von Porto Farina, welches noch zu Anfang das ig. Jahrhunderts einen trefflichen Hafen, ja den Hauptkriegshafen des Bey bildete, noch liegen alte Galeeren im Schlamme vergraben da, seitdem aber hat der Medscherda seine Mündung etwas verschoben und sendet bei Hochwasser einzelne Arme in die Bucht, deren Grund sich da- durch in kurzer Zeit um 10 Meter erhöht hat, so daß sich jetzt nur noch i — lYg Meter Wasser findet, Porto Farina bald das Schicksal von Utika teilen, im Binnenlande liegen und der Pflug über die Stätte gehen wird, wo vor i — 2 Jahrhunderten die größten Kriegsschiffe ankerten. Diese gefährliche Nachbarschaft des Medscherda, welcher selbst Tunis und Goletta noch nicht völlig entrückt sind, wird unzweifelhaft in nicht femer Zeit den Schwerpunkt von ganz Tunesien an den Außenrand des Golfes rücken, nach Biserta. Die Lage dieses in neuester Zeit viel ge- nannten Ortes ist in der Tat eine ungewöhnlich günstige. Es Liegt Biserta zur Medscherdamündung genau so wie Alexandria und Marseille zu denen des Nil und des Rhone, es ist mit der Mündung und dem Tale des Flusses auf ebenem Wege ver- bunden, ohne von ihm gefährdet zu sein; es liegt so günstig zur Meerenge wie Tunis oder Karthago und hat einen der herrlich- sten Naturhäfen, der noch überdies sehr leicht zu verteidigen ist. Biserta liegt nämlich an einer flachen gegen Westwinde durch i) Daß Tunis jetzt durch einen Kanal wieder zum Seehafen gemacht ist, möge hier nur erwähnt werden. Fischer, Mittelmeerbilder. I9 — 290 — das vorspringende Weiße Vorgebirge, das gewöhnlich, wenn auch nicht ganz mit Recht als Nordspitze von Afrika bezeichnet wird, geschützten Bucht am Eingange eines engen Kanals, welcher in einen geräumigen und meist 10 — 12 Meter tiefen See führt, der zu einem vorzüglichen Hafen geschaffen ist und auch im Mittelalter und Altertum, wo Biserta (Arab. Bensart, durch Ver- derbung aus dem alten Namen) als Hippo Zarytos eine be- deutende Seestadt war, als solcher gedient hat. Allerdings hat der Kanal, von dem Schutt der Jahrtausende gefüllt, jetzt nur 2 — 3 Meter Tiefe und vor seiner Mündung findet man teilweise den Grund schon bei 2 Meter, aber er würde ohne große Mühe und Kosten gereinigt und damit der See wieder zugänglich ge- macht werden. Gewiß werden die Franzosen über kurz oder lang diesen einzigen sichern, wie einst Tunis nicht unmittelbar vom Meere aus angreifbaren Hafen an der ganzen Küste der Atlasländer, das einzige den Verhältnissen der modernen Schiff- fahrt genügende Tor von Tunesien, wieder reinigen und be- festigen, sie werden dann von Biserta aus den Engländern in Malta die Spitze zu bieten vermögen.^) Auch die nähere Um- gebung der Stadt ist überaus fruchtbar, der schon genannte salzige See, wie ein zweiter flacher, der mit ihm in Verbindung steht, aber süß ist, sind wunderbar reich an Fischen, kurz es vereinigt sich alles, um Biserta in europäischen Händen zum festen Emporium der Meerenge zu machen. Biserta im Besitz der Franzosen, bedeutet daher seiner außerordentlichen strate- gischen und kommerziellen Wichtigkeit wegen eine beständige Bedrohung Maltas, Siziliens und Sardiniens, es kann Toulon und Marseille zu gleicher Zeit werden. Was Tunesien für Italien ist, zeigt uns am besten ein histo- rischer Rückblick auf die Beziehungen dieses Landes zu seinem ihm hier so nahe gerückten afrikanischen Gegengestade. Vom Ende des 2. Jahrtausend an sind die Phöniker in Sizilien wie in Afrika Herren der wichtigsten Küstenplätze und der Meerenge; später, als die Griechen nach Westen vordringen, wird der Besitz von Westsizilien für die Karthager eine Lebensfrage, Jahrhunderte hindurch wogt der Kampf über die Meerenge hinüber und her- i) Bekanntlich haben die Franzosen jetzt Biserta tatsächlich zu einem großen Kriegshafen ausgebaut. — 291 — über: es tritt damals zum ersten Male klar hervor, daß beide Ufer durch so wichtige Interessen miteinander verknüpft sind, daß eine starke Macht in Sizilien eine beständige Bedrohung Tunesiens, und umgekehrt eine starke Macht in Tunesien eine Bedrohung Siziliens ist. Friede herrscht nur, wenn auf der einen Seite der Meerenge Verfall eingetreten und der Einfluß des Gegengestades maßgebend ist oder beide, wie ein halbes Jahr- tausend hindurch in römischer Zeit, politisch geeinigt sind. Wir sehen, wie die sizilischen Griechen bald nach Afrika hinüber- greifen, bald die Karthager Syrakus bedrohen, bis die Römer nach langem, auch zum Teil auf afrikanischem Boden geführten Kampfe Herren Siziliens werden. Von Sizilien aus führen dann auch die Römer unter dem älteren Scipio den entscheidenden Streich gegen Karthago, nachdem Hannibal vergebens in Italien selbst dem furchtbaren Gegner den Untergang zu bereiten ge- sucht hat. Tunesien wird der erste und dauerndste Besitz Roms auf afrikanischem Boden. Kaum ist das Römische Reich in Trümmer geschlagen, so beginnt auch sofort das alte Spiel. Zu- nächst machen sich die Vandalen als Herren von Karthago auch zu Herren Siziliens, bald aber vernichten die wieder erstarkten Oströmer als Herren von Sizilien die indessen gesunkene vanda- lische Macht in Tunesien. Sobald die Araber sich in Nord- afrika befestigt haben, erobern sie auch Sizilien und bedrohen Unteritalien, und umgekehrt als hier im jugendlichen normanni- schen Staate alle Kraft in einer Hand vereinigt, drüben jedoch Verfall und Zersplitterung eingetreten ist, sehen wir auch sofort namentlich unter Roger II. in Tunesien wieder das Ziel Agatho- kleischer Züge, an welchen sich auch schon die eben empor- kommenden großen Handelsrepubliken Pisa und Genua beteiligen, denen sehr bald der ganze Handel an der ganzen Küste der Atlasländer anheimfällt. Schon im Jahre 1087 eroberte eine ita- lienische Flotte von 400 Schiffen mit 30 000 Mann am Bord Mehedia. Das Übergewicht der Italiener zur See und die Zer- splitterung des Atlasgebiets in zahlreiche kleine Staaten, die einander sogar mit Hilfe italienischer Condottieri bekämpften, verschaffte denselben großen, ihrem Handel zugute kommenden Einfluß. Schon 1 3 1 7 erhielten die Venetianer vom Herrscher von Tunis vertragsmäßig die Erlaubnis, durch sein ganzes Gebiet mit Karawanen Handel zu treiben und den Schutz der Behörden 19* — 292 — in Anspruch zu nehmen. Schon im 14. Jahrhundert müssen Italiener bis Timbuktu vorgedrungen sein. Weiter westwärts be- trieben Italiener mindestens seit dem 12. Jahrhundert die noch heute blühenden Korallenfischereien bei Tabarka und La Calle und war Bougie, das im 13. Jahrhundert an Tunis gefallen war, eine der bedeutendsten Handelsstädte Nordafrikas; Geiserich hatte es erst zu seiner Hauptstadt gewählt, im 10. Jahrhundert war es als Hauptstadt eines selbständigen Reiches noch mehr empor- geblüht und zugleich ein Hauptsitz arabischer Gelehrsamkeit, eine Stadt, die in ihren Mauern nach Edrisi (im 12. Jahrh.) 20000 Häuser umschloß. Hier hatten zuerst die Pisaner, dann Genueser und Venetianer ihre Handelsfaktoreien, die bald auch ins Innere nach Konstantine und Tlemsen vorrückten, bis wohin die Kara- wanen der Wüstenstämme zu kommen pflegten. Auch Tenes war viel von den Italienern besucht. Der wichtigste Punkt für den Handel der Italiener scheint aber weiter im Westen Genta gewesen zu sein, im ganzen Mittelalter nicht nur das Emporium der Meerenge, sondern auch Haupthandelsstadt von ganz Marokko und Endpunkt der Wüstenstraßen, ja wohl eine der bedeutend- sten Welthandelsstädte des Mittelalters. Hier ist Handel der Pisaner und Genueser schon im Jahre 11 6g urkundlich bezeugt und für Ceuta wurde im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts die sog. Maona, die älteste Handelsgesellschaft, gegründet. Die Genueser bewohnten dort einen eigenen Stadtteil und fühlten sich so stark, daß sie 1235 versuchten, sich der Stadt ganz zu be- mächtigen. Als dies mißlang, belagerten sie dieselbe mit einer Flotte von 100 Schiffen und erzwangen wenigstens Ersatz des erlittenen Schadens. Schon im 12. Jahrhundert drangen von Ceuta aus genuesische Kaufleute bis in die Handelsplätze der nördlichen Sahara vor. Diese Bedeutung der Stadt ging aber mit einem Schlage verloren, als sich die Portugiesen derselben 14 15 bemächtigten, der Handel verschwand und Ceuta ist bis auf den heutigen Tag ganz wie Tanger, solange es in den Hän- den der Engländer war, kaum mehr als eine Festung in perma- nentem Belagerungszustand. Im übrigen Nordafrika trat ein Um- schwung dieser nur vorübergehend durch Krieg gestörten Be- ziehungen erst ein seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, als gleichzeitig mit dem beginnenden Niedergang des italienischen Seehandels und der Vereinigung eines großen Teils von Italien — 293 — mit Spanien zu einer Monarchie, der Vemichtungskampf gegen die spanischen Mohammedaner zu einem großartigen Aufschwünge des Seeräuberwesens an der ganzen Küste von Nordafrika, von Tripolis bis Sla in Marokko führte. Von jener Zeit an hat fast ununterbrochener Kriegszustand zwischen Südeuropa und seinen nordafrikanischen Gegengestaden geherrscht, der friedliche Handel an diesen Küsten erlosch fast völlig. Die Barbaresken waren meist den Christen überlegen und unsagbar sind die Leiden, welche fast drei Jahrhunderte hindurch ganz Unteritalien zu er- tragen gehabt hat. Unter den beständigen Überfällen der See- räuber verödeten die Küsten Siziliens, Calabriens und Sardiniens völlig, nur die größeren Seestädte vermochten sich zu schützen, die Bevölkerung wurde ins Innere auf die Bergspitzen zurück- gedrängt, die Verbindung mit der übrigen Welt gestört und ein furchtbarer, noch heute fühlbarer Rückgang der Kultur dadurch wesentlich mit herbeigeführt. Wiederholt sind ganze Inseln, wie die Liparischen, ausgeplündert und ihre sämtlichen Bewohner in die Sklaverei geschleppt worden. Noch heute kann man in Sizilien alte Leute treffen, welche in ihrer Jugend als Sklaven in Tunis gelebt hatten, noch heute erinnern die malerischen alten Warttürme auf allen Vorgebirgen Süditaliens und Spaniens an jene furchtbare Zeit. Der Verfall der Barbareskenstaaten und die Verjüngung Italiens in unserm Jahrhundert hat sofort auch in Tunis den Einfluß Italiens ganz von selbst wieder zur Geltung gebracht, trotzdem keine italienische Regierung, lange Zeit auch, nicht die des geeinigten Königreichs etwas dafür, Frankreich aber alles dagegen tat. Die Einwanderung von Italienern nach Tu- nesien ist eine sehr bedeutende gewesen, mindestens gooo Köpfe zählt die italienische Kolonie in Tunis selbst^), Handel und Ver- kehr liegt zum großen Teil in den Händen der Italiener und bedient sich ihrer Sprache; der natürliche, in den geographischen Verhältnissen tief begründete Prozeß der Italianisierung wie einst der Romanisierung des in jeder Hinsicht heruntergekommenen Tunesien kann nur auf gewaltsamem Wege gestört werden. Italien hatte daher das größte Interesse die Zustände in Tunesien fort- dauern zu lassen wie sie waren und selbst von allgemein mensch- lichem und Kulturstandpunkte aus war das zu wünschen, da die l) 1904 schätzte man sie auf 130 ooo! - 294 — Franzosen in 50 Jahren den Beweis geliefert haben, daß sie nicht zu kolonisieren verstehen. Wohl aber haben die Italiener, die so viele arabisch-mohammedanische Elemente aufgesogen, die durch ihren nach einem Jahrtausend zählenden Verkehr mit den Völkern des Orients dem Wesen derselben weit weniger fern stehen wie die Franzosen, gezeigt, daß sie Orientalen sich an- zuähnlichen und damit auf eine höhere Kulturstufe zu heben ver- stehen. Nur ein gewaltsamer Eingriff, wie er jetzt stattgefunden hat, vermag den langsamen Italianisierungsprozeß Tunesiens auf- zuhalten. Um so mehr aber muß dies zu Reibungen mit Frank- reich führen. So viel geht jedenfalls aus diesen historisch-geo- graphischen Betrachtungen hervor, daß Tunesien im Besitze Frankreichs für dieses einen bedeutenden Schritt zur Beherrschung des Mittelmeeres, andererseits aber einen Eingriff in den von der Natur vorgezeichneten Wirtschafts- und Machtbereich, eine un- erträgliche Bedrohung Italiens bedeutet. Diese Bedrohung wird aber um so furchtbarer, wenn man die Gier der augenblicklichen Machthaber in Frankreich sich, wo immer es sei, auszudehnen und die gleichzeitige Bedrohung Italiens im Norden beachtet, wo der Verlust des italienischen Nizza noch lange nicht ver- schmerzt ist. Die Geschichte dreier Jahrtausende lehrt, daß zwei starke, aufstrebende Mächte, die an der Straße von Pantelleria aneinander stoßen, auf die Dauer unmöglich friedlich neben- einander existieren können, die gesamte Politik des Schwächeren von beiden muß sich, wenn er die Naturgesetze und die Lehren der Geschichte nur ein wenig versteht, von da an um den einen Punkt drehen, dem alle andern untergeordnet werden müssen: wie schütze ich Sizilien und Sardinien?^) Etwas anderer Art sind die Rolle und die Beziehungen Algeriens und Marokkos ihren europäischen Gegengestaden gegen- über. Die Küstenbeschaffenheit beider ist dafür in erster Linie bestimmend. Sobald man, von Osten kommend, das Weiße Vorgebirge umfahren hat, ändert sich der Charakter der Küste völlig. Bis zur Meerenge von Gibraltar haben wir eine aus- gezeichnete Steilküste vor uns, die auf der einen Seite zu großen l) Bekanntlich vollzog sich bald nach Abfassung dieser Betrachtungen der Anschluß Italiens an die mitteleuropäischen Mächte. Die Schaffung und Dauer des Dreibunds hat ihre Wurzeln in Tunesien. — 295 — Meerestiefen hinabsinkt — 5 bis lo km vom Strande findet man meist schon looo m Tiefe und mehr — auf der anderen zu den bedeutenden Höhen des Küstengebirges emporsteigt. Auf weite Strecken ist diese Küste geschlossen, wie z. B. zwischen Bougie und Algier, und dunkle Felsenriffe, an denen sich die Wellen schäumend brechen, machen sie fast unzugänglich, nur selten sieht man hier und da im Vorüberfahren an einem der meist kahlen Berghänge oder in einem der engen Täler Rauch auf- steigen, der das Vorhandensein von Bewohnern verrät, noch seltener erblickt man einen kleinen Ort am Strande. Um so größere Bedeutung erlangen einige tiefer eindringende, durch Durchbrechung der äußeren Küstenkette entstandene Buchten, wie die von Bona, von Philippeville, von Bougie, Algier, Arzeu und Oran, die alle genau dieselbe Form wiederholen und wohl gleicher Entstehung sind. Alle sind nahezu halbkreisförmig, haben flache von Dünen umsäumte Küsten, hinter welchen kleine, oft sumpfige, zuweilen auch noch teilweise von Seen bedeckte frucht- bare Ebenen liegen, durch welche ein zum Meer eilender Fluß eine natürliche Straße ins Innere geschaffen hat, während ein am westlichen Eingange der Bucht vorspringendes Kap eine geschützte Stelle für eine Stadtanlage gewährt. Die Bedingungen für die Entwicklung solch einer Seestadt sind somit überall die gleichen: die fruchtbare Ebene, etwas Schutz gegen Winde, Verbindung mit dem Innern; die Größe und Bedeutung der immer genau an gleicher Stelle liegenden Stadt entspricht genau dem Maße der von jenen drei Faktoren gewährten Begünstigung, politische Ver- hältnisse vermögen nur vorübergehend dem einen oder dem anderen (im Altertum Julia Cäsarea [Scherschel] und Hippo Regius [Bone], im Mittelalter Bone und Bougie, in der Neuzeit Algier), etwas größere Wichtigkeit zu verleihen; wie uns aber die Gegenwart zeigt, ist selbst eine zentralisierende Verwaltung wie die französische nicht imstande, Algier wesentlich vor Bone und Oran zu erheben. Algier und Oran stehen der Bevölkerung nach noch nahezu gleich, ja der Handel von Oran ist bedeutender als der von Algier. Die Nähe des spanischen Gegengestades und der gänzliche Mangel an Häfen weiter westwärts, zum Teil auch die ausgedehntere und namentlich von zahlreichen spanischen Kolonisten besetzte Ebene ermöglicht Oran diesen erfolgreichen Wettbewerb. Lassen diese Buchten somit die Küste Afrikas hier — 296 — günstiger gestaltet erscheinen als irgendwo, so ist sie doch eben- falls den hier das ganze Jahr wehenden Nord-, Nordost- und Nordwestwinden ausgesetzt, sie bietet nirgends größern Schiffen hinreichende Sicherheit. Wunderbar ist es daher, daß die Fran- zosen die Herstellung künstlicher Häfen nicht sofort nach der Besitzergreifung energisch in Angriff genommen haben. Tatsäch- lich ist dies aber nicht geschehen. Erst 1843 wurden darauf bezügliche Vorstudien gemacht und dann Hafenbauten, freilich in ungenügender und oft verfehlter Weise, wie noch neuerdings der beste Kenner der ganzen Küste, Admiral Mouchez, gezeigt hat, vorgenommen. Der einzige freilich kleine Hafen von Algier, der allein die Summe von 60 Mill. Fr. verschlungen hat, dürfte allen Anforderungen genügen. Hier hat also die Natur ihre Gunst mehreren Punkten fast gleichmäßig gewährt, kein Punkt der Küste ist ähnlich wie in Tunesien, Tripolitanien und Barka mit dem ganzen Lande gleichbedeutend, ja es haben sogar im Innern Städte wie Constantine und Tlemsen stets eine gewisse Bedeutung behauptet. Hier war es daher schwierig, das ganze Land in einer Hand zusammenzufassen, wie es tatsächlich selten und nie auf die Dauer in der Ausdehnung des heutigen Algerien zusammengefaßt gewesen ist. Fast alle die genannten Städte haben nacheinander die erste Rolle gespielt, Algier war bis in neueste Zeit die unbedeutendste, erst unter türkischer Herrschaft seit dem 16. Jahrhundert verdankt sie dem Umstand das Über- gewicht, das sie seitdem behauptet hat, daß dort dicht vor dem Strande vier kleine Felseninseln lagen, welche der berüchtigte Seeräuber Cheir-ed-Din 1529 durch 20000 Christensklaven durch einen Damm untereinander und mit dem Lande verbinden ließ. Dadurch war ein freilich bei Nordstürmen noch zuweilen über- fluteter Hafen geschaffen und die Stadt selbst hat ihren Namen (El Dschezair, die Inseln) davon erhalten. Diese eigentümliche Küstenbeschaffenheit, der Mangel an Häfen neben zahlreichen, leidlich sicheren Schlupfwinkeln für kleinere Schiffe, die Gefahren, welche in jedem Augenblicke dem mit dieser Küste, ihrem Wind und Wetter nicht völlig vertrauten Schiffer drohten, sind es nun vorzugsweise gewesen, welche das Aufkommen und die lange Dauer des Seeräuberwesens ermöglicht haben. Den ersten An- stoß dazu gab der alte Haß zwischen Christen und Mohammeda- nern, der durch die Verjagung der spanischen Mauren neue — 297 — Nahrung erhielt. Wir wissen, daß diese verzweifelten Flüchtlinge sich vorzugsweise in den Seestädten niederließen und von dort aus den unversöhnlichen Kampf gegen ihre Feinde fortsetzten. Dazu kam aber gleichzeitig die Ausbreitung der türkischen Herr- schaft, welche dem legitimen Handel ein Ende machte. So wur- den Tripohs, Tunis und all die Städte der algerischen Küste bis Sla und Rabat in Marokko gefürchtete Seeräubernester, um deren Bekämpfung sich namentlich im i6. Jahrhundert die medi- terrane PoUtik der westlichen Mittelmeerstaaten Europas fast allein drehte. Namentlich die spanische Monarchie nahm diesen Kampf unter Kardinal Ximenes und Karl V. mit Eifer auf, führte ihn aber unglücklich. Wohl wurde Tripolis 1510 von den Spaniern erobert und bis 1551 von den Maltesern behauptet, wohl gelang auch der Angriff Karls V. auf Tunis 1535, aber der auf Algier scheiterte 1541, auch Bougie, das von 15 10 — 1555 in den Hän- den der Spanier war, ging wieder verloren, ebenso Bone, und nur Oran mit Mers-el-kebir blieb von 1509 — 1790 mit kurzer Unterbrechung spanisch uud trägt noch heute, da ^3 der dor- tigen Europäer Spanier sind, wesentlich spanischen Charakter. Alle späteren Versuche von Spaniern, Franzosen und Engländern, die Seeräuberei hier auszurotten, waren erfolglos, meist weil, wie 1547, 161 7 und 1682 und bei andern Gelegenheiten und schon 151 5 und 1531 vor Algier, Stürme die Flotte an den schutz- losen Strand warfen oder das hohe Meer zu gewinnen und eine Belagerung aufzuheben zwangen. Jeder neue Mißerfolg der Christen gab dem Seeräuberwesen einen neuen Aufschwung, das zur wohlgeordneten Staatseinrichtung wurde. Noch in den letzten Jahrzehnten haben die Franzosen die Gefahren dieser Küste er- proben können, indem wiederholt Nordoststürme in den von ihnen für völlig sicher gehaltenen Buchten, der von Stora z. B., ganze Flotten von Handelsschiffen und selbst Kriegsschiffe zerstört haben. Auch wäre die Besetzung oder Zerstörung sämtlicher Küstenplätze nötig gewesen, welche die Natur so für das Piratenhandwerk aus- gestattet zu haben scheint. Erst durch die Eroberung von Algier ist demselben ein Ende gemacht worden, da fast gleichzeitig 1829 eine österreichische Flotte unter Bandiera die marokka- nische Seeräuberflotte in der Mündung des Whed el Khos bei El Araisch vernichtete. Nur an der marokkanischen Mittelmeer- küste, dem Rif, einer außerordentlich steilen, an kleinen Schlupf- — 298 — winkeln überreichen, zu Lande wie zur See schwer zugänglichen Landschaft, welche die Spanier auch durch die zahlreichen Posten, welche sie längs derselben seit vier Jahrhunderten besetzt halten, nicht im Zaume zu halten vermocht haben, hat sich das an der großen Straße von Gibraltar so lohnende Handwerk bis in die neueste Zeit erhalten, noch 1856 wurde dort die preußische Kor- vette Danzig von Seeräubern überfallen. Von einem innerafrika- nischen Handel der Seestädte der Atlasländer zwischen TripoHs im Osten und Mogador im Westen ist jetzt längst keine Rede mehr, die französische Besitzergreifung von Algerien hat die letzten Reste, welche die Türken noch gelassen hatten, ausgetilgt. Auf dem Geographenkongresse zu Paris 1875 konnte die Tat- sache konstatiert werden, daß es jetzt in Algier kein einziges Handelshaus gebe, auch kein mohammedanisches, ja daß es nicht einmal einen Mohammedaner in der algerischen Sahara gebe, welcher in direkten Handelsbeziehungen zu den Negerländern stehe. Die Wiederanknüpfung direkter Beziehungen dürfte jetzt schwieriger sein als je. Die Bedeutung der Atlasländer, von Marokko abgesehen, beruht daher jetzt nur auf den eigenen Hilfsquellen. Fassen wir diese Betrachtungen zusammen, so sehen wir, daß Algerien vermöge seiner Küstenbeschaffenheit, der aber auch das Innere entspricht, in sehr geringem Maße eine geographische Einheit bildet, viel schwieriger zu erobern und einheitlich zu be- herrschen ist, als alle andern Gestadeländer Nordafrikas. Vor allen Dingen ist es auch nur teilweise das natürliche Gegen- gestade Südfrankreichs, wie^ sich dies auch darin deutlich aus- prägt, daß in der Provinz Constantine die italienische, in Oran die spanische Bevölkerung vor der französischen überwiegt. Durch die auch aus dem Innern schwer zugängliche Rifif- küste, an welcher sich daher bis auf den heutigen Tag die Berber am reinsten gehalten haben, ist Marokko vom Mittelmeer abgesperrt, es wendet dem Ozean seine Stirnseite zu und reicht nur mit der einen Flanke an die Straße von Gibraltar. Die Ozeanküste ist so gut wie hafenlos, selbst das wichtige Mogador, wo durch eine Küsteninsel ein Hafen gebildet wird, kann im Winter oft längere Zeit von keinem Schiffe augelaufen werden und die sämtlichen europäischen Handelshäuser, welche in all den Küstenplätzen bestehen, sind dann auf den Postboten an- — 299 — gewiesen, der von Mogador ausgehend, alle Plätze berührt und in Tanger endUch regelmäßige Post- und Telegraphenverbindung erreicht. Um so wichtiger wird dieser Punkt, um so mehr tritt seine Eigenschaft als Haupteingangstor von Marokko herv^or. Hier an der Meerenge wiederholen sich die Verhältnisse der Straße von Pantelleria, auch hier beeinflussen sich die beiden Gestade aufs lebhafteste, auch hier hat bald westgotische, portugisische, spanische Macht nach Marokko hinübergereicht, bald auch, wenn auch seltener, marokkanische nach Spanien. Die günstigere Küstenbeschaftenheit, welcher an der Küste von Südspanien zahl- reiche leicht mit dem Hinterlande verkehrende Häfen ihr Dasein verdanken, das nahe der Meerenge sich öffnende weite Becken des Guadalquivir verleiht hier Spanien das Übergewicht, Marokko reicht nur bei Tanger an die Meerenge, die Küste östlich davon ist vom Innern abgeschlossen. Marokko wird daher immer leichter dem Einflüsse einer starken Macht in Spanien unterliegen, als umgekehrt. Tatsächlich zogen auch die Römer Mauritania Tin- gitana fast immer zum Verwaltungsgebiet des südwestlichen Spa- nien und die Portugiesen nannten dasselbe Gebiet, dessen sie sich seit der Eroberung von Ceuta im Jahre 141 5 teilweise und zeitweise bemächtigten — Mazagan verloren sie erst 1769 — Algarve jenseit des Meeres. Marokko steht zu Lande mit den übrigen Atlasländem jetzt nur in sehr loser Verbindung, hohe, von niemals unterworfen gewesenen freiheitsliebenden und kriege- rischen Berberstämmen bewohnte, schwer zugängliche Gebirge, dahinter die Steppen des Mulujagebiets trennen es völlig von Algerien, die Gefahr, daß auch dieses Land Frankreich anheim- fallen und von dort aus Spanien bedroht werden könne, ist vor- läufig eine sehr entfernte, so sehr wir ja den Franzosen, die in einem halben Jahrhundert weder die Eingeborenen Algeriens definitiv zu unterwerfen, noch sich irgend einen Kraftzuwachs in Algerien zu erwerben verstanden haben, die Berberstämme des Hohen Atlas gönnen würden. Eine gewaltsame Eroberung Ma- rokkos von Osten her zu Lande hat wohl nur einmal in der Geschichte, durch die Araber, stattgefunden, und auch da tritt sehr früh wieder politische Absonderung ein. Weit eher aber haben sich wiederholt mohammedanisch-marokkanische Herrscher eines Teiles von Algerien bis Bougie im Osten bemächtigt. Die noch heute bestehende merkwürdige Abschließung des Landes. — 300 — dicht an den Toren von Europa, ist somit in seinen geographi- schen Verhältnissen, namentlich in der schwierigen Zugänglichkeit sowohl seiner Küsten wie seiner Landgrenzen wohl begründet. Marokko könnte daher weit leichter Spanien — wenn das eben nicht Spanien wäre! — zufallen als Frankreich, auch hat sich Spanien seit der portugiesischen Eroberung in Ceuta zu behaupten vermocht, das freilich an Wichtigkeit dem Spanien viel mehr be- drohenden und schädigenden Gibraltar weit nachsteht. Von welcher weit größern Bedeutung Gibraltar als Tanger ist, das prägt sich am besten in der Tatsache aus, daß die Engländer diesen Punkt, der ihnen als Mitgift einer portugiesischen Prinzessin zugefallen war, den sie stark befestigt und durch einen Molo mit einer Art Hafen, den Tanger jetzt schmerzlich entbehrt — die Landung von Reisenden geht dort auf den Schultern von Trägern vor sich, die der Waren dementsprechend — versehen hatten, 1684 freiwillig aufgaben, um sich zwei Jahrzehnte später Gibral- tars zu bemächtigen. So viel dürfte aus diesen Betrachtungen erhellen, daß von der zentralen Stellung der Franzosen in Algerien, die dem Mutter- lande sehr bedeutende Opfer gekostet hat und noch lange keinen Gewinn verheißt, ein Vordringen nach Marokko sehr schwierig und wenig erfolgverheißend und selbst im Falle des Gelingens, die Bedrohung Spaniens und Gibraltars wie des gesamten Mittel- meerhandels durch eine Festsetzung der Franzosen an der Meer- enge von Gibraltar eine verhältnismäßig geringe sein würde, wäh- rend nach Osten der Anschluß von Tunesien weit leichter ist, der Besitz des Landes durch Festsetzung in der Nähe der Med- scherdamündung leicht behauptet und von dort aus nicht nur Italien wirksam im Schach gehalten werden kann, sondern die Beherrschung des Eingangs ins östliche Mittelmeerbecken der französischen Flotte ebenso leicht ist, wie der englischen von Malta aus. Die Aussichten, welche sich den französischen Macht- habern von der neu errungenen Stellung aus eröffnen, sind nach erdkundlichen und historischen Gesetzen weite, glänzende und wohlbegründete, sie bezeichnen auch nur eine Etappe auf dem Wege nach noch größeren Zielen. Es fragt sich nur, wenn wir von England absehen, ob die geringe Meinung, welche die Herren in Paris nach den Zumutungen, die sie an sie stellen, von der italienischen Nation haben müssen, wirklich die richtige ist. Da- — 30I — von wird es abhängen, ob die Meerenge von Pantelleria zu einem zweiten Bosporus, zu einem zweiten Angelpunkte der europäischen Politik wird. 2. Zwischen Tebessa und Gabes. Reiseskizzen aus Südtunesien. 0 Nordafrika spielt in der Weltpolitik seit einer Reihe von Jahren eine hervorragende Rolle, mehr als je tritt die Wichtigkeit dieser Länder sowohl an und für sich wie wegen ihrer Lage zu den europäischen Staaten und zu den großen Straßen des Welt- verkehrs in den Vordergrund. Die inneren Zustände derselben, ihr tiefer wirtschaftUcher Niedergang trotz reicher natürlicher Ausstattung, die fortwährenden Unruhen, die sie noch mehr ver- öden, alles Folgen der überall hervortretenden, aufs engste mit der herrschenden Religionsform verbundenen Mißregierung, for- derten und fordern das Eingreifen der zunächst beteiligten euro- päischen Mächte, Englands, Frankreichs, Italiens und Spaniens, förmlich heraus, und so werden diese Länder für lange Zeit dunkle Wolken am politischen Horizont Europas bilden. Wie die Würfel zuerst, bezeichnenderweise, um das in dieser Hinsicht weniger wichtige Algerien vor mehr als einem halben Jahrhun- dert gefallen sind, so sind sie vor fünf Jahren um das wichtigere Tunesien gefallen, so rollen sie heute um Ägypten, das wich- tigste von allen, morgen vielleicht, um Tripolitanien, übermorgen um Marokko, das nur der Eifersucht Spaniens, Frankreichs und Englands die ungestörte Fortdauer unhaltbarer^ Europa zur Schande gereichender Zustände verdankt. Daß über die Geschicke Tunesiens endgültig entschieden ist und bei nächster Gelegen- heit die Schutzherrschaft in völlige Einverleibung in Frankreich verwandelt werden wird, kann für niemand zweifelhaft sein, am wenigsten, wenn man die Franzosen im Lande selbst gesehen hat. Wir werden später ausführen, daß dies dem Lande selbst und seinen Bewohnern, was immer die Entwickelung Algeriens auch lehren mag, nur zum Segen gereichen wird. Freilich be- zeichnet Tunesien im Besitz einer starken Macht und vollends Frankreichs furchtbare Bedrohung Italiens, wie die Geschichte i) Erschienen in der Köln. Zeitung 1886. — 302 — von mehr als zwei Jahrtausenden, von unwandelbaren geogra- phischen Gesetzen beeinflußt, lehrt: diese Bedrohung wird eine dauernde werden. Aber Frankreichs Pläne — auch darüber ge- winnt man an Ort vind Stelle überraschende Einblicke — gehen bekanntlich weiter, es strebt auch nach dem Besitz von Tripoli- tanien und Barka, um zu Lande um das so heiß umstrittene Ägypten heranzukommen, von den inner- und westafrikanischen Phantasien zu schweigen.^) Demgegenüber scheint aber auch ItaUen entschlossen zu sein, um keinen Preis sich, nachdem einmal Tunesien verloren ist, auch noch Tripolitanien entgehen zu lassen, um wenigstens hier in den Besitz eines Gegengestades, eines Zieles für seine Auswanderer und des Schlüssels zur Handelsstraße nach Innerafrika zu gelangen. So stehen sich beide Mächte lauernd gegenüber, und die Türkei beachtet jede Bewegung derselben mit äußerstem, nur zu wohl begründetem Mißtrauen. Wie weit dasselbe geht, ließ ein an sich höchst harmloser Zwischenfall vom 29. März 1886 recht deulich erkennen. An diesem Tage lief nämhch ein sonst zum transatlantischen Dienste verwandter und darum weit größerer Dampfer der fran- zösischen, den Verkehr an der ganzen Küste von Algerien bis Tripolis vermittelnden Compagnie Transatiantique Tripolis an und bedurfte, eben seines größeren Tiefganges wegen, besonderer Bewegungen, um auf der wenig sicheren, seichten Reede vor Anker zu gehen. Dies und das ungewöhnlich große Schiff rief sofort bei dem türkischen Befehlshaber den Verdacht hervor, es handle sich um den Versuch, französische Truppen zu landen. Die Besatzung wurde unter Waffen gerufen, und nur mit Mühe gelang es, die wahre Sachlage aufzuklären. An Zündstoff fehlt es auch sonst nicht, zahlreiche tunesische Heerespflichtige haben sich, um der Einreihung in das ganz in Neubildung begriffene, eigentlich französische Heer zu entgehen, nach Tripolitanien ge- flüchtet — ich selbst habe Leute kennen gelernt, deren nächste Angehörige in dieser Lage sind — , und ganze Stämme sind aus Südtunesien auf tripolitanisches Gebiet übergetreten. Dieselben l) Es scheint, daß diese Pläne Frankreichs mit dem englisch-fran- zösischen Vertrage vom 8. April 1904 endgültig aufgegeben sind. Die irmer- und westafrikanischen Phantasien sind dafür inzwischen zum großen Teile "Wirklichkeit geworden. — 303 — werden über kurz oder lang durch die Not, den Mangel an Weideplätzen gedrängt, trotzdem die Türken die ganze Grenze sorgsam bewachen und jeden Zwischenfall hintanzuhalten suchen, zur Rückkehr gezwungen sein, kurz, Frankreich hat dort jeden Augenblick seine Krumirs zur Verfügung. ^) Doch scheint es nach der tatsächlichen Venninderung seiner Truppen in Tunesien auch im Süden zunächst noch keine Verwendung für dieselben zu haben. Wenn daher französische Zeitungen in Tunis vor nicht langer Zeit von förmlichen Kämpfen zwischen den tune- sischen Truppen und diesen Stämmen meldeten und sogar von vierzig in denselben Gefallenen sprachen, so war das offenbar aus Parteileidenschaft einfach erlogen, denn ich durchreiste ge- rade jene Gegenden in der Zeit, wo dort diese Kämpfe statt- gefunden haben sollten. Auch von einer steigenden Erbitterung gegen die Franzosen habe ich nichts bemerkt, trotzdem ich wiederholt Gelegenheit hatte, meine deutsche Nationalität zu be- kennen. Ich bin im Grunde nur zweimal Leuten begegnet, welche von wirklichem Haß gegen die neuen Herren erfüllt waren, in Algerien begegnet man solchen viel öfter. ^) Überhaupt ist jetzt von Fremden- und Christenhaß sehr wenig zu bemerken, selbst die Bezeichnung Giaur, die ich im Orient nicht gar selten zu hören bekam, statt der gewöhnlichen Er-Rumi, klang in Tu- nesien nur einmal an mein Ohr und konnte da wohl kaum bös gemeint sein, da ich von einer Frau an einem Brunnen der Oase El Gettar so genannt wurde, deren Töchterchen ich mit süßem Zwieback beschenkt hatte. Doch ist noch heute in ganz Tune- sien und in Tunis selbst das Betreten einer Moschee für den Fremden unmöglich, während ich in dem doch so selten von Fremden besuchten algerischen Tebessa von den Arabern selbst eingeladen wurde, die Moschee und das Grab eines großen Hei- ligen in derselben in Augenschein zu nehmen. Aus diesen Gesichtspunkten dürften vielleicht die nach- folgenden Skizzen, die sich vorzugsweise auf die auch von For- schungsreisenden sehr selten besuchten südlicheren Gegenden 1) Diese Übergangserscheinungen sind heute zum großen Teil ver- schwunden. 2) Das hat sich seitdem völlig geändert. Der Franzosenhaß der Tu- nesen steht dem der algerischen Mohammedaner kaum nach. — 304 — beziehen, nicht ganz unzeitgemäß sein.^) Es sind dies die Grenz- gebiete zwischen den südtunesischen Hochsteppen und der tune- sischen Sahara, die heute, von wenigen Oasen abgesehen, nur von den nomadischen Stämmen der Freschisch, der Madjer und Hammema bewohnt werden, von denen nur die ersteren auf den Hochebenen noch etwas Ackerbau betreiben. Ohne eigenes Zelt und Vorräte, überhaupt ohne vollständige Ausrüstung in diesen Gegenden zu reisen, wie ich leider, ist sehr anstrengend und entbehrungsreich, denn man ist dann darauf angewiesen, gelegentlich große Tagereisen auf schlechten Pferden und noch schlechteren Sätteln zu machen, nur um einen bewohnten Ort, ein Zeltlager oder wenigstens einen Brunnen zu erreichen. Auf der 68 km langen Strecke von Feriana nach Gafsa, die zum Teil durch höchst ermüdende Sandwüste führt, findet man z. B. nur die beiden Brunnen von Henchir Sidi Aisch, die aber brak- kiges, kaum trinkbares Wasser haben. Dort haben die Franzosen in kluger Berechnung nahe den Ruinen einer römischen Station, wohl Gemellae, einen Bordsch, einen befestigten Posten, errichtet, der bisher aber noch ohne Besatzung und überhaupt unbewohnt ist, aber in unruhigen Zeiten von größter Bedeutung werden muß, da dies in weitem Umkreise der einzige Brunnen ist, auf welchen die Nomaden zum Tränken ihrer Herden von Ziegen und Schafen angewiesen sind, so daß dieser Bordsch alle Stämme jener Gegend im Zaume zu halten vermag. Ähnlich findet man auf der 140 km langen Strecke von Gafsa bis Gabes, von der nur 20 km von Gafsa gelegenen Oase El Gettar abgesehen, nur drei Brunnen, von denen aber zwei, die von Zelludscha und Mehamla, nur 10 km voneinander in der Mitte zwischen Gafsa und Gabes liegen, der dritte, die Brunnengruppe von Fedschedsch, liegt nur 2^ km von der Oasengruppe von Gabes, nahe am Nordrande des östlichsten, gleichen Namen mit dem Brunnen tragenden Schott. Diese Brunnen, häufig noch Werke der Rö- mer, liegen ausnahmslos in völliger Wüste, kein Baum, kein Strauch, noch viel weniger ein Haus belebt dieselben und läßt sie von weitem erkennen, im Gegenteil, da hier jahraus jahrein aus weitem Umkreise die Herden zur Tränke zusammenströmen. i) Seitdem ist das Land durch die Phosphateisenbahn von Sfaks nach Gafsa aufgeschlossen worden. — 305 — ist gerade ihre Umgebung am allerwüstesten, oft, wie um den so überaus wichtigen Brunnen von Mehamla, völHge Sandwüste, denn die Herden fressen dort die etwa aufsprießenden Pflanzen bis zur Wurzel ab und zerstören selbst diese mit den Hufen, so daß der Boden beweglich wird. Meist bestehen diese Brunnen lediglich aus dem ausgemauerten kreisförmigen Brunnenschacht, dessen Rand nur wenig über den Boden erhöht ist, so daß man dieselben erst in geringer Entfernung erblickt, nicht selten steht im Winter, da sie häufig an der tiefsten Stelle eines Beckens liegen, die ganze Umgebung unter Wasser. Das lebhafteste Treiben entwickelt sich um diese Brunnen am Tage, namentlich mittags. Rastlos sind da Männer und Jünglinge beschäftigt, in Ziegenschläuchen an Seilen Wasser emporzuziehen und damit die neben den Brunnen häufig nur roh aus Feldsteinen gemauerten Tröge zu füllen; ohne Unterbrechung strömen die Herden von Durst gequälter, kläglich meckernder Ziegen und Schafe herbei, die Hirten, selbst durstig, haben Mühe, die Herden auseinander zu halten; Züge von Eseln mit leeren Schläuchen werden meist von lo- bis I2jährigen Knaben oder Mädchen, die nur mit einem leichten, vielfach zerfetzten blauen Kattunkleid, aber mit reichem Silberschmuck an den Armen und Füßen wie an den Ohren angetan sind, herbeigeführt, um die entfernten Zeltlager mit dem kostbaren Naß zu versehen; Karawanen mit schwer be- lasteten, bedächtig einherschreitenden Kamelen, denen hier, wie ähnlich in Kleinasien, stets als bequemere Reittiere und Führer einige der kleinen, aber klugen und erstaunlich leistungsfähigen Esel beigegeben sind, kommen an. Bald lodert zwischen roh zusammengetragenen Steinen abseits von den Brunnen ein von mitgeführtem oder in der Umgebung gesammeltem Gestrüpp unter- haltenes Feuer empor zur Bereitung der kärglichen Mahlzeit, im günstigsten Falle die beliebte aus Weizen- oder Gerstenmehl be- reitete Nationalspeise Kuskussu. Ringsum auf dem nackten Bo- den, auf den allenfalls auch ein Teppich gebreitet wird, hocken die Reisenden mit ihren Frauen und Kindern nieder zu dem vom Hunger gewürzten Mahle oder strecken sich wohl auch im Sande zu kurzer Rast hin, den Kopf vor den glühenden Strahlen der Sonne durch die Sommer und Winter getragenen, dem Klima und der Lebensweise trefflich angepaßten Wollengewänder ge- schützt : kurz ein bewegtes, überlautes — denn ohne möglichstes Fischer, Mittelmeerbilder. ~0 — 3o6 — Untereinanderschreien, so daß man meinen möchte, es würde jeden Augenblick zu Schlägereien kommen, geht es einmal nicht ab — Treiben entwickelt sich, wahrhaft biblische Szenen rollen sich vor dem europäischen Reisenden ab, der seinerseits mit allem, was er um und an sich hat, der Gegenstand der Bewunderung dieser armen Wüstenkinder ist. Noch vor Sonnenuntergang und dem Beginn der rasch hereinbrechenden Nacht verschwindet auch die letzte Herde vom Brunnen, das Schweigen der Wüste lagert sich über der soeben noch so belebten Stätte. Denn nur ausnahmsweise und nur größere Karawanen lagern in diesen Gegenden an den Brunnen, alle, aber namentlich kleinere, suchen stets der größeren Sicherheit wegen eine Oase zu erreichen. Aus demselben Grunde schlagen auch die Nomaden ihre Zelt- lager weiter ab von den Brunnen auf, womöglich in Vertiefungen versteckt. Denn die Sicherheit, die jetzt so ziemlich hier herrscht, ist wesentlich erst das Werk der Franzosen. Gasthäuser sind selbstverständlich auch in den Oasen nicht vorhanden, man ist auf die Gastfreundschaft der Landesbewohner angewiesen. Um ganz sicher zu sein, daß solche gewährt wird, ist es gut, sich Empfehlungsschreiben von der tunesischen Regierung an alle Ka'ids, Khalifas, Scheichs usw. zu verschaffen. Die frühere Ein- richtung, daß man einen Hamba (berittenen tunesischen Soldaten) beigegeben erhielt, der von den Einwohnern alles, was der Rei- sende bedurfte, und selbstverständlich recht viel daneben für sich selbst, zwangsweise und unentgeltlich (angeblich wurde das später von den Steuern abgelassen) aufnahm, ist glücklicherweise jetzt abgeschafft. Doch habe ich die Beobachtung gemacht, daß die Zeltaraber zuweilen dieses Empfehlungsschreiben gar nicht sehen wollten und aus eigenem Triebe nach besten Kräften Gastfreund- schaft, ein Abendessen und einen Platz in der Männerabteilung des Zeltes gewährten. Von Bezahlung konnte natürlich keine Rede sein, doch war es meist möglich, einem Knechte, der irgendwie sich nützlich gemacht hatte, ein Trinkgeld zu verab- reichen. Nachtruhe wird man freilich in einem solchen Zeltlager erst bei einiger Gewöhnung finden. Mir wenigstens verlief die erste Nacht, die ich so zubrachte, keineswegs in behaglicher Ruhe. Es war das im Gebiet des jetzt arabisierten Berbern- stammes der Freschisch, der nachweisbar seit 2000 Jahren dies Gebiet bewohnt, im Zelt des reichen Scheich Abbas, der mit — 307 — seinem Stamm damals im Hochbecken von Fussana, 800 m hoch, und an dem dort in seinem Quellgebiet dauernd Wasser führen- den Wed Hathob lagerte. Ich war am Morgen von Tebessa, der südöstlichsten Stadt Algeriens/) abgeritten, hatte im einem waldigen Engpasse von nahezu 1 000 m Höhe, dem Kränget INIuahad, die tunesische Grenze überschritten und langte nach zehnstündigem Ritt abends, nach- dem ich den Duar des Scheich Abbas suchend, lange in der Ebene des Fussanabeckens kreuz und quer geritten war und wiederholt den Fluß in seinem tief eingeschnittenen Bette auf halsbrechendem Pfade hatte überschreiten müssen, gegen 5 Uhr, eine Stunde vor Sonnenuntergang, dort an. Die Annäherung an ein solches Zeltlager ist immer mit Gefahren verbunden und mein Führer wich denselben daher stets, wenn eines am Wege lag, möglichst weit aus. Diese Duars sind nämlich stets von einer Schar höchst bissiger Hunde bewacht, bald schakalähnlicher Rasse, grau oder gelblich, bald Bestien von stattHchem Wuchs mit langem weißen Haar und namentlich prächtiger Löwenmähne. Unter wütendem Gebell stürzen dieselben dem Fremden entgegen und fallen die Pferde an, so daß diese scheu werden. Ich war wiederholt nahe daran, aus Notwehr auf die Bestien zu schießen, so wenig klug das gewesen wäre, und verabreichte ihnen bei sich bietender Gelegenheit mit besonderem Vergnügen, sehr wider meine sonstige Natur, kräftige Stockschläge, Meist stürzen frei- lich hinter den Hunden drein einige Araber hervor und treiben dieselben durch Steinwürfe zurück. Sich aber allein vor das Zeltlager zu begeben und in dasselbe zurückzukehren, ist immer eine unbehagliche Sache. Scheich Abbas, ein hoher, stattlicher Mann in mittleren Jah- ren, empfing mich freundhch und geleitete mich in die Männer- abteilung des großen, aber niedrigen Zeltes, wo mir ein Platz auf einem Teppich und zunächst zur Stillung des Durstes nach dem langen Ritt an heißem Tage — es war der 30. März und das beschattete Thermometer war mittags auf 25" C gestiegen — Ziegenmilch, bald nachher eine Tasse trefflichen arabischen Kaffees geboten wurde. Die verhältnismäßige Ruhe, die am Tage I) Heute ebenfalls wegen der reichen Phosphatlager in der Umgebung durch eine Eisenbahn leicht zugänglich. 20* — 30« — im Lager geherrscht hatte, war zu Ende mit der Heimkehr der Herden. Erst kamen die Rinder, deren Zahl gering war, denn schon hier sind dieselben entsprechend der dürftigen trockenen Pflanzennahrung ziemlich klein, in Oasen am Nordrande der Sahara wie in Gafsa werden nur wenige Rinder gehalten und diese werden kaum einen Meter hoch, im Innern der Wüste ist es kaum mehr möglich, Rinder zu halten. Blökend und meckernd zogen die Schafe und Ziegen, die nun gemolken wurden, in den schützenden Umkreis der Zelte, ihnen folgten die Esel und Pferde, zuletzt kamen die Kamele, langsamen Schrittes, weit ausgreifend ; das Anpflöcken ging nicht vor sich, ohne daß sie ihre scheuß- lichen Stimmen hören ließen, bald blökend, bald grunzend, bald heulend. Noch heute weicht, wie ich hier beobachten konnte, die Lebens- und Ernährungsweise dieser Nomaden, die zum großen Teil nicht wirkliche Araber, sondern nur arabisierte Nach- kommen der berberischen Numidier sind, nur wenig von der der alten Numidier ab, wie sie uns Sallust aus seiner eigenen, wäh- rend seiner Tätigkeit als Prätor in Cirta gesammelten Erfahrung schildert. Sie leben vorzugsweise von Milch und dem Fleisch ihrer Herden, besonders der Schafe, Getreide bauen sie nur ausnahmsweise, in besonders regenreichen Wintern, was sie an Brotstoff", den sie jedoch meist in der Form von Kuskussu oder höchstens dünner arabischer Fladen zu sich nehmen, brauchen, tauschen sie meist von den Bewohnern des Teil ein. Gemüse, Salat, Früchte u. dgl, die zur Ernährung der Städtebewohner in einer Weise beitragen, daß wir uns kaum eine Vorstellung da- von machen können, kennen sie selbstverständlich nicht. So- bald sich die Kunde von meiner Ankunft verbreitet hatte, kamen Besucher von den Nachbarduars in großer Zahl herbei, um den Rumi zu sehen, des Fragens war kein Ende, jeder Gegenstand meiner Ausrüstung wurde bewundert. Endlich erschien auch das Abendessen, eine gewaltige Blechschüssel mit scharfgepfeff"ertem Kuskussu und Hammelfleisch wurde auf eine Matte gesetzt, ein anderes Gefäß mit Wasser zum Waschen der Hände herum- gereicht und dann lud der Scheich mich und ein paar ange- sehenere Araber ein, ringsum niederzuhocken, indem er mir mit eigener Hand einige der besten Fleischstücke vorlegte. Messer, Gabel, Teller waren natürlich nicht vorhanden und das Zu- sammenballen des reichlich mit Milch übergossenen Kuskussu zu — 3^9 — kleinen Kugeln nicht ganz von der Größe eines Eies wollte mir nicht recht gelingen. Doch versagte mir mein Gastfreund die Ehre, mit eigener Hand den Kuskussu zusammenzuballen und mir in den Mund zu schieben. Nachdem wir gesättigt, wurde die noch reichlich gefüllte Schüssel den jüngeren Mitgliedern der Familie und den Knechten zugereicht. Das unerläßUche Rülpsen wurde von meinen Mitgästen mit großer Fertigkeit vollführt, wollte mir aber gar nicht gelingen, so daß ich nicht imstande war, dem Gastgeber, den Forderungen arabischer Wohlerzogen- heit entsprechend, auszudrücken, daß ich reichlich und gut ge- gessen habe. Dann erschien Kaffee. Bald darauf verabschie- deten sich die Gäste, der Hausherr zog sich in die Frauenabteilung des Zeltes zurück, in welcher nun auch der Webstuhl verstummte. Denn auch die Frauen der Zeltaraber weben Teppiche und an- dere Wollenstoffe. Es stand mir jetzt frei, mich zur Ruhe aus- zustrecken. Mein Kautschukmantel diente zur IsoHerung vom Boden, in meine große Wollendecke hüllte ich mich, mit dem großen Reisemantel deckte ich mich zu. Neben mir lag mein Führer und die übrigen männlichen Mitglieder des Haushalts. An Schlafen war trotz großer Müdigkeit lange nicht zu denken, denn wenn die Herdentiere mit Einbruch der Nacht auch stiller geworden waren, so riefen doch die zahlreichen Lämmer und Zicklein, die man zum Schutz gegen die Kälte in der Frauen- abteilung der Zelte untergebracht hatte, die ganze Nacht nach den Müttern, die ihrerseits antworteten, hier und da ließ ein Esel seine Stimme hören und das unerträgliche Gebell der Hunde verstummte die ganze Nacht hindurch keinen Augenblick. Nachdem ich endlich ein wenig eingeschlummert, erwachte ich bald wieder von Frost und Fieber geschüttelt, den Bart voll Wasser, da ich unter dem freilich vorn offenen Zelte es für un- nötig erachtet hatte, den Kopf zu verhüllen. An Schlaf war nicht mehr zu denken und mit Freude begrüßte ich das Grauen des Tages, das Thermometer stand im Zelt auf Null, dicker Nebel lagerte über dem ganzen Hochbecken! Am i. April unter 35 Grad n. Br. So hatte ich Gelegenheit, das Klima dieser Hochsteppen aus eigener Erfahrung kennen zu lernen. Einen Augenblick schwankte ich in der Befürchtung, von Malaria be- fallen zu sein, ob ich umkehren sollte, wo ich eine Tagereise entfernt einen französischen Arzt gefunden hätte, oder ob ich — 3IO — vorwärts gehen sollte, wo noch mehrere gleich anstrengende Tage- märsche meiner harrten. Ich entschloß mich zu letzterm. Nach- dem ich mir Milch gekocht und möglichst heiß getrunken hatte, stieg ich zu Pferde und trabte ohne Aufenthalt ^'^/^ Stunde lang bis zu der warmen Quelle von Ain el Hammam auf der Paßhöhe zwischen dem Hochbecken von Fussana und dem loo m tiefer gelegenen Becken von Kasserin (Colonia Scillitana), am Nord- fuße des Kreidekalkdoms des Dj. Chambi, 1544 m Höhe, des höchsten Berges von Tunesien. Dort wurde gerastet. Es war ein herrliches Plätzchen. Vortreffliches, wenn auch 30*' C war- mes Wasser sprudelte aus dem Felsen hervor und tränkte ein Oleanderdickicht, dem sich einige junge, den Kernen der von dort Rastenden verspeisten Datteln entsprungene Dattelpalmen zugesellt haben. Der Blick schweift weithin über das Becken von Kasserin, von wo der neu errichtete Bordsch, mitten in den Ruinen der alten Stadt, wie ein weißer Punkt herüberleuchtete. Sonst ringsum öde, pflanzenlose Felsen. Das Fieber war offen- bar nur eine vorübergehende Folge der Übermüdung gewesen und die Kälte hatte mir nicht einmal einen Schnupfen hinter- lassen. Zunächst galt es, den äußeren Menschen in dem warmen Quell zu säubern, was auf dieser Reise immer nur möglich war, wenn ich Wasser traf. So hielten es, wie ich mich oft über- zeugen konnte, auch die Eingeborenen. Dann wurde den von Tebessa mitgeführten Vorräten, so trocken sie waren, mit gutem Appetit zugesprochen. Dann wieder zu Pferde. Nach weiteren drei Stunden fand ich gastliche Aufnahme im Bordsch von Kas- serin bei dem reichen, fein gebildeten und überaus liebenswür- digen Kaid Sadok Ben Tlili. Dieser Bordsch war vor wenigen Jahren erst erbaut und so eben vom Kaid durch italienische Maurer, von denen noch ein einziger, der sich in seiner Verein- samung eifrig mit der Absintflasche tröstete, anwesend und mit dem frischen Kalkanstrich des ganzen Bauwerks beschäftigt war, vergrößert und ausgebessert worden. Als Herr v. Maltzan 1868 hier durchkam, bestand er noch nicht. Wie alle diese an wich- tigen Punkten der Karawanenstraßen Tunesiens errichteten Bau- werke, die man am besten als befestigte Karawanserais be- zeichnen kann, in Südtunesien meist auf 30 — 50 km in der Runde die einzigen festen Menschenwohnungen, besteht derselbe aus einem 3 — 4 m hohen, von außen nur durch ein Tor zu- — 311 — gänglichen Mauerviereck, an welches im Innern nur von dem so umschlossenen inneren Hofe durch Türen , die zugleich al Fenster dienen, zugängliche, den ganzen Hof umgebende eben- erdige Räume angebaut sind, die mit flachen Kuppeldächern ver- sehen teils zum Wohnen, teils für Vorräte usw. dienen. Doch findet man häufig einzelne Räume, die nur nach außen einen Eingang haben und mit dem inneren Hofe des Bordsch ohne Verbindung sind. Das äußere, meist unverschließbare Tor führt zunächst in eine Art Halle mit ringsum laufenden breiten ge- mauerten Bänken, auf welchen Matten oder Teppiche gebreitet werden. Erst durch ein beständig geschlossenes inneres Tor ge- langt man in das Innere des Bordsch, das nur den FamiUengliedem und sonst Näherstehenden zugänglich ist. Jene Vorhalle dient als Versammlungsort für die Männer der ganzen Umgebung und wird am Tage fast nie leer. Die Männer der nomadischen Araberstämme — in Algier gilt dies aber auch von den seßhaften Arabern, wenigstens außer- halb der Städte, mehr oder weniger aber auch von den Männern der ganzen mohammedanischen Welt — arbeiten ja sehr wenig, alle Arbeit, der Haushalt, das Weben der Kleidungsstoffe usw. fällt den Frauen zu, die bei den Zeltarabem kaum anders als als Lasttiere dienen und infolgedessen früh verblühen. Nur das Weiden der Herden, das sehr entbehrungsreich, aber nicht an- strengend ist, fällt Männern, aber meist den jüngeren Familien- gliedern oder Knechten zu. Die Mehrzahl der Männer ergibt sich jahraus jahrein mit vereinten Kräften dem Nichtstun, vom Morgen bis zum Abend sitzen sie in der Vorhalle eines Vor- nehmen, in oder vor dem Zelt oder der Hütte, im Kaifeehaus, wenn ein solches vorhanden ist, oder auch an einem beliebigen, je nach der Jahreszeit sonnigen oder schattigen Platze beisam- men, bald lebhaft plaudernd, bald stundenlang schweigend und höchstens Zigaretten rauchend. Ihre Leistungsfähigkeit in diesem untätigen Dahocken ist staunenswert, in Algerien größer als in Tunesien. Nach meinen Beobachtungen ist das Nichtstun der Männer im türkischen Orient, soviel darüber geschrieben worden ist, nicht entfernt mit der Vollkommenheit zu vergleichen, die der Westen in dieser Kunst erreicht hat. Ich habe Beispiele beobachtet, wo eine Gruppe von 4 — 5 Arabern im besten Mannes- alter, anscheinend keineswegs begütert, vor einem zerlumpten — 312 — Zelte oder einem Gurbi (Reisighütte) saßen, und wenn ich nach vier, fünf oder noch mehr Stunden wieder zurückkam, sich noch genau an derselben Stelle befanden. Es erklären sich, wie nicht näher erörtert zu werden braucht, die wirtschaftlichen Verhält- nisse dieser Länder aus diesen Lebensgewohnheiten zum großen Teil, dieselben sind aber meines Erachtens außer auf die herr- schende Religionsform und die Stellung der Frau vor allen Dingen auf geographische Ursachen zurückzuführen. Die Landes- natur, vor allem das Klima, macht die von den Arabern, die dem Islam seinen Charakter aufgeprägt haben, bewohnten Länder zu Weideländern, bzw. die nomadischen Araber haben früheres Kulturland, wie hier in Tunesien, künstlich durch Vernichtung aller Bäume und aller Bodenkultur in Weideland verwandelt. Das Weiden der Herden und die Sorge für dieselben erfordert aber wenig Arbeit, beschäftigt nur wenige, für die Mehrzahl der Männer gibt es also tatsächlich nichts zu tun. Selbst in den Gegenden, in welchen noch Ackerbau möglich ist und in welchen sich Araber oder arabisches Wesen behauptet haben, wie im Teil der Atlasländer, vermag auch der Ackerbau jene Eigentümlich- keit nicht zu beseitigen, denn derselbe ist weit weniger mannig- faltig als in Mitteleuropa z. B. und zwingt auch nur zweimal im Jahre zur Arbeit, bei der Aussaat nach Beginn der Winterregen, meist im November, und bei der Ernte nach dem Aufhören der Winterregen, gegen Ende Mai oder Anfang Juni. Und was würde ein deutscher Landwirt zu dieser Bestellung der Felder sagen! Künstliche Bewässerung, also Gartenbau, der allerdings zur Ar- beit erzieht und allein völlige Seßhaftigkeit bedingt, war in der Urheimat arabischen Wesens nur in Jemen wichtig; was die Araber in dieser Hinsicht in Spanien und Sizilien geleistet haben, möchte ich wesentlich auf berberische Einflüsse zurückführen. Noch heute sind die Berbern, da wo sie sich ihren alten Volkscharakter zu bewahren vermocht haben, ausgezeichnete Gartenbauer, sie allein vermehren sich bedeutend und vermochten so die für jene Vor- gänge nötigen Menschenmengen zu liefern. Die Berbern sehen wir heute sich europäischer Kultur in Algerien nähern, die Araber haben dort bis heute wie anderes, so vor allem das Ar- beiten von den europäischen Kolonisten nicht gelernt. Wenig- stens ist schwer verständlich, wie die Masse der Männer noch weniger hat tun können wie heute. — 3^3 — Mein Aufenthalt im Bordsch von Kasserin wurde leider durch einen betrübenden, aber in mehrfacher Hinsicht lehrreichen Zwischenfall gestört. Am Abend wurde mir vom Kaid ein glän- zendes, aus Suppe, drei Gerichten mit Fleisch, alles scharf mit spanischem Pfeffer gewürzt, und mannigfaltigem Nachtisch be- stehendes !Mahl geboten, an welchem nur ein Bruder und mein Führer teilnahmen; dann ging alles zur Ruhe. Ich schlief in dem trefflichen Himmelbette bald ein, wurde aber des Morgens gegen 3 Uhr wach infolge eines eigentümlichen Geschreies, das mir von außerhalb des Bordsch zu kommen schien und das mir den Eindruck machte, als werde vor dem Bordsch Markt ge- halten. Daß es noch Nacht war, konnte ich nicht wissen, denn bei geschlossener Tür war es auch am Tage in dem Räume finster. Nach einiger Zeit wurde aber von außen heftig an die Tür geklopft und mein Führer, der nun endlich auch erwachte, so wie ein jüngeres Familienglied , das ebenfalls hier seine Schlafstätte hatte, gerufen. So erfuhr ich, daß das Geschrei von dem Wehklagen der Weiber herrühre und daß der Kaid mit seiner ganzen Familie dem Tode durch Ersticken nahe gewesen und schwer krank sei und man mich um meinen ärztlichen Bei- stand bitte. Daß in Afrika jeder Europäer mehr oder weniger für einen Arzt gehalten wird, ist ja bekannt, selbst in Tunesien bin ich nicht weniger als dreimal um ärztlichen Beistand ange- gangen worden. Hier lag noch ein gewisser Anhalt vor, indem ich meinem Führer, der sich als Stadtaraber in der kalten Nacht unter dem Zelte eine starke Erkältung zugezogen hatte, aus meiner kleinen Reiseapotheke ein schweißtreibendes und auch erfolgreiches Mittel gegeben hatte. Obwohl ich natürlich jedes Eingreifen ablehnen mußte, wurde ich doch zum Kaid geführt, trotz der Anwesenheit der Frauen und Kinder, welche letztere namentlich schwer litten. Doch konnte ich mich überzeugen, daß ein tödlicher Ausgang nicht zu fürchten sei, namentlich da bald Erbrechen eintrat. Indes entsprach ich gern der Bitte, einen Brief an den Arzt des kleinen französischen Lagers von Feriana, das 35 km entfernt war, zu schreiben und denselben um Bei- stand anzugehen. Ein Bote sprengte eiligst mit dem Briefe da- von und ich erfuhr am andern Tage, als ich selbst nach Feriana kam, daß der Arzt zwar selbst am Malariafieber darniederliege, aber doch die entsprechenden Mittel dem Boten mitgegeben habe. — 314 — Von einer Karawane, die ich traf und die nach mir von Kasserin aufgebrochen war, erfuhr ich noch, daß bald Besserung eingetreten war. Der Unfall war dadurch veranlaßt worden, daß der Kaid im Harem ein Kohlenbecken bei verschlossenen Türen aufgestellt hatte, um die durch den Neubau und Neuanstrich verursachte Feuchtigkeit zu bannen, ohne als bisheriger Zeltbewohner sich der möglichen Gefahr bewußt zu werden. Zum Glück war der- selbe erwacht, ehe es zu spät war. Rührend war die Anhäng- lichkeit der Umgebung an die Familie und die Fürsorge für den Gast, die trotz der allgemeinen, sich in den äußersten Befürch- tungen ergehenden Bestürzung keinen Augenblick außer acht ge- lassen wurde, ganz eines vornehmen Hauses würdig. Als ich am andern Morgen abreisen mußte, wollte mich der Kaid noch ein- mal sehen, und ich konnte mich mit wärmstem Dank und zu- versichtlichen Trostesworten verabschieden. Von abergläubischem Mißtrauen, daß der Fremde, der Christ, den Unfall verursacht und Unglück ins Haus gebracht habe, was ich anfangs befürchtet hatte, war keine Spur zu entdecken. Wäre dies wohl in ge- wissen Gegenden Süditaliens oder Spaniens ebenso gewesen? Der Bordsch von Kasserin, neben welchem sich beständig auch einige Zelte finden, steht mitten in den ausgedehnten Ruinen der römischen Kolonie Scillitana, das jedenfalls eine be- deutende Stadt gewesen sein muß. Noch steht ein Triumph- bogen und ein drei Stockwerke hohes prächtiges Grabmal eines Flavius Secundus und seiner Frau aufrecht, die beide iio bzw. 105 Jahre alt geworden sind. Wie hier so ist auch sonst er- staunliche Langlebigkeit der Bewohner des östlichen, heute keines- wegs besonders gesunden Atlashochlandes in römischer Zeit aus zahlreichen Grabinschriften bezeugt. Nach 1 2 1 Grabinschriften der kleinen Colonia Celtianensium in der Provinz Constantine, die untersucht worden sind, ergibt sich das Alter von 67 Ver- storbenen zu über 50, von 27 zu über 70 und von 10 zu über 100 Jahren; an einem andern Punkte gaben von 94 Grab- steinen 2 1 ein Alter von mehr als 70, 1 8 von mehr als 80 und 6 von mehr als 100 Jahren an. Mindestens ebensogroß wie Colonia Scillitana waren nach den Ruinen zu schließen Sbeitla (Suffetula) und Feriana (Thelepte), das eine 35 km nordöstlich, das andere ebensoweit südlich. Auch sonst sind römische Ruinen in dieser Gegend außerordentlich häufig, ja, dieselbe ist förmlich — 315 — mit solchen übersäet, während heute sich dort fast nur Zeltlager finden. Hat doch neuerdings eine Zählung festgestellt, daß jetzt in ganz Tunesien neben 8 1 ooo bewohnten Zelten nur 5 i 000 be- wohnte Häuser vorhanden sind. In bezug auf die vielerörterte Frage, ob der blühende Zustand des Landes in römischer Zeit durch günstigere klimatische Verhältnisse ermöglicht wurde, habe ich mir die Anschauung gebildet, daß die etwa eingetretene Änderung nicht besonders tief einschneidend ist, sie kann sehr wohl durch Ver- wüstung der Wälder, deren Südtunesien nur nahe der Grenze von Algerien noch einige, aber in verwüstetem Zusande besitzt, sowie durch fortgeschrittene natürliche Entwässerung von Sümpfen und Seen bewirkt worden sein. Jedenfalls ist wie ganz Tunesien so auch noch dieser südliche, schon am Rande der Wüste gelegene Teil ein reich ausgestattetes Land. Die Fruchtbarkeit des Bodens ist wegen bedeutenden Phosphatgehaltes eine ganz erstaunliche; so- weit die Flüsse in den ehemaligen Seebecken ihren Lauf ein- geschnitten haben, sind Schichten von Lehm bis sechs und mehr Meter Mächtigkeit erschlossen. Es bedarf nur des Wassers, um hier die reichsten Ernten hervorzurufen. Und das wäre auch heute noch so reichlich vorhanden, daß weite Strecken, wenn auch gewiß nicht so weit wie in römischer Zeit, in Anbau ge- nommen werden könnten. Bis zum 35. Parallel regnet es noch heute in den meisten Wintern genug, um auch ohne künstliche Bewässerung dem Boden reiche Ernten von Weizen und Gerste ohne Düngung und bei schlechter Bestellung abzugewinnen. Im Hochbecken von Fussana, das vom Wed Hathob, der hier auch im Sommer, freilich in tief eingeschnittenem Bett, Wasser führt, durchflössen wird, bin ich stundenlang durch die üppigsten Weizen- und Gerstenfelder geritten, die am i. April schon fast Yj m hoch waren und Ähren bekamen. Auch im Becken von Kasserin finden sich noch solche. Auch große Opuntienfelder fehlen hier nicht; ihre Früchte sind eine Lieblingsnahrung der Araber. Dennoch hatten hier schon die Römer künstliche Stau- werke angelegt, von denen noch Spuren vorhanden sind, um das Wasser des nie versiegenden Wed Kasserin, der sich wenig unterhalb in dem Becken von Kasserin mit dem Hathob ver- einigt, aufzuspeichern und auch im Sommer größere Flächen bewässern zu können, wie dies schon das Vorhandensein einer so großen Stadt zu schließen zwänge. Doch stand derselben — 3i6 — außerdem eine herrliche, dicht unter dem Bordsch aus dem Felsen hervorbrechende Quelle zur Verfügung. Hier endet aber jetzt das nur mit Hilfe der Winterregen angebaute Land; Feriana, obwohl auch noch in 8oo m Höhe gelegen, ist schon vollständig Oase, der Boden ist dort nur so weit angebaut, als das Wasser einer starken Quelle reicht. Schon der Name, welcher Bewässe- rungsrinne bedeutet, läßt das erkennen, dem vom Norden Kom- menden war in der Tat Feriana die erste Berieselungsoase. Das alte Thelepte lag um diese Quelle herum, auf nicht bewässertem Boden. Die über die Hochebene nördlich davon in erstaunlicher Fülle zerstreuten römischen Ruinen lassen aber gar keinen Zweifel aufkommen, daß dieselbe in jener Zeit angebaut war. Die For- schungen von Bourde haben seitdem wahrscheinlich gemacht, daß dieser blühende Zustand des Landes in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung im wesentlichen auf Baum-, be- sonders Olivenzucht beruhte. Die seitdem unter Gaucklers Lei- tung sorgsam erforschten Anlagen zum Sammeln und Aufspeichern allen Wassers zeigen, daß das schon damals nötig war. Heute ist hier nur Weideland, einzelne Felder findet man noch an ein- zelnen besonders günstigen Stellen, aber sie standen auch nach einem so regnerischen Winter, wie der vergangene auch hier gewesen war, dürftig genug, und ich möchte es für geradezu unmöglich erklären, daß diese Gegend heute wieder so angebaut und so dicht bewohnt werden kann wie in römischer Zeit. Am deutlichsten prägt sich aber die Unmöglichkeit, heute hier irgend- wie ins Gewicht fallenden Ackerbau zu treiben, darin aus, daß die Nachfolgerin von Thelepte, Feriana, 3 km weiter südlich liegt, dort wo der von der Quelle gebildete Bach aus den Bergen in die Ebene tritt, es also möglich war, eine größere Fläche zu bewässern. Feriana liegt daher ganz wie die Ortschaften der Wüste am Rande seiner Oase, in welcher freilich der Meereshöhe wegen die Dattelpalme ihre Früchte nicht mehr reift und nur durch einen einzigen hohen Stamm vertreten ist. Um so üppiger aber gedeihen Weizen-, Gersten- und Gemüsefelder, beschattende Feigen-, Granaten-, Mandel- und Ölbäume; ein Saum von Weizen- feldern, die nur im Winter, wo Wasser reichlicher vorhanden ist, bewässert werden, umgibt auch diese Oase. Die niedern, meist aus Lehm errichteten Häuser des 600 Einwohner zählenden Dorfes haben ganz die Bauart der Oasenstädte und lassen er- — 317 — kennen, daß es hier sehr wenig regnet. Die Franzosen haben auch hier, verständigerweise oberhalb des Dorfes, ein kleines Lager, aus kleinen steinernen Kasernen bestehend und von einem niedem Wall und Graben umgeben, errichtet und den Bach durch dasselbe geleitet, so daß sie jeden Augenblick der Oase das Wasser abschneiden können. Auch haben sie, was aller- dings unerläßlich war, um die Truppen mit Gemüse u. dgl. zu versehen, neben dem Lager eine ziemlich bedeutende Fläche unter Anbau und Bewässerung genommen. Um so knapper dürfte nun freilich der Wasservorrat für die Oase werden. Da- neben haben aber die Franzosen doch für nötig erachtet, auf einem Hügel dicht neben dem Lager eine Zisterne einzurichten. Die kleine Nachbaroase von El Kis wird ebenfalls von einer dorthin geleiteten Quelle bewässert, deren Wasser jedoch brackig ist. Sie bildet einen dichten Olivenhain. Feriana liegt tatsächlich am Rande der Wüste, weiter südwärts werden auch die römischen Ruinen weit seltener und dürftiger. Doch sind noch heute Reste einer römischen Straße, welche Thelepte mit Capsa (Gafsa) verband, vorhanden. Die Entfernung von Feriana nach Gafsa beträgt 68 km und man muß dieselbe in einem Tage zurücklegen, da unterwegs nur der schon erwähnte eine Brunnen von Henchir-Sidi-Aisch vor- handen ist. Ein zweiter, Bir Medkides, liegt nur i6 km davon, ist aber 50 m tief und daher schwer benutzbar. Der Weg führt zunächst, nachdem man die langgestreckte Oase verlassen, durch eine weite, von niedem Bergen umwallte wagerechte, sandige Hochebene, die wohl auch ein ehemaliges Seebecken sein dürfte, aber nur mit vereinzelten Büschen, niederm Gestrüpp, namentlich Rtem (Retama monosperma) und Passerina hirsuta, auf weite Strecken auch mit Haifa bedeckt ist. Schih (Artemisia herba alba), das auf dem Hochlande eine so große Rolle spielt und weite Strecken fast ausschließlich bedeckt, dieselben unter den Strahlen der Sonne in würzigen Duft hüllend, kommt hier seltener vor. Die Kamele fressen es gern. Am untern Ende der Ebene, wo sich ein paar Wasserlöcher finden, hat der Wed Feriana in wasserreichem Tagen die sanft gefalteten Kalksteinschichten (wohl der Kreideformation) eines niedem SW — NO streichenden Höhen- rückens, den Dschebel Ogeff, durchbrochen und das 50 m breite, von tiefem Sande gefüllte Bett des stets trockenen Flusses bildet den Weg durch diesen Engpaß, den Kränget Ogeff. In kurzem — 3i8 - weitet sich das Tal, der Weg folgt dem Ufer des Wed. dessen Bett und Ufer etwas reichlicher mit Rtem, Tamarisken (Tamarix africana) und Sadr (Zizyphus lotus) bewachsen sind, erstere beiden die Hauptnahrung der großen hier weidenden Ziegen- und Schaf- herden, infolgedessen kläglich zugerichtet. Die Herden, außer Ziegen und Schafen kommen hier nur noch Kamele in Betracht, sind fast lediglich auf diese niedern, dürftig belaubten oder der Blätter ganz entbehrenden Holzgewächse angewiesen, die mit ihren tief dringenden Wurzeln hier noch ihr Dasein zu fristen imstande sind. Saftreichere, frischgrüne Pflanzen, namentlich Gräser finden sich nur im Winter hier und da, wo der Boden feuchter ist. Den Sadr rühren aber selbst die Ziegen nicht an, denn er ist am reichlichsten unter diesen meist dornigen Steppen- pflanzen bewehrt, seine kleinen zarten Triebe, die hier sich eben erst zu Anfang April zu entwickeln begannen, sind gut "mit Dor- nen besetzt und noch weiter durch die meist abgestorbenen vor- jährigen, stark bedornten Triebe geschützt. Die elliptischen Blätt- chen erreichen nur eine Breite von 5 und eine Länge von 8 mm. So vermag dieses Holzgewächs allein hier und da die Höhe eines Baumes zu erreichen. Meist bildet es jedoch niedere, aber un- durchdringliche Gestrüppe, die sich regelmäßig auf einem Hügel erheben, der seine Entstehung meist dem um die Sadrbüsche aufgehäuften Sande (sog. Neulinge), zuweilen aber auch dem Um- stände verdankt, daß die Wurzeln den Boden festhielten und sich so bei fortschreitender Verwitterung und Davonführung der abgelösten Stoff'e durch den Wind allmählich ein Hügel (sog. Zeugen) herausmodellierte. In weniger öden Gegenden sind diese Hügel dann häufig der geschützte Wohnsitz der Djerboaratte und von deren Löchern siebartig durchbohrt. Dieser Nager, hier an den Grenzen der großen Wüste seltener, tritt in den Steppen des ganzen südöstlichen Tunesiens massenhaft auf und man muß häufig Umwege machen, damit das Pferd nicht in den völlig unterhöhlten Boden einbricht und Schaden leidet. Mit seiner reichen Bedornung und dürftigen Belaubung veranschaulicht der Sadr, in welchem wir noch einen der üppigsten Vertreter der Pflanzenwelt zu sehen haben, der an Stellen gebunden ist, wo noch im Boden sich etwas Feuchtigkeit findet, so recht die außer- ordentliche Ungunst eines trocknen Klimas, mit welchem hier die Pflanzenwelt zu kämpfen hat. — 319 — Gruppen verwilderter Ölbäume, die sich noch an der Ein- mündung des Wed Bugena und des Wed Erseuf in den Wed Feriana in der Nähe einiger Ruinen aus römischer Zeit erhalten haben, bezeugen aber, daß doch auch hier im Altertum feste Ansiedelungen sich fanden. Auch Wild, flüchtige Gazellen, die sich in größerer Entfernung zeigen, namentlich aber Rebhühner, die hier so gut wie gar nicht gejagt werden, sind nicht selten. Durch einen Engpaß zwischen dem Dschebel Nadur und dem Dschebel Sidi Aisch hindurch hat sich der Fluß einen Weg in eine weite, sich sanft nach Süden abdachende Hochebene ge- bahnt, an deren oberm Ende die schon oben erwähnten Brunnen von Henchir-Sidi-Aisch am Fuße des nahen Gebirges liegen. Fast I km breit ist hier das Flußbett und mit tiefem Sande gefüllt, während die Hochebene in ihren nördlichen Teilen als Hammada auftritt, als Steinwüste, deren Oberfläche mit lauter eckigen, bis faustgroßen Steinen bedeckt ist, als sei man im Be- griff", sie zu makadamisieren. Der südliche Teil der Hochebene von Sidi Aisch ist sandig und im Südosten befindet sich eine ausgedehnte Dünenregion. Der Wasserbedarf des Körpers zum Ersatz des Verdunstungsverlustes ist schon hier am Nordrande der Wüste und in dieser Jahreszeit ein sehr bedeutender, ich habe manchen Tag drei bis vier, vielleicht auch mehr Liter getrunken, während ich in Deutschland zuweilen während eines halben Jahres kein Wasser trinke. Fast täglich kamen auch arabische Hirten, die uns vorüberreiten sahen, heran und baten um Wasser, das ihnen zu verweigern ein schwerer Verstoß gewesen wäre. Nach- dem sie sich satt getrunken, füllten sie meist noch, wenn unser eigner Vorrat es erlaubte, einen kleinen, höchstens ein Liter fassenden Lederschlauch, den sie mit sich führten. Als die Sonne gegen 6 Uhr unterging und die Nacht rasch hereinbrach, war ich, da ich in dem bald steinigen, bald tief sandigen Wege kaum mehr als 5 km in der Stunde zurück- zulegen vermochte, noch 20 km von Gafsa entfernt, doch kannte mein Führer den Weg so ziemlich, da er ihn vor Jahren öfter gemacht hatte. Die Gegend galt als sicher, doch war es nicht gerade erfreulich, daß drei Wochen vorher eben dort ein Araber, welcher die Post der französischen Besatzung in Gafsa nach Tebessa beförderte, überfallen und ausgeplündert worden war. Die Nacht war ziemlich hell und wir verfügten über drei Revolver. — 320 — Endlich tauchte im Südwesten ein Bergrücken auf, es konnte nur der Dschebel Ben Yunes sein, hinter welchem Gafsa liegt, ein breites, trocknes Flußbett, das wir bald darauf, von Nordwesten kommend, durchschritten, gab mir Gewißheit. Und kurze Zeit nachher erhielt ich die sicherste Botschaft, daß die Oase nahe sei, der Südostwind trug uns den mir aus den Zibanoasen der algerischen Sahara, die ich vierzehn Tage früher besucht hatte, so wohl bekannten, kaum dem der Apfelsinen an Würzigkeit nachstehenden Blütenduft der Dattelpalmen zu. Auf 6 km Ent- fernung! Eine halbe Stunde später hörten wir die Signale des auch hier am Nordende der Oase errichteten französischen Lagers und um gYg Uhr langte ich glücklich in Gafsa an und fand in der Baracke eines französischen Marketenders, da ich die Gast- freundschaft des tunesischen Kaids nur im Notfalle in Anspruch zu nehmen wünschte, für teures Geld eine schlechte Unterkunft, aber nach dem vierzehnstündigen Ritte die wohlverdiente Ruhe. Die Oase Gafsa, mit welcher ich die eigentliche tunesische Sahara und das Beled el Djerid, das tunesische Dattelland, be- trat, ist nur selten von Reisenden besucht worden. Der fran- zösische Archäologe Viktor Gu6rin, der deutsche Reisende H. V. Maltzan, die französischen Tirant und Rebatel sind meines Wissens die einzigen gebildeten Europäer, die in den letzten Jahrzehnten diese Oase besucht haben. ^) Die Lage von Gafsa ist in verschiedener Hinsicht eine ausgezeichnete. Es liegt auf der Grenze der Wüste und des noch hier und da anbaufähigen südtunesischen Steppenlandes, es vermittelt also zwischen zwei verschieden ausgestatteten Gebieten und muß schon deshalb ein wichtiger Verkehrsknoten sein. Es ist dies aber um so mehr, als die Oberflächenformen des Landes außer an der Meeresküste entlang nur hier einen bequemen Durchgangspunkt geschaffen haben. Gafsa liegt nämlich an dem einzigen Tore in dem West- ost streichenden Gebirgsrücken, welcher hier die Hochsteppen Mitteltunesiens vom wüsten Schottgebiet scheidet, dem also alle Straßen vom südöstlichen Algerien wie von Kairuan und Sfaks her zustreben, um jenseits wieder radienförmig auszustrahlen. Geschaffen ist diese Pforte wohl erst vom Wed Baiasch, wie der i) Heute ist sie mit der Eisenbahn von der Küstenstadt Sfaks aus bequem zu erreichen und im Begriff, sich als Winterstation zu entwickeln. — 321 — unmittelbar oberhalb derselben mit dem Wed Kebir vereinigte Wed Feriana hier heißt, der sich jetzt einen i km breiten Weg zwischen dem Dschebel Orbata (1170 m) und dem Dschebel Bu Ramü (1200 m) gebahnt hat. Man kann sich allerdings jetzt nicht leicht veranschaulichen, daß der nur nach jahrelangen Zwischenräumen einmal Wasser führende Wed eine solche Tätigkeit ausgeübt habe. Aber wenn man den ganzen Südrand des Atlashochlands etwas näher kennen lernt, so schwinden diese Zweifel, denn es dürfte kaum ein zweites Gebiet mit so großartigen, allerdings zum Teil in die Pluvialzeit zurückreichenden Erosionswirkungen geben wie dieses. Allent- halben begegnet man wild zerrissenen Schluchten, tief aus- gewaschenen Tälern, in Gebirgsland umgestalteten Hochebenen, zugeschütteten Seebecken. Der innere Bau des Landes, die leicht zerstörbaren Gesteine, der stete Wechsel zwischen großer, die Felsen ausdehnender Hitze und rascher Abkühlung, die lange Trockenheit, die den Boden allenthalben aufreißen macht und dann von vereinzelten, aber um so heftigem Regengüssen gefolgt ist, erklären diesen Vorgang voUkonmien. Sind uns ja Fälle genug von großartiger, erodierender Tätigkeit in Jahrzehnten nur einmal gefüllter Weds von guten Beobachtern bezeugt. Süd- tunesien bietet allenthalben das Bild eines so vollkommenen Terrassenbaues wie nur das Wasser solchen schaffen kann. Das ganze Land besteht lediglich aus weiten Becken mit fast wage- rechtem Lehm- oder Sandboden jüngster Entstehung, die durch meist kurze, elliptische Bergrücken aus festerem Gestein, meist der Kreideformation, voneinander getrennt sind und die man, wenn die Flußbetten zu eng und zu felsig sind, auf Seitenpfaden über- schreiten muß, um von einem Becken ins andere zu gelangen. Die heute nur selten gefüllten Flüsse erreichen jetzt das Meer sämtlich nicht, sie enden entweder in der langgestreckten De- pression der Schotts, die sich von der Kleinen Syrte bei Gabes auf 400 km landeinwärts erstreckt, oder in den Sebchas (flachen, im Sommer vertrocknenden Salzbecken) Südosttunesiens, welche sie allmählich, jetzt aber jedenfalls viel langsamer wie früher in Ebenen verwandeln. Der seinen Namen wie alle diese Flüsse oft ändernde Wed Hathob z. B., dessen Quellen an dem noch mit Aleppokiefern bedeckten (daher der Name holztreibender Fluß) eine gute Naturgrenze zwischen Algerien und Tunesien Fischer, Mittelmeerbilder. 21 — 322 — bildenden Dschebel Zebissa liegen, durchfließt nicht weniger als sechs solcher Becken und findet schließlich sein Ende in dem bei Kairuan gelegenen, die tiefste Stelle der noch weithin sumpfigen Ebene von Kairuan bezeichnenden See Kelbia, der nur mehr 15,5 m über und 22 km vom Meere liegt, aber nur selten Wasser an dieses abgibt. So liegt Gafsa auch wieder am obern Ende einer Ebene, deren nordwestlichste wie südöstlichste Bucht, die recht bezeich- nend am weitesten vom Wed Baiasch abliegen, noch heute im Winter sich mit Wasser füllen, die Garaat el Aglat und die Sebcha von El Gettar. Dazu brechen an diesem Engpasse, vom Gebirgsbau bedingt, zwei sehr starke 31 bis 33^ C warme Quellen hervor, zu welchen noch mehrere kalte im Bette des Flusses selbst und am Rande desselben, offenbar die unterirdisch fließenden Gewässer des Wed, die hier durch eine Schwelle festen Gesteins in die Höhe gedrängt werden, hinzukommen. Sie füllen auf eine Strecke das sonst trockene Flußbett. So mußte sich an dieser Stelle eine große Oase als wichtiger Knotenpunkt des Verkehrs und auch strategisch wichtiger Punkt entwickeln. W^ie der un- zweifelhaft phönikische Name erkennen läßt, haben schon die Phönikier seine Wichtigkeit erkannt, später bediente sich Jugurtha seiner für seine Schätze als Zufluchtsstätte, deren Eroberung eine der Ruhmestaten des Marius werden sollte. Allerdings waren die Schwierigkeiten, ein Heer zu Ende des Sommers, der wasser- ärmsten Jahreszeit, durch die Wüste vor die feste, im Innern reich mit Wasser versehene Oasenstadt zu führen, nicht gering. Bezeichnenderweise ließ Marius seine Soldaten vom Flusse Tanas, dem Wed el Abiad, an Stelle des Gepäcks einen möglichst reichen Wasservorrat in Schläuchen mitführen und legte die letzten drei Tagesmärsche bei Nacht zurück, so daß er vor Tagesanbruch vor Gafsa ankommend die Stadt mit List erobern konnte. Von Marius zerstört, da die Römer noch nicht daran dachten, sich hier festzusetzen, ist Gafsa doch naturnotwendig infolge des großartigen Aufschwungs des ganzen östlichen Atlas- gebiets unter den Römern wieder zu großer Bedeutung gelangt, die es nach der Schilderung El Bekris auch noch in arabischer Zeit bis zu einem gewissen Grade behauptet hat. Noch heute ist die antike Fassung der von den Römern zu Bädern benutzten Quellen erhalten, noch heute steht inmitten der baufälligen Häuser der heutigen Be- — 323 — wohner ein römischer Triumphbogen und sieht man überall antike Werkstücke, Säulentrommeln und Kapitale vermauert. Die heutige Kasbah, ein höchst malerisches, von Zinnenmauem mit Türmen umschlossenes Bauwerk, das weite Höfe und eine der Quellen umschließt, steht jedenfalls auf den Grundmauern der alten Burg, in welcher die byzantinischen Statthalter von Byzatium zu wohnen pflegten. Auch ist sie fast ganz aus antiken Werkstücken er- richtet, so daß man bei ihrer Zerstörung gewiß einmal zahlreiche Inschriften finden und neue Aufschlüsse über die Geschichte von Gafsa erlangen wird. Die Bäder werden noch heute benutzt, man teilt den Genuß derselben mit großen Mengen kleiner Fische, die sich sehr behaglich in dem warmen Wasser tummeln. Sie ge- hören zu der in den unter- wie oberirdischen Gewässern der Sahara weit verbreiteten Gattung Chromis. Auch kleine schwarze Schlangen, wohl zur Gattung Tropidonotus gehörig, kommen vor. Aus ihnen hat offenbar Sallust die so furchtbaren Schlangen ge- macht, die den Angriff auf Gafsa noch gewagter erscheinen Heßen, wenn anders nicht an die allenthalben in der nördlichen Sahara vorkommende Hornschlange (Cerastes cornutus) zu denken ist, welche auch heute noch von den Arabern sehr gefürchtet ist. An diese starken Quellen ist das Dasein von Gafsa geknüpft, sie verleihen dem Sande der Wüste Leben und Schäften die herr- liche Oase, welche den etwa 5000 Bewohnern vorzugsweise Unter- halt gewährt. Der Wasserreichtum der Oase von Gafsa ist wunder- bar, ober- und unterirdisch ist es der Neigung des Bodens folgend in südlicher Richtung von Gafsa aus in zahllosen Kanälen, in denen es murmelnd dahinschießt, über den teils sandigen, teils lehmigen Wüstenboden ausgebreitet, den es in ein Paradies ver- wandelt hat. Der Flächeninhalt der Oase mag etwa 10 qkm betragen. Heinrich Barth hat uns die Oase Gabes in begeisterten Worten geschildert, so schön sie ist, steht sie doch weit hinter Gafsa zurück. Was Gafsa auszeichnet, sind die Frische, Üppig- keit und Mannigfaltigkeit des Pflanzenwuchses, die wunderbaren Abstufungen in Farbe und Belaubung. Der Charakterbaum ist natürlich die Dattelpalme, die hier tatsächlich, wie sie es nach dem arabischen Sprichwort fordert, ihren Fuß ins Wasser und ihr Haupt in das Feuer des Himmels taucht und eine seltene Höhe und Kraft erreicht. Als Königin beschattet sie mit ihren langen im Wüstenwinde leise rauschenden Wedeln alle andern — 324 — Gewächse. Ihre Früchte erreichen hier unter dem Schutze, welchen die Gebirgskette gegen Norden bietet, obwohl in der verhältnismäßig bedeutenden Meereshöhe von 345 m, so vorzüg- liche Süße und Wohlgeschmack, daß sie zu den besten des Dattellandes gerechnet werden. Daß Datteln von und über Gafsa von allen nordwärts gehenden Karawanen als Fracht wie als Reisekost in Menge mitgeführt werden, davon zeugen die Massen von Dattelkernen, die ich von Norden kommend an jedem Quell, jedem Brunnen oder Wasserloch fand, die Reste des Mahles der Reisenden. Fällt ein solcher weggeworfener Kern in feuchten, guten Boden, so erwächst daraus, wie ich es am A'in el Hamman sehen konnte, ein stattlicher Baum. Wie manche Palmengruppe an einem einsamen Brunnen der Wüste mag so entstanden sein! Da meist nur die weniger guten Datteln zur Ausfuhr gelangen, so kann man sich nur in den Oasen selbst ein volles Verständnis für den Zauber dieser Frucht erschließen, der Unterschied ist noch größer als der zwischen Apfelsinen, die man bei uns oder etwa in Palermo, Malaga, BUdah oder Jaffa ißt. Wie uns erst die Entwicklung der Dampfschiffahrt diese Früchte der südlichen Mittelmeerländer in Menge zugeführt hat, werden uns diese Schätze der algerischen und tunesischen Sahara, obwohl schon jetzt gewisse Fortschritte zu verzeichnen sind, erst voll zugänglich werden, wenn die Oasen in Eisenbahnverbindung mit dem Meere sein werden. Und das wird zum Teil in wenigen Jahren geschehen. Biskra, das freilich noch wenig gute Datteln liefert, wird wohl schon gegen Ende 1887 auf der Eisenbahn zu erreichen sein, der Bau war im März 1886 von Batna aus schon bis über El Kantara, also bis in die Wüste, vorgeschritten, muß frei- lich im Sommer der Hitze wegen unterbrochen werden. Und die von den Franzosen geplante, auch strategisch überaus wichtige Linie von Constantine über Tebessa und Gafsa nach Gabes an die Kleine Syrthe wird wohl auch in nicht ferner Zukunft gebaut werden.-^) FreiHch wird auch dann die Mehrzahl der Oasen noch nicht in den Schnellverkehr einbezogen sein; denn von den Oasen des Wed Rhir und Wed Suf, den besten Datteloasen der alge- rischen Sahara, wird noch ein achttägiger Kameltransport nach l) Sie ist heute (1905) noch nicht gebaut, wohl aber Gafsa mit der Hafenanlage in Sfaks durch eine Eisenbahn verbunden. — 325 — Biskra, von dem tunesischen Nefta und Tozer ein dreitägiger nach Gafsa, ein fünftägiger nach Gabes übrig bleiben, was noch immer die Ausfuhr erschweren und verteuern wird. Von Gafsa wird man aber dann selbst bei der in Algerien üblichen größten Geschwindigkeit von 25 km in der Stunde Gabes in höchstens sechs Stunden erreichen. Die tunesischen Datteloasen liegen über- haupt dem Meere viel näher und werden gewiß in wenigen Jahren ihre Datteln durch unternehmende Europäer rasch und massen- haft auf der Markt bringen, während dieselben jetzt noch meist mit Karawanen nach Sfaks und Tunis gehen. Das nähere Gabes ist erst seit kurzem und wegen der flachen, die Dampfer 3 — 4 km von derselben Anker zu werfen zwingenden Küste noch immer unvollkommen durch die Compagnie Transatlantique in den Welt- verkehr einbezogen worden, die einmal wöchentlich einen Dampfer dort anlaufen läßt. In Algerien haben sich schon große kapital- kräftige Gesellschaften, die Soci^t^ du Oued Rhir und die Soci^t6 Agricole et Industrielle de Batna, der hochverdiente Ingenieur Jus an der Spite der letztern, gebildet, welche im Wed Rhir Dattelpalmen erworben oder auf durch künstliche Brunnenbohrungen neu gewonnenem Kulturlande angepflanzt haben und von Jahr zu Jahr größere Mengen Datteln auf den Weltmarkt liefern werden. Auch sonst ist der Baum vielfach verwertbar. Wie Versuche von Jus gezeigt haben, liefert die Faser nicht nur ausgezeichnete Stricke und Taue, welche die Eigenschaft haben, im Wasser nicht zu faulen, daher für Schiflfahrtszwecke wertvoll sind, sondern auch einen guten Papierstoff". Dem Oasenbewohner ist ja schon heute die Dattelpalme so wertvoll, daß man geradezu sagen kann, sein Dasein sei an dieselbe gebunden. Namentlich wertvoll ist die Dattelpalme auch dadurch, daß sie zarter organisierten Gewächsen Schutz gegen die sengenden Sonnenstrahlen bietet und deren Anbau in den Oasen erst er- möglicht. Der Baum bedarf sorgsamer Pflege, Düngung und Be- wässerung. In der Oase Gafsa wird ihm das Wasser durch Rinnen zugeführt, in der Nachbaroase El Gettar, die nur Brun- nen besitzt, in welchen sich das Wasser von Dschebel Orbata, an dessen Fuße sie liegt, sammelt, werden sie teils aus diesen bewässert, teils pflanzt man sie, wie im Wed Suf allgemein, in trichterartige Vertiefungen, wo die Wurzeln die wasserführende Schicht zu erreichen vermögen. In der Oasengruppe von Gabes, — 326 — namentlich in Udref und Metuia, ist der Boden in den obersten Schichten schon so wasserreich, daß auch dies nicht einmal nötig ist. Doch haben die dortigen wenig gepflegten Palmen ein kümmerliches Aussehen und ihre Datteln sind geringwertig. In der Oase Biskra rechnet man auf jeden Baum einen Wasser- bedarf von loo Kubikmeter im Sommer; im Frühling vor der Blüte, die hier anfangs April eintritt, und im Spätsommer vor der Fruchtreife, die im September beginnt, muß die Wasserzufuhr am reichlichsten sein. Bei so reichlicher Durchfeuchtung des Bo- dens und so großen Mengen stagnierenden Wassers ist es be- greiflich, daß die Oasen häufig fieberreich und auch sonst un- gesund sind, trotzdem die Städte fast ausnahmslos neben den Oasen auf dem trockenen Wüstenboden angelegt werden. Gafsa gehört besonders zu den ungesunden Oasen, namentlich Haut- ausschläge und Geschwüre befallen dort Europäer wie Einhei- mische sehr häufig. Um schönere Datteln zu erzielen und den Baum zu schonen, läßt man meist nicht alle Blütentrauben stehen, im Mittel etwa zehn, so daß derselbe etwa 1 50 kg Datteln liefert. Die Dattelpalmen sind so auch in den Oasen der bequemste Gegenstand der Besteuerung; in Algerien wird eine Steuer von 0,30 — I fr. auf den Baum, je nach der Oase, gelegt. Im Schatten der Palmen wachsen nun Aprikosen-, Pfirsich-, Feigen-, Granaten-, Quitten-, Mandel-, Bim- und Ölbäume, ver- einzelt auch Apfelsinen und Limonen, der Weinstock rankt in üppigen, malerischen Gewinden, die schon im Juni reife Trauben tragen, an den Palmen oder an den eigens ihm zur Stütze ge- pflanzten Zürgelbäumen (Celtis australis) empor, der Boden, der überall in kleine viereckige, von Dämmen umgebene Beete ge- teilt ist, die ganz unter Wasser gesetzt werden können, bringt unter den Bäumen noch Massen von Gemüsen, Melonen, Gurken, Weizen, Gerste hervor, allerdings nur in der kühleren Jahres- hälfte; im Sonmier ist die Einwirkung der Sonne durch das Laub- dach hindurch noch immer eine so große, daß dann bei aller Bewässerung zartere Gemüse nicht zu ziehen sind. In drei Schichten sozusagen bedeckt die Pflanzenwelt den Boden dieses Paradieses in der Wüste. Der westliche und südwestliche Teil der Oase ist ein großer Olivenhain, da dort das Wasser nur noch für Ölbäume hinreicht. Diese liefern allerdings ein vor- zügliches, wertvolles Öl. Auch die Granaten von Gafsa halten — 327 — noch den alten Ruf der Granaten des karthagischen Gebiets (daher Punica granatum) aufrecht. Herrlich gedeihen hier auch die Aprikosen. Die Bäume erreichen den Wuchs unserer größten Birnbäume und waren mit einer unglaublichen Fülle von Früch- ten bedeckt, die in den ersten Tagen des April schon fast Wall- nußgröße erreicht hatten. Welche Gegensätze der Belaubung bietet nun dieser Reichtum an Fruchtbäumen! Das üppige, ge- sättigte Grün des Feigenbaumes oder des an den Wasserrinnen häufigen Rizinus unter den mattgrünen, gelblichen Wedeln der Palme, das bläuliche melancholische Blatt des Ölbaumes neben dem frisch grünen der Aprikosen, die zarten rötlichen Blätter der Granaten neben den dunkelgrünen lederartigen der Apfelsinen oder den großen Fiederblättern der Karuben. Dazu nun, die Mannigfaltigkeit der Farben zu erhöhen, die grauen Lehmwände, welche die Gärten umschließen, hier und da ein Durchblick in die gelbliche Wüste ringsum, oder auf die kahlen Berge im Norden, oder die weißen Zinnenmauern der Kasbah, das Spiel der Sonnenstrahlen durch das Gezweig auf dem grünen Teppich des Bodens, über alles das herrliche Blau des Himmels ffe- spannt. Auch an gefiederten Bewohnern fehlt es dem herrlichen Fruchthaine nicht, wenigstens im Winter und Frühling; fast alle unsere Sänger, von denen viele im cissaharischen Afrika über- wintern, ließen sich hören, die Nachtigall führte den Reigen. Leider mußte ich vielfach sehen, daß all diese kleinen Sänger hier wie in ganz Tunesien massenhaft gefangen oder zu Tode gequält werden. Dagegen ist mir wenigstens in Algerien dieses fluchwürdige Treiben, mit dem sich die italienische Nation, auf Capri zum Gelderwerb, so ganz besonders schändet, nirgends aufgestoßen. Ein gefährlicher Feind droht aber diesem Paradiese wie allen anderen Oasen der tunesischen Sahara: der Sand der Wüste. Seit längerer Zeit schon dringt der Wüstensand, Dünen bildend, siegreich gegen die Oasen vor, deren Außengürtel, zuweilen auch Flächen im Innern, mit Dünensand überschüttet wird, so daß sich die Kronen der Palmen aus Hügeln weißen Sandes erheben. Nicht wenige Brunnen sind so verschüttet worden, ganze Oasen und ihre Dörfer sind bedroht, es vollzieht sich seit langer Zeit schon ein immer augenfälliger werdender Rückgang fast aller Oasen. In den am Meere gelegenen Oasen, wie Gabes, wo — 328 — sich ebenfalls hohe Dünen, am äußeren Saum die Palmen ver- schüttend, gebildet haben, kommt der Sand vom Meere her, das dort an der Kleinen Syrte, wo die Flutgröße 2 m beträgt, einen breiten, sandigen Strand bei Ebbe trocken liegen läßt. Man hofft dort der weitern Versandung der Oase durch einen fast 2 km langen niedem Bretterzaun und künstliche Dünenbildung außerhalb der Oase vorzubeugen. Im Innern des Landes ist diese Gefahr auf andere Ursachen zurückzuführen. Zunächst pflegen die Herden von Schafen, Ziegen und Kamelen sich vor- zugsweise um die Oasen aufzuhalten, wo sie nach und nach die vorhandenen Pflanzen bis zu den Wurzeln abnagen und diese schließlich mit den Hufen zerstören^ Auch die Karawanen lagern sich stets bei den Oasen und an den Brunnen. Es wird daher vorzugsweise um die Oasen der Boden gelockert, in Staub und Sand verwandelt und dem Winde der Stoff" geliefert, mit welchem er an festen Gegenständen, also vorzugsweise an den Bäumen der Oasen, Dünenbildung beginnen kann. Fast überall findet man gerade um die Oasen und um die Brunnen den tiefsten Sand. Wo sich noch Pflanzen, etwa durch besonders reiche Bedornung geschützt, erhalten haben, stehen sie auf Hügeln, der Wind hat den ringsum gelockerten Boden davongeführt. Weiter spielt bei dieser Erscheinung auch die tunesische Mißregierung eine Rolle, welche die Bewohner vielfach verarmt und im Kampfe gegen die sie umgebende feindliche Natur geschwächt hat. Jede Oase, vor allem aber jeder Brunnen, bedarf unablässiger Sorge, sobald diese fehlt, nimmt die Wüste das ihr erst von Menschen Entrissene zurück. Sobald die Brunnen infolge von Vernach- lässigung versanden oder verarmen, muß man auch das ange- baute Land beschränken, vielfach aber sieht man auch Teile der Oasen, für die noch Wasser vorhanden wäre, vernachlässigt, sie fallen den Herden und damit der Versandung anheim, die dann auch von den noch unterhaltenen Teilen immer schwerer fern zu halten ist. Tatsächlich sind allenthalben die Brunnen ver- armt, was doch wohl nicht unbedingt auf eine Abnahme der Niederschläge in den Gegenden zurückzuführen ist, aus welchen auf undurchlässigen Schichten das Wasser den Oasen in der Tiefe zugeführt wird. Auch hier würde man gewiß wie in der algerischen Sahara durch Bohrungen den Wasservorrat bedeutend vermehren, demnach die Oasen vergrößern können. Man wird — 329 — daher, um weiterem Unheil vorzubeugen, in kürzester Zeit Maß- regeln zum Schutze der Oasen ergreifen müssen, die auch im Innern, ähnlich wie es bei Gabes geschehen ist, aus Zäunen zur Förderung der Dünenbildung außerhalb der Oasen aber aus Vor- richtungen zu bestehen haben würden, welche eine Neubefestigung des Bodens um die Oasen ermöglichen. Das würde vielleicht schon erreicht, wenn man durch niedere Gräben und Dämme, die etwa noch durch Palmenzweige zu verstärken wären, den Herden die Annäherung an die Oasen bis auf eine gewisse Ent- fernung unmöglich machte. Es würde sich dann gewiß wieder Pflanzenwuchs, namentlich Tamarisken und Rtem, entwickeln und den Boden befestigen. Das meiste wird dabei aber eine gute Verwaltimg, geordnete Steuererhebung und dergleichen tun, welche bei den ihrer Anlage nach fleißigen und nach Erwerb streben- den Oasenbewohnem , die ja meist berberischer Herkunft sind, einen Lohn ihrer Arbeit in sichere Aussicht stellte. Die Stadt Gafsa trägt allenthalben Spuren des Verfalls, wenn auch nicht mehr als andere Ortschaften Tunesiens, in denen, etwa von Tunis, Sfaks und Susa abgesehen, immer ein Drittel bis zur Hälfte der Häuser in Ruinen liegt. Doch ist dies eine Er- scheinung, die Tunesien bekanntlich mit der Türkei gemeinsam hat. Auch die Gründe derselben sind in beiden Ländern die gleichen. Hier im Süden trägt auch noch das Material, meist an der Luft getrocknete Lehmziegel, sehr viel dazu bei, daß dem so geringen Winterregen nur wenig Widerstand geleistet wird, so daß Häuser und Mauern schon in wenigen Jahren ein ruinen- haftes Aussehen erlangen. Ausgiebige Winterregen, die in Mittel- und Nordtunesien der größte Segen sind, am Nordrande der Sahara jedoch selten vorkommen, sind für den Oasenbewohner ein Unglück, denn sie machen die Häuser zerfließen und ver- setzen ihn in die größte Notlage. So sind von der ehemaligen dreifachen Lehmmauer, die Gafsa umgab, nur noch dürftige Bruchstücke vorhanden. Außer der in der Tat, von außen we- nigstens, malerischen und großartigen Kasbah hat die heutige Stadt wenig hervorragende Bauwerke, selbst von den Moscheen haben nur zwei hohe, stattliche Minarets, von der italienischen Glockentürmen ähnlichen, im Westen üblichen Bauart. Die Be- wohner verfertigen geschmackvolle, farbenprächtige Freschiahs (Bettdecken), Haiks und andere Wollenstoff"e, zu denen die Fett- — 330 — Schwanzschafe ihre Wolle liefern. Merkwürdigerweise gibt es auch hier eine sehr starke, etwa ein Fünftel der Bewohnerschaft ausmachende jüdische Kolonie, deren Lage eine keineswegs un- günstige ist. Auch gehört Gafsa zu denjenigen ziemlich zahl- reichen Oasenstädten, die, als eine in mohammedanischen Städten auffällige Erscheinung, eine zahlreiche, ohne Anstoß in den vielen Kaffeehäusern an die Öffentlichkeit tretende Halbwelt besitzen, die freilich nur auf Wüstenkinder Eindruck machen kann. Von dem von Vergnügungsreisenden vielbesuchten Biskra ist das ja bekannt, dieselbe Erscheinung kehrt aber auch in Murzuk, Bilma, Aderer, Air, Agades und anderwärts wieder, Sie ist auch keines- wegs etwa als eine Eigentümlichkeit der Berbern zu erklären, wie Maltzan möchte, sie ist allen in ausgedehnten Wüsten gelegenen Oasen eigen, welche Rastplätze an vielbetretenen Ka- rawanenstraßen sind. Die ungeheueren Entbehrungen, welchen die oft jahrelang von ihren Familien getrennten Wüstenreisenden unterliegen, der große Gewinn, welchen der Karawanenhandel, wenn Unfälle vermieden werden, meist abwirft, die Abhängigkeit, in welche viele Oasen in bezug auf ihr Wohlergehen zu den Karawanen stehen, mußten diese Erscheinung hervorrufen. Die ganze Bevölkerung einzelner Oasen der Sahara begrüßt die An- kunft der Karawanen als die Zeit der Ernte und als einzige Ge- legenheit, mit der übrigen Welt in Verkehr zu treten, mit fest- lichen Aufzügen und Tänzen. Daß die Franzosen in Gafsa wie in allen Städten Tunesiens, wo sie sich festgesetzt haben, dazu noch schleunigst ihre Cafes chantants eingeführt haben, können wir Deutschen am allerwenigsten bemängeln, da wir uns ja nicht schämen, diese national-französische Einrichtung selbst bei uns ein- und von neuen französischen Theaterstücken vorzugsweise die schlüpfrigsten möglichst rasch aufzuführen. Die 140 km von Gafsa nach Gabes legte ich auf einer zweiräderigen Karre, die mir nicht ohne Mühe der Ka'id von Gafsa mit einem zuverlässigen Führer verschaffte, in zwei Tagen etwas bequemer zurück, wie auf schlechtem Pferd und Sattel. Der Weg führt, sobald man die Nachbaroase El Gettar, die gegen Gafsa einen sehr verfallenen Eindruck macht, hinter sich hat, stets durch die Wüste, die allenthalben leicht fahrbar ist. Für die Nacht bot sich der in der Mitte zwischen Gafsa und Gabes gelegene Brunnen Mehamla als Rastort, wo ich, mit Empfehlungen — 331 — des Vorstehers der Sauia von El Gettar ausgerüstet, die, weil von einem geistlichen Oberhaupte ausgehend, mehr Wirkungen ver- sprachen als die des Kaids von Gafsa, in einem Zeltlager der Hammema Unterkunft zu finden hoffte. Seit mehr als zwei Stun- den war es schon Nacht, als ich mich dem Brunnen näherte und zu meiner Freude Licht erblickte. Leider rührte dasselbe von dem Feuer einer kleinen dort ebenfalls ohne Zelte lagernden Karawane her, ein Zeltlager war nicht in der Nähe. So blieb mir nichts übrig, als auch im Freien auf meiner Karre zu schlafen, zufrieden, wenigstens nicht allein die Nacht mitten in der Wüste verbringen zu müssen. Auch schien es meinem Führer geraten, schon um a'/g Uhr morgens zugleich mit der Karawane aufzu- brechen, da ich nur so hoffen durfte, vor Einbruch der Nacht auf meist durch tiefen Sand und Dünen am Ufer des Schott Fedschedsch entlang führendem Wege Gabes zu erreichen. Bei der Annäherung an die Oase wurde ich noch von einem so furchtbaren Scirokko überfallen, wie ich ihn in Sizilien selbst nie erlebt habe. Wie aus einem Glühofen sandte mir die Wüste heiße Windstöße entgegen und so furchtbare Staub- und Sand- massen wurden aufgewirbelt, daß es unmöglich war, die Augen zu öffnen. Die Araber, die zu Fuß unterwegs von einer der drei Ortschaften der Oase zur anderen von dem Sturme über- fallen wurden, duckten sich, trotz der geringen Entfernung, vom Winde abgewandt, in ihre Burnusse gehüllt, einfach am Wege nieder und warteten das Aufhören des Sturmes ab. In einer halben Stunde war in der Tat auch alles vorüber. Die Oase Gabes enthält außer mehreren kleineren Dörfern zwei große Flecken Djara und Menzel, jeder mit etwa 4000 Einwohnern, am Wed Gabes, einem wasserreichen, nie versiegenden kleinen Flusse gelegen, welcher die ganze Oase bewässert. Diese ebenfalls zum großen Teil mit antiken Werkstücken der römischen Takape er- bauten Flecken, lagen früher in steter Fehde miteinander. Als dritter, den Namen Gabes sich besonders aneignender Flecken kommt nun, dicht an der Mündung des Flusses, die Beziehungen zum Meere unterhaltend, ein rasch emporschießender, europäischer Ort hinzu, dicht neben dem Hauptlager der Franzosen. Der ganze Ort besteht bisher nur aus Kneipen, Tingeltangeln, Kaffee- häusern und Verkaufsbuden. Keins der zwei sogenannten Hotels besitzt aber Zimmer für Reisende, ich mußte froh sein, daß mir — 0^2 — ein Italiener, da ich die Gastfreundschaft des tunesischen Gouver- neurs nicht in Anspruch nehmen wolUe, seine Küche einräumte, in welcher ich mein müdes Haupt auf einen Strohsack nieder- legen konnte. Bedauernswert sind die französischen Offiziere, welche ihre Pflicht hier länger festhält. Und doch ist Gabes noch einer der besten Plätze Tunesiens! Es wird unzweifelhaft seiner ausgezeichneten Lage wegen für den Verkehr nicht nur mit dem ganzen südtunesischen Dattellande, sondern mit der Sa- hara und Innerafrika, wie schon einmal im Mittelalter, zu großer Bedeutung gelangen. Freilich wird die Schwierigkeit des Landens an der flachen Küste wohl niemals zu beseitigen sein, denn eine Hafenanlage wird hier wegen der sehr bedeutenden Kosten wohl einer ferneren Zukunft vorbehalten bleiben. Der Vorgang, daß sich an die arabische Stadt eine europäische in engstem Zu- sammenhange mit einer sich aus einem festen Lager entwickeln- den militärischen ankristallisiert, wie es in Algerien so häufig ge- schehen ist, wird sich hier jedenfalls rascher vollziehen als in anderen Orten Tunesiens. Das wird man aber voraussagen können, daß auch in Tunesien die französische Herrschaft für sehr lange Zeit eine militärische Gewaltherrschaft sein wird, wie sie es in Algerien noch heute ist. Riesige, an beherrschenden Punkten angelegte Kasernen, ganze für sich abgeschlossene Soldatenstadtteile, wie sie die Römer hier doch nur an wenigen besonders ausgesetzten Punkten hatten, kennzeichnen die Städte Algeriens fast ausnahmslos, wie solche die chinesische Herrschaft in Ostturkestan kennzeichnen. Noch heute stehen sich Franzosen und Eingeborene wie Öl und Wasser gegenüber, sie berühren einander, vermischen sich aber nicht. So wird es auch in Tu- nesien sein. So Großes Frankreich für Algerien getan hat, so viele Hunderte von Millionen französischen Geldes dort zu Ver- besserungen jeder Art verwandt worden sind, Anerkennung wird es dort niemals finden. Der Franzose ist eben, wie ich mich in Algerien von neuem überzeugen konnte, merkwürdig wenig be- fähigt, fremde Eigenart, fremdes Volkstum, eine anders geartete Volksseele zu verstehen und so auf sie einzuwirken. Italiener, so sehr sie als Verwalter und in anderen Hinsichten hinter den Franzosen zurückstehen, würden in Algerien mehr erreicht haben als Franzosen; Italiener würden nach meiner Überzeugung aus Tunesien in wenigen Jahrzehnten eine neue Provincia Afrika des — 333 — neu erstehenden Rom gemacht haben. Vor allem verfügen sie, ganz abgesehen von manchen Zügen, die wenigstens die Süd- italiener den sogenannten Arabern Nordafrikas näher bringen, über eins, was den Franzosen abgeht, über Menschen. So viel Raum Algerien bietet, so sind die italienischen und spanischen Einwanderer dort doch sehr ungern gesehen, der Haß gegen Fremde ist dort mit Furcht gepaart und von Brotneid groß- gezogen, und ist in Algerien mindestens ebenso groß wie in Frank- reich. Auch in Tunesien haben die Franzosen sofort mit syste- matischer Zurückdrängung aller Fremden aus den Ämtern, Handel und Wandel, ja, aus der wissenschaftlichen Erforschung des Landes begonnen. Trotz allem muß man jedoch, wenn man sich auf den rein menschlichen Standpunkt stellt, sagen, daß die französische Herrschaft in Tunesien für das Land und seine Be- wohner ein Segen, der Beginn einer neuen, besseren Zeit sein wird, und daß nur zu wünschen ist, daß die heutige Zwitter- stellunff bald ein Ende haben wird. 3. Reiseeindrücke aus Marokko im Jahre 1899. 0 Die sich periodisch erneuernden blutigen Aufstände in Ma- rokko, die Schwierigkeiten, in welche die marokkanische Regie- rung fast unaufhörlich mit den europäischen Wächten verwickelt ist, und die das Erscheinen von Kriegsschiffen, nicht gar selten auch deutschen, vor den wichtigsten Küstenplätzen herbeiführen. lenken immer wieder die Blicke der gesitteten Völker auf dieses heute einzigartig in der Welt dastehende Reich. Bei deutschen Lesern kommt noch hinzu, daß die deutschen Interessen in Ma- rokko in den letzten fünfzehn Jahren ganz außerordentlich ge- wachsen sind und wir deshalb wie wegen der sowohl an und für sich wie mit Rücksicht auf unsere überseeischen Beziehungen wichtigen Weltstellung dieses Landes allen Anlaß haben, dem- selben gespannte Aufmerksamkeit zu schenken. Um so mehr, als Frankreich soeben die marokkanische Frage von der Sahara aus aufzurollen und ein Umsturz im Innern sich vorzubereiten scheint. Marokko ist seit zwanzig Jahren Gegenstand meiner Studien. I) Deutsche Rundschau 1900. — 334 — Im Frühling 1888 habe ich dasselbe zum erstenmal betreten. Die Forschungspläne, die ich damals im Auge hatte, erwiesen sich aber als unausführbar. Das Gebirgsland von Nordmarokko, auf welches es mir ankam, ist noch heute unerforscht und wird im Angesichte von Europa, in Hörweite der Kanonen von Gibraltar noch für lange Zeit einer der unbekanntesten Teile, vielleicht sehr bald der unbekannteste Teil von Afrika sein. Dafür sorgen die von dem Sultan unabhängigen, freiheitliebenden Gebirgs- berbern, die, außerordentlich wachsam und argwöhnisch, unfehl- bar jeden Europäer, in welcher Verkappung immer er bei ihnen einzudringen suchen sollte, entdecken und umbringen würden. Im Februar 189g, während meines Aufenthaltes dort, ging in Tanger das Gerücht um, die Rhiata, einer dieser Stämme, welcher das Gebirge östlich von Fäs bewohnt und die Heere des Sultans oft genug blutig heimgeschickt hat, hätten zwei Engländer als Spione ergriffen, erschossen und ihre Leichen verbrannt. Ob etwas Wahres daran war, werden auf europäischer Seite wohl nur wenige Eingeweihte wissen, denn offiziell kann sich auch England in diesem Falle nicht um seine Sendlinge kümmern. Daß aber solche, und ähnlich wohl auch französische, abgesehen von den männlichen und weiblichen Missionaren, die sich nicht nur in den beiden Hauptstädten, sondern auch bereits in klei- neren Orten des Inneren niedergelassen haben, das Land er- forschen, unterliegt keinem Zweifel. Im Gegensatz zu den übrigen sind auch die Gebirgsberbern des Nordens durch den lebhaften, von Gibraltar und Spanien aus betriebenen Schmuggel mit vor- trefflichen Hinterladern bewaffnet und so dem Heere des Sultans überlegen. Als es mir endlich im Februar i8gg möglich wurde, meine marokkanischen Forschungspläne wieder aufzunehmen, hatte ich sie dahin abgeändert, daß sie nur dem Gebiete zwischen dem Atlasgebirge und dem Atlantischen Ozeane, dem Atlasvorlande, galten. Das ist der bei weitem wichtigste Teil des bei uns ge- wöhnlich als Sultanat Marokko bezeichneten großen Ländergebietes an der Nordwestecke von Afrika, das Herzland desselben. Tat- sächlich reicht nämlich die Herrschaft des Sultans nicht viel weiter als dieses weithin offene Atlasvorland; ja, ich konnte zu meinem Schaden feststellen, daß selbst da das Ansehen desselben nicht überall sehr s;roß ist. Man unterscheidet im Lande selbst — 335 — auch ganz allgemein das dem Sultan wirklich unterworfene Ge- biet, das Beled el Makhzen (Land der Kanzlei, Land der Re- gierung), vom Beled es Ssiba, dem von unabhängigen Stämmen bewohnten. Und dieses macht wirklich V3, wenn nicht mehr, der etwa dem lYg fachen des Deutschen Reiches an Ausdehnung gleichkommenden Ländergruppe aus, die unsere Kinder in der Schule als Sultanat Marokko auswendig lernen. Der größere Teil derselben ließe sich am besten unter den neuen Begriff der Interessensphäre einreihen. Aber selbst diese ruht auf so schwachen Füßen, daß kein Hahn danach krähen wird, daß die Franzosen soeben die Oasengruppe von Tidikelt in Besitz genommen haben und dem die Besetzung der noch weit wichtigeren von Gurara und Tuat wahrscheinlich sehr rasch werden folgen lassen. Diese tief in die Sahara vorgeschobenen, aber mit vom Atlas kom- mendem Wasser gespeisten Oasen waren tatsächlich unabhängig und benutzten den Sultan von Marokko, der ja für die moham- medanische Welt der Nordwestecke Afrikas das geistliche Ober- haupt ist, nur als deckenden Schild. Mein diesmaliger Aufenthalt in Marokko hat im ganzen vier Monate umfaßt, von Februar bis Juni. Ich sah mich zuerst zu einem mehr als zweiwöchigen Aufenthalte in Tanger ge- zwungen und lernte schon da mich daran gewöhnen, daß in Ma- rokko Zeit keinen Wert hat. Ich nützte diesen Aufenthalt, soweit die Zeit nicht von den Reisevorbereitungen in Anspruch genommen war, gründlich aus zu Ausflügen und kleineren Reisen, um mich an die Anstrengungen und Entbehrungen zu gewöhnen, die nähere und weitere Umgebung von Tanger kennen zu lernen und na- mentlich den Mann zu erproben, den ich als Dolmetscher, Koch, Diener und Karawanenführer in meinen Dienst genommen hatte. Also eine sehr wichtige Person. Es war dies ein Araber aus Algerien, der lange Jahre als Spahi, d. h, in der leichten ein- gebornen Reiterei der Franzosen, gedient, dabei Französisch ge- lernt und etwas europäische Kultur angenommen hatte. Er hatte namentlich im Dienste von Franzosen schon viele Reisen in Ma- rokko gemacht, freilich stets auf den altbegangenen Wegen, die ich eben vermeiden wollte. Er hat sich im allgemeinen bewährt und mich nicht mehr betrogen, als es landesüblich und nament- Uch durch die zahlreichen Gesandtschaftsreisen sozusagen als festes Herkommen eingebürgert ist. Durch angemessene, sorg- — 33^ — sam vorbedachte Behandlung und dadurch, daß ich seinen Vor- teil möglichst mit dem meinigen verknüpfte und ihm eine bevor- zugte Stellung einräumte, habe ich mir vielen Ärger und manche aufregende Szene, von denen man in den Berichten der Reisenden sonst liest, erspart. Ich überließ ihm vor allen Dingen die Ver- antwortung für die Last- und Reittiere und gegenüber meinen übrigen Leuten und schob ihn gewissermaßen als Puffer zwischen sie und mich. Dies System hat sich sehr gut bewährt; nur selten bin ich in die Notwendigkeit versetzt worden, ein kräftiges Wort zu reden. Von den kleinen Reisen von Tanger aus möchte ich nur eine hervorheben, welche als Probe meiner Leistungsfähigkeit dienen konnte. Es galt einem Ausfluge nach dem 40 km süd- lich von Tanger gelegenen Küstenstädtchen Azila. Durch Ver- mittelung unserer Gesandtschaft, die sich auf Empfehlung vom Auswärtigen Amte in Berlin meiner außerordentlich tatkräftig angenommen hat und der ich zu großem Danke verpflichtet bin, nahm ich vertragsmäßig einen von der Regierung gestellten be- rittenen Schutzsoldaten in meinen Dienst. Mein Führer mietete für mich und sich selbst Pferde. An Gepäck und Vorräten wurde nur das Unentbehrlichste mitgenommen, da ich an die angesehenste jüdische Familie in Azila empfohlen war und so- wohl den Hin- wie den Rückweg in je einem Tagesritt machen wollte. Es war Ende Februar, also noch in der Regenzeit. Heftiger Sturm und Regen, das in dieser Jahreszeit Tanger kennzeichnende, aber auch unerträglich machende Wetter, herrschte am Morgen, so daß mein Dolmetscher höchst erstaunt war, als ich ihm ein für alle Mal erklärte, daß nach dem Wetter nie ge- fragt werden würde. Wir ritten also ab. Ich wünschte, um eben das Land kennen zu lernen, den sogenannten inneren Weg zu nehmen, auf welchem man erst bei Azila selbst das Meer wieder erreicht. Das erwies sich sehr bald als unmöglich: der schwere rote Tonboden, welcher hier vorherrscht, war durch die anhal- tenden Regen unergründlich geworden. Schon einige Tage vorher hatte ich mich davon überzeugen können: der kleine Esel, den ich gewöhnlich zur größeren Bequemlichkeit ritt, weil ich meiner Studien wegen häufig absteigen mußte, versank mit dem Hinter- viertel derartig im Schlamme, daß ich absteigen und denselben mit Hilfe des Dolmetschers wieder herausheben mußte. Es blieb — 337 — uns nichts übrig als in südwestlicher Richtung so bald wie mög- lich das Meer zu erreichen, um den von der Brandung fest- geschlagenen Strand als jederzeit gangbaren Weg zu benutzen. Dazu waren alle Bäche und Flüsse angeschwollen, und etwa alle halben Stunden prasselte ein heftiger Regen, zuweilen mit Hagel abwechselnd auf mich herab. Den Sturm hatte ich stets im Gesicht, zehn Stunden lang! Denn mehr als fünf Kilometer in der Stunde war es unmöglich gegen den Sturm und bei der Be- schaffenheit der Wege zu machen. Gefrühstückt wurde im Sattel. Es sei gleich hier bemerkt, daß bis heute in ganz Marokko von einem künstlich gebahnten Wege, geschweige von Fahrstraßen keine Rede ist. Ebenso sind Brücken so selten, daß die wenigen aus der guten alten Zeit erhaltenen in einer ganzen Landschaft El Kantara, die Brücke, heißen. Bis ans Meer führte der Weg durch die menschenleere, immergrüne Macchia von Cherf el Akab und el Hawara, die zahl- reichen Wildschweinen Unterschlupf bietet. Erst wenige Tage vorher war die alljährlich von den Europäern in Tanger, zu denen Jagdliebhaber zum Teil von weit her stoßen, abgehaltene Wild- schweinsjagd beendigt worden. Die ganze Jagdgesellschaft, Damen und Herren, haust Tage lang unter Zelten, bei schlechtem Wetter in dieser Jahreszeit nicht angenehm. Man jagt die Wildschweine zu Pferde mit der Lanze — eine durchaus nicht ungefährliche Jagd. Am Strande erschwerten nur der Wind und die Mündungen der Flüsse und Bäche das Vorwärtskommen. Nach fünfeinhalb- stündigem Ritt erreichte ich den größten dieser Flüsse, den Mharhar, an der Mündung Tahaddart genannt, der so tief und wasserreich ist, daß er selbst bei Ebbe mit Hilfe der Barre nicht durchritten werden kann. Da der Strandweg im Winter allein die Verbindung zwischen Fäs und Tanger ermögUcht, dieser Übergang also sehr wichtig ist, so ist hier eine plumpe Barke als Fährboot aufgestellt. Die Fährleute hatten sich am Südufer in einer Reisighütte hinter der Düne verkrochen, und es dauerte lange, bis es gelang, durch Rufen und Schießen ihre Aufmerksam- keit zu wecken, noch länger, bis sie sich entschlossen, die Fahrt bei dem herrschenden Unwetter zu wagen. Endlich sah ich, wie sie einige beladene Esel einer Handelskarawane, die im Gebüsch versteckt gewesen war, herbeiführten, mit ihren Lasten ins Boot beförderten und abstießen. Man sah, daß sie schwer gegen Fischer, Mittelmeerbilder. 22 — 338 - Sturm und Wellen ankämpften. Mitten im Strome, der zurzeit hier etwa so breit war wie die Elbe bei Dresden, verloren sie plötzlich den Mut; sie kehrten um, luden Esel und Ladungen wieder aus und verschwanden! Meine Lage war nicht angenehm. Fast zwei Stunden schon war ich auf der kahlen Düne schutzlos dem Sturm und Regen ausgesetzt. Das Thermometer zeigte nur 12^^ C. Es schienen also nur zwei Möglichkeiten gegeben: entweder mit müden Tieren, wenn auch mit dem Winde, nach Tanger zurück oder ohne Zelt oder irgendwelchen Schutz und Vorräte im Gebüsch die Nacht verbringen. Ich versuchte es noch mit einem dritten: meine Leute mußten ihre Stimmen aufs äußerste anstrengen, Drohungen und Verwünschungen wurden nicht gespart, mein Soldat schwang drohend sein Gewehr. Das wirkte endlich. Die Fährleute kamen wieder aus ihrer Hütte hervor, machten das Boot flott, diesmal ohne Ladung, und arbeiteten sich durch den Wogenschwall hin- durch. Fünf Meter vom Ufer saß das hochbordige Boot fest. Nachdem Gepäck und Sättel ins Boot gebracht waren, galt es, die Tiere einzuschiffen. Welche Arbeit! Das Pferd des Sol- daten, von dem man annahm, daß es schon Erfahrungen ge- sammelt habe, mußte den Anfang machen. Es wurde ins Wasser geführt und mehr oder weniger höflich eingeladen, ins Boot zu springen. Es weigerte sich aber ganz entschieden, diesem An- sinnen Folge zu leisten. So wurde nun ein Strick an das eine Vorderbein gebunden und dieses von zwei Mann so über die Bordwand gehoben. Durch reichliche Prügel zwang man es dann, auch mit dem anderen Vorderfuß auf das Boot zu springen, und durch Schieben und Prügel wurde es schließlich zum entscheiden- den Sprunge auch mit dem Hinterteile gezwungen. Die anderen beiden Pferde ließen sich durch dies Beispiel nicht belehren; es mußte mit jedem genau das gleiche Verfahren eingehalten werden. Zuletzt stieg ich auf den Rücken eines der Fährleute und wurde so ins Boot befördert. Das Ausschiff"en ging etwas leichter von statten. Ich hatte von Glück zu sagen; denn nicht selten kommt es vor, daß die Fährleute, denen ihr Leben mehr wert ist, für kein Geld die Überfahrt wagen. Mein Dolmetscher erzählte mir, daß er einmal mit englischen Reisenden infolgedessen im Gebüsch die Nacht schutzlos habe verbringen müssen. In der beschriebenen Weise habe ich später mit meiner — 339 — ganzen Karawane den Übergang über den Um-er-Rbia an der Meschera bu Challü, über den Bu Regreg bei Sal6 und über den Sebu bei Meschera Bab el Ksiri bewerkstelligt. Das sind auch die einzigen Punkte in ganz Marokko, wo Fährboote aufgestellt sind, denn die wenigen Brücken finden sich nur bei kleineren, fast immer furtbaren Flüssen. Der Übergang über den Tahaddart hatte so viel Zeit er- fordert, daß es nun scharf zu reiten galt, um vor Torschluß Azila zu erreichen; ja, ich mußte den Soldaten vorausschicken, um das Tor offen zu halten. Denn in ganz Marokko werden mit Sonnenuntergang nicht nur die Stadttore, sondern auch die Tore, welche im Inneren die einzelnen Stadtviertel voneinander trennen, geschlossen. Das würde etwaige Abendgesellschaften selbstverständlich unmöglich machen, hat eben auch den Zweck, nächtliche Zusammenkünfte, Verschwörungen und Aufstände zu erschweren. Während meines erzwungenen siebzehntägigen Aufent- haltes in Marrakesch ist mir dieser frühe Torschluß überaus hinderlich gewesen. Wie oft mußte ich nach größeren Ausflügen bei der Unkenntnis der Entfernungen in gestrecktem Galopp zurückreiten, um noch in die Stadt zu gelangen! Noch zwei Flüsse galt es vor Azila auf der Barre zu durch- reiten, den Wed el Rha dicht vor Azila und den stark an- geschwollenen Wed Aischa weiter nördlich. Um die Schwierig- keiten, welchen der Verkehr in diesem Lande unterliegt, noch weiter zu kennzeichnen, möchte ich erwähnen, daß in eben dieser Gegend zwischen dem Wed Aischa und dem Wed Karrub, einem linken Zuflüsse des Mharhar, die ich beide Ende Mai auf demselben Wege ohne alle Hindernisse durchritten habe, die deutsche Gesandschaft unter Graf Tattenbach, die im April 1890 auf dem Wege nach Fäs war, sechs Tage lang, wie mir ein Teilnehmer erzählte, auf dem Plateau von Gharbia zwischen den angeschwollenen Flüssen gefangen war. Es regnete unablässig, das Lager verwandelte sich in einen Sumpf, die Lebensmittel begannen auszugehen! Endlich ließ der Regen nach und die Flüsse wurden gangbar. Wenn dergleichen einer wohl aus- gerüsteten und von den höchsten örtlichen Beamten des Sultans geleiteten Gesandtschaftskarawane geschehen kann, so wird man sich eine Vorstellung machen können, welchen Schwierigkeiten der gewöhnliche W^egeverkehr unterliegt. — 340 — Ich gelangte glücklich nach Azila hinein und fand bei dem jungen jüdischen Ehepaare, das das beste Haus von Azila be- wohnte, die denkbar liebenswürdigste Aufnahme. Spanisch, das mein Gastfreund und ich in gleichmäßig bescheidener Weise handhabten, ermöglichte die Verständigung. Der junge Mann stammte aus Azila, das eine starke jüdische Bevölkerung hat, war aber sehr jung nach Brasilien ausgewandert, wie sehr viele ma- rokkanische Juden, wohl wegen ihrer alten Beziehungen zu Por- tugal — die in der brasilianischen Einwandererstatistik so auffallende marokkanische Einwanderung setzt sich lediglich aus Juden zu- sammen — war dort in Parä Artillerieoffizier gewesen und nun, offenbar mit einem gewissen Vermögen, wieder heimgekehrt. Er hatte Grundbesitz erworben bzw. von seinem alten Vater, den ich auch kennen lernte, und der Azila nie verlassen hatte, über- nommen und trieb daneben Ausfuhr von Vieh, Fellen u. dgl. Ich benutzte den folgenden Tag, um die Stadt und auf längeren Ritten die Umgebung kennen zu lernen. Azila ist ein unsäglich armseliges, verkommenes Nest von kaum looo Einwohnern. Von außen sieht es, namentlich von fern, recht stattlich aus, denn die hohen, von den Portugiesen errichteten Mauern und Türme, durch die nur zwei Tore, eines an der See- und eines an der Landseite, führen, sind leidlich erhalten. Einige hohe Dattelpalmen, eine weithin leuchtende weiße Kubba, von einer Gruppe hochstämmiger Zwergpalmen umgeben, die in Nordmarokko nicht selten sind, schaffen nament- lich an der Nordseite eine außerordentlich malerische Szenerie. Aber im Innern welch ein Gewirr enger, von Schmutz, Unrat und Haufen kostbaren Düngers, den man in den Gärten so gut brauchen könnte, gefüllter Straßen mit niedrigen, armseligen, bau- fälligen Häusern, überall Zeichen der Verarmung! Azila, an deren Stelle schon eine phönikische und römische Siedelung Zilis • — der Name ist wohl ursprünglich berberisch — gestanden hat, verdankt seine Bedeutung dem Umstände, daß hier von Tanger südwärts zum ersten Male eine etwa 15 m hohe Fels- tafel jungtertiärer Schichten, wegen größerer Widerstandsfähigkeit von der Brandungswelle zu einem stumpfen Vorgebirge heraus präpariert, unmittelbar gegen das Meer vorspringt. Eine Klippen- reihe, gegen welche das Meer mächtig brandet, weist, in geringem Abstände der Küste vorgelagert, an einer Stelle eine Durchfahrt — 341 — auf und schafft so eine kleinen Fahrzeugen zugängliche, wenn auch wenig geräumige Hafenbucht, die einzige zwischen Tanger und Larasch. Dies und die fruchtbare, jetzt freilich als öde Zwergpalmensteppe daliegende Umgebung machte Azila lange Zeit zu einem der wichtigsten Stützpunkte der Portugiesen in Marokko. Als Festung, als welche es noch heute gilt, konnte es allerdings nie zu rechter Blüte gelangen und dadurch, daß es dem Fremdhandel verschlossen, ist sein Schicksal besiegelt. Drei kleine Fischerboote, die einzigen auf der 75 km langen Küsten- strecke zwischen Tanger und Larasch, unterhalten heute die Be- ziehungen zum Meere! Etwas Ackerbau, etwas Viehzucht, ein wenig Handel und Weberei grober Teppiche und Wollenstoife ernährt die Bewohner. Das Haus meines Gastfreundes zeigte echt arabische Bauart, ganz ähnlich demjenigen, welches mir später in Marrakesch von einem deutschen Schutzbefohlenen zur Verfügung gestellt wurde. Ist man durch die sich nur auf Klopfen öffnende Türe ein- getreten, so befindet man sich in einem engen Gange, welcher in geringer Entfernung von der Türe im rechten Winkel gebrochen ist. Hier befinden sich Sitze für die Türhüter und Diener. Dieser Gang öffnet sich auch noch nicht geradeaus, sondern nach einer Seite auf den inneren, viereckigen Hof. In meinem Hause in Marrakesch, das ganz neu gebaut war, konnte dieser Gang vom Hofe aus durch zwei Schießscharten unter Feuer genommen werden: wie eine Festung mitten in der 80000 Einwohner zählen- den Hauptstadt! Man kann von der Straße, nach welcher auch außer der Türe keine andere Öffnung angebracht ist, nicht in das Haus hineinsehen und nur schwer in dasselbe eindringen. Am Ende des Ganges oder auch vom Hofe führt eine durch eine Tür verschließbare, enge, steile Treppe, wiederum im rechten Winkel gebrochen, in das obere, den Frauen vorbehaltene Stock- werk. Inmitten des zementierten Hofes sammelt sich das Regen- wasser in einer Zisterne, bzw. wird es in dem wasserreichen Marrakesch, wo jedes Haus in der Ecke des Hofes einen Brunnen besitzt, in die Abzugskanäle geführt. Alle Räume des Hauses öffnen sich nach diesem Hofe, unten durch breite, hohe Türen, oben durch Fenster oder in offenen Terrassen. Hier zeigt sich denn auch in der Ausschmückung der Räume, namentlich durch bunte Arabesken und architektonische Verzierungen, Holz- — 342 — täfelungen u. dergl., noch etwas Luxus. Vornehmere Häuser, wie ich solche in Fäs sah, sind sogar noch sehr reich ausgestattet, wenn auch nur ärmlich gegen früher. Alles Leben ist so nach innen gekehrt. Nach der kahlen, oft baufällig erscheinenden Außenseite der Häuser kann man nicht auf das Innere schließen; der furchtbare Despotismus zwingt jeden Schein von Wohlstand zu vermeiden. Der Einblick, welchen ich bei meinem Gastfreunde in das P'amilienleben dieses jungen, allerdings ,, europäisch" beeinflußten Haushalts erlangte, war nicht uninteressant. Das Eltempaar be- saß drei kleine Mädchen, die alle in Brasilien geboren waren. Trotz der ziemlich kühlen Witterung liefen sie bloßfüßig und in sehr leichter, etwas schmutziger Gewandung herum, zeigten sich aber als recht wohlerzogen. Die junge Hausfrau kochte und bediente den Gast und den Gatten beim Essen selbst, obwohl eine junge schieläugige, und eine alte, korpulente Dienerin, über- dies ein Araber als männliches Faktotum vorhanden waren, der die Rolle zu spielen schien wie bei uns ein Dienstmädchen, andererseits aber zu Fuß, „als Läufer", seinen Herrn auf Aus- flügen, das Gewehr tragend, nach Landessitte begleitete. Nur mit Mühe und auf die liebenswürdigste Aufforderung hin gelang es mir, die Hausfrau zu bewegen, sich für kurze Zeit mit an den Tisch zu setzen. Die Speisen waren alle sauber und gut zubereitet, bestanden freilich, da Fleisch in dem armen Orte selten zu haben ist, nur aus .Geflügel und Fisch. Aber recht bezeichnend wurde alles in unglaublicher Fülle aufgetragen, und eine Mahlzeit reihte sich an die andere. Es lohnt vielleicht, im unmittelbaren Anschluß daran ein Gastmahl zu schildern, welches mir ein deutscher Schutzbefohlener in dem 22 km südwestlich von Marrakesch gegen den Fuß des Atlas hin gelegenen Oasenstädtchen Tameslocht gab. Zum Ver- ständnis sei schon hier erwähnt, daß in Marokko nur derjenige seines Lebens und Eigentums sicher ist, dem es gelingt, sich den Schutz einer europäischen Macht zu erwerben. Nachdem lange Zeit mit dieser Schutzverleihung unerhörter Mißbrauch getrieben worden war, indem die Konsuln einzelner Mächte, namentlich solcher, die ganz und gar keine wirklichen Interessen in Marokko haben und auch gar nicht in der Lage sein würden, wirklichen Schutz zu ge- währen, diesen Schutz jedem, der zahlen konnte, darunter recht vielen — 343 — unlauteren Elementen, verliehen, ist das \"erhältnis unter Beseitigung der schreiendsten Mißbräuche vertragsmäßig mehr oder weniger ein- heitlich dahin geregelt, daß jedes in Marokko ansässige europäische Handelshaus das Recht hat, eine gewisse Anzahl (bei den deut- schen vier) Eingeborener als Semsare, gewissermaßen als Ver- mittler des Handels, Einkäufer u. dgl. als Vertrauenspersonen anzunehmen und unter den Schutz seines Staates zu stellen. Es erwachsen dem Betreffenden natürlich daraus große Vorteile, aber das Verhältnis ist kein lebenslängliches, der Schutz kann wieder entzogen werden. Der Schutzbefohlene steht in einer gewissen Abhängigkeit von der Schutzmacht und dem betreffenden Handels- hause. Das erklärt, daß die Schutzbefohlenen , wie ich dankbar anerkenne, gern bereit sind, jeden Angehörigen der Schutzmacht, namentlich wenn derselbe, wie in meinem Falle, nachdrücklich empfohlen ist, in jeder Weise zu fördern. Dadurch, daß nun deutsche Handelshäuser Niederlassungen auch in Marrakesch — meines Wissens 189g die einzigen europäischen — und in Fäs gegründet haben, gibt es auch so tief im Innern deutsche Schutzbefohlene und deutsche Interessen, Viel ausgedehnter und der Zahl nach nicht begrenzt ist aber das Schutzverhältnis niedrigeren Grades, das der sogenannten Mochallads. Dies hat sich dadurch ausgebildet, daß außer in und um Tanger Eu- ropäer kein Grundeigentum erwerben dürfen, auch eine der Maß- regeln, durch welche die marokkanische Regierung europäische Einflüsse fernzuhalten bemüht ist. Diese Bestimmung wird um- gangen dadurch, daß der Mochallad der Scheineigentümer von Grundstücken, Herden u. dgl. des Europäers ist und von diesem demnach einen gewissen Schutz genießt. Jedes Handelshaus darf jährlich fünf neue Mochallads bei der Gesandtschaft zur Auf- nahme vorsclilagen, so daß die Zahl derselben und damit natür- lich auch die Schwierigkeiten für die marokkanische Regierung beständig wachsen. Wenn z. B. — und ich habe einen be- stimmten Fall im Auge — der Kaid, der Provinzgouverneur, die Summen, die er, sei es als regelrechte Steuern aufbringen muß, sei es um sich zu bereichern oder durch Bestechung in seiner Stellung zu behaupten, nötig hat, sich in der landesüblichen Weise verschafft, indem er irgend einem Untertanen die Herde wegnimmt, um sie zu verkaufen, so erklärt der Betreffende, wenn er Mochallad ist, die Herde sei Eigentum des oder des Europäers, — 344 — der natürlich auch seinerseits mit Nachdruck auftritt: der Kaid muß seine Beute fahren lassen. Um der mir persönlich vorgetragenen Einladung des er- wähnten deutschen Schutzbefohlenen zu entsprechen, ritt ich denn eines Morgens in Begleitung des jungen deutschen Kaufmanns, der als einziger Deutscher neben vielleicht noch acht bis neun anderen Europäern in Marrakesch wohnt, aus dem Südwesttore, dem Bab Roab. Mein Schutzsoldat und der Diener meines Be- gleiters durften zum Ausdruck der Würde des Europäers nicht fehlen. Der Weg durch die steinige, tischgleiche Steppe, die sich an der Südwestseite unmittelbar vor den Toren ausbreitet, und über die nur einzelne, aus Olivenhainen und Dattelpalmen gebildete Berieselungsanlagen verstreut sind, wurde selbstverständ- lich in beiden Richtungen mit Uhr und Kompaß sorgsam auf- genommen und hat für den Geographen viel Anziehendes. Tames- locht selbst, von welchem ich einige wohlgelungene photographische Aufnahmen gemacht habe, ist ein verhältnismäßig sauberes Städt- chen mit einer schönen Moschee und einigen ansehnlichen euro- päischen Schutzbefohlenen gehörigen Häusern. Es verdankt sein Dasein der Fülle von Wasser, welches der in geringer Entfernung aus dem Atlas hervorbrechende Tensiftzufluß Rherhaya zu Be- rieselungszwecken spendet. Die Bevölkerung, die berberischen Ursprungs ist, ließ keine Spur von Fremdenhaß erkennen, so selten der Ort auch von Europäern besucht wird. Wir wurden von unserem Gastfreunde am Tore empfangen und in sein Haus geleitet; hier, in einem äußeren, in der Mitte mit einer kleinen Gartenanlage gezierten Hofe, auf welchen die zum Empfang von Männern bestimmten Räume münden, wurden uns zunächst zur Erfrischung nach dem fast dreistündigen, heißen Ritte der landesübliche, durch grüne Pfefferminzblätter gewürzte Tee und von den selbstverständlich unsichtbar bleibenden Frauen fein hergestellte Honigkuchen aus Weizenmehl dargeboten. Den Tee bereitete der Hausherr selbst über einem hübschen, kupfer- nen Kohlenbecken in einem schön geformten kupfernen Kessel, die beide in Mogador in altüberlieferter Form hergestellt werden. Den Tee, möglichst heiß und überaus süß — der Zuckerverbrauch ist in Marokko ein relativ großer, die Einfuhr, meist aus Frank- reich, bedeutend — trinkt man aus kleinen, bunten Mokkatassen europäischen Ursprungs, jede verschieden von der anderen. Zu- — 345 — gleich wurde ein flacher Korb mit Datteln, Feigen und Walnüssen (ans dem Atlas) herumgereicht. Der Tee spielt in Marokko genau die Rolle des Kaffees in der Türkei; er wird überall so- fort vorgesetzt, und man hat im Lauf des Tages Gelegenheit, ungezählte Täßchen zu trinken. Tee ist auch auf der ganzen Reise fast mein einziges Getränk gewesen, da ich alkoholische Getränke grundsätzlich vermied, und das Wasser fast überall so schlecht ist, daß ich es ebenfalls grundsätzlich niemals unfiltriert und ungekocht getrunken habe, selbst wenn mir die Zunge am Gaumen klebte. Im schlimmsten Falle band ich mir ein feuchtes Tuch vor den Mund. Freilich nützte das nicht sehr viel, denn die Lufttrockenheit war schon im Mai so groß, daß es meist in einer halben Stunde wieder völlig trocken war. Der Pfingst- sonntag wird mir unvergeßlich sein. An diesem Tage war ich zwischen Fäs und Tanger in der Umgebung des Serhungebirges infolge der mangelnden Ortskenntnis meines Führers zehneinhalb Stunden im Sattel, ohne etwas zu essen und zu trinken, außer ein wenig saurer Milch, die ich in einem Nomadenlager erlangte, bei 38,5° C im Schatten! Um sechs Uhr abends erreichte ich endlich meine Karawane und konnte mich an mehreren Litern Tee erquicken. Dann war ich aber wieder so frisch, daß ich noch einundeinhalbe Stunde in der Abendkühle zu Fuß gehen konnte, um die mit den Kameleu vorausgeschickten und inzwischen schon aufgeschlagenen Zelte zu erreichen. Nachdem wir uns so in dem kühlen, nur mit Polstern und Matratzen ausgestatteten Räume, der zugleich als Schlafzimmer für Gäste diente, erfrischt und ausgeruht hatten, folgte ein Spazier- gang, der zu verschiedenen photographischen Aufnahmen benutzt ward und in einem Garten unseres Gastfreundes endigte. Dort waren bereits im Schatten blühender Apfelsinen- und anderer südlicher Fruchtbäume mitten im üppigen Grün Teppiche und Polster gelegt, auf denen wir zwei Europäer uns ausstreckten, während der Hausherr das nun beginnende Mahl wiederum mit Bereitung und Darreichung von Tee begann. Dann wurde von einem Negersklaven, wüe sie in Marokko außerordentlich zahlreich sind, Wasch wasser aus kupferner Kanne über unsere Hände ge- schüttet, während der Hausherr selbst die Gäste ehrte, indem er eigenhändig aus schöngeformtem silbernen Gefäß, das in eine offene Spitze auslief, uns Kopf und Schulter reichlich mit Rosen- — 346 — Wasser besprengte. Diese Ehrung wiederholte sich während der langen Dauer des Mahles abwechselnd mit Durchräucherung mit duftigem Sandelholz, das in einem silbernen Gefäße mit durch- brochenem Deckel entzündet war. Dieser letzte Genuß wurde auch meinem Soldaten und Diener gegönnt. Auch für Tafel- musik war gesorgt. Drei alte Männer mit grauem Bart und Haar bildeten die Hauskapelle. Als Instrument zur Begleitung ihres Gesanges diente ihnen die Taricha, ein bunt bemalter Ton- zylinder, der an der einen etwas breiteren Öffnung mit einem Stück Schaf- oder Ziegenfell überspannt, an der anderen offen, in der Mitte etwas zusammengedrückt ist. Indem man mit der flachen Hand auf das überzogene Ende schlägt, erzeugt man trommelähnliche Töne. Der eine der drei alten Barden begleitete lediglich durch Händeklatschen. Der Inhalt der Gesänge entzieht sich leider meiner Kenntnis; er war aber derartig, daß die Ge- sichter der greisen Sänger, namentlich des einen, vor Begeisterung strahlten. Selbstverständlich belohnten wir die Sänger und die Dienerschaft reichlich. Vielleicht wünscht der Leser auch die Speisenfolge kennen zu lernen? Als erster Gang erschien in einer großen Schüssel mit konischem Deckel Taschin, ein Gericht, das aus großen Brocken gedünsteten Hammelfleisches besteht, das mit Oliven und Limonenschnitten in einer stark gepfefferten Öltunke liegt. Der Hausherr reichte dazu mit der Hand abgerissene Stücke frischen Brotes, wie es allgemein in Marokko in flachen, etwa 25 cm im Durchmesser haltenden Laiben gebacken wird. Es ist frisch ganz gut, hält sich aber nur wenige Tage. Ich hatte dies Gericht schon vor dreizehn Jahren in Südtunesien kennen gelernt, wo mir ein Schech des halbnomadischen arabisierten Berberstammes der Freschisch in seinem Zelte ein Gastmahl gab. Es sagt dem europäischen Gaumen, weil zu fett und zu stark gewürzt, nicht recht zu. Als zweiter Gang erschien eine mäch- tige Schüssel Kuskussu, das nordafrikanisch-arabische National- gericht, wieder mit Hammelfleisch. Mit frischer Butter zubereitet, wie hier, ist es ein wundervolles Gericht; leider aber wird es in Marokko, wo man nur ranzig gewordene Butter gut tindet, meist mit solcher bereitet und ist dann für Europäer ungenießbar. Wie oft habe ich meine Gastfreunde kränken müssen, indem ich es ablehnte, den vorgesetzten Kuskussu zu essen. Aber wichtiger — 347 — als die Gesetze der Höflichkeit ist auf einer solchen Reise pein- lichstes Fernhalten aller gesundheitsstörenden Einflüsse. Kuskussu wird aus jeder Sorte Mehl, am besten natürlich aus Weizenmehl hergestellt, das, ein wenig angefeuchtet, von den Frauen mit der Hand zu griesähnlichen Kömchen gerollt wird und dann, an der Sonne getrocknet, lange haltbar ist. Um daraus das Gericht herzustellen, wird dieser Grundstoff in besonderen eisernen oder irdenen Töpfen mit Butter gedämpft und dann, nicht selten mit einem Saffranüberguß , mit Stücken von Hammel- oder Hühner- fleisch überdeckt, aufgetragen. SelbstverständUch ißt man mit den Fingern, und es gehört eine gewisse Fertigkeit dazu, den Kuskussu zu Kugeln zu ballen. Da diese dem Europäer abgeht, so erfordert es die arabische Höflichkeit, daß der Gastgeber dies tut und dem Gast die Kugeln in den Mund schiebt. Mit Staunen habe ich gesehen, welche unglaubliche Mengen Kuskussu der Marokkaner verzehren kann. Ich hatte namentlich unter meinen Leuten einen Neger, der, wenn mir, wie es oft geschah, eine reichliche Muna (Gastgeschenk) geboten wurde, eine Leistungs- fähigkeit im Essen besaß, die über das Menschliche hinausging. Immerhin hatte er sich zweimal krank gegessen und konnte der Karawane nicht folgen. Da seine sonstigen Leistungen diesen nicht entfernt gleich kamen, so war ich schnöde genug, ihn, als ich in Casablanca den Ozean wieder erreichte, unter Abzug einer Tageslöhnung zu entlassen. Als weiterer Gang kamen wieder Datteln, Feigen, Walnüsse und Apfelsinen, die zu pflücken man nur den Arm auszustrecken brauchte. Den letzten Gang bildete ein ganzes Viertel eines Hammels, außerordentlich saftig und wohlschmeckend, über off"e- nem Feuer am Spieß gebraten. Der Hausherr riß mit der Hand die saftigsten Stücke, namentlich knusperig gebratene Fetteile, ab und reichte sie den Gästen. So wohlschmeckende Braten ver- mögen allerdings nur die von den aromatischen Pflanzen der Mittelmeerflora genährten Hammel zu bieten. Als Getränk beim Mahle diente in großen, tiefen Schalen herumgereichte süße und saure Milch. Einer der Tischgenossen nach dem anderen, von mir angefangen, trank in langen Zügen und reichte die Schale dem Nachbar. Jedes Gericht ging von uns, den zwei Europäern und dem Hausherrn, an die ,, Marschallstafel" , welche mein Soldat, der - 348 - Diener und die drei Musikanten bildeten, von dieser an die weiter abseits sitzende Dienerschaft des Hauses. Das Mahl hatte auf meinen Soldaten einen so überwältigenden Eindruck gemacht, daß meine übrigen, in Marrakesch zurückgelassenen Leute, den Dolmetscher eingeschlossen, von Schmerz erfüllt waren, nicht dabei gewesen zu sein. Händewaschen deutete den Schluß des Mahles an. Nachmals Tee. Ins Haus unseres Gastfreucdes zurückgekehrt, wurden uns sehr verlockend aussehende gebratene junge Hühner zum Ab- schiedsimbiß geboten. Als wir die gänzliche Unfähigkeit zu wei- teren kulinarischen Genüssen darlegten, ließ der Hausherr frische Brote kommen, die er geschickt aufschnitt und je eins als Hülle eines Huhnes verwendete, so daß sie unsere Diener als Weg- zehrung mitnehmen konnten. Zum Glück hatten wir einen scharfen Ritt vor uns, um Marrakesch vor Torschluß zu erreichen. So blieb das Gastmahl von Tameslocht ohne üble Folgen. Doch begeben wir uns wieder nach Azila. Im Laufe der zwei Tage waren die Flüsse noch mehr angeschwollen, die Wege noch grundloser geworden. Ein Araber, der am Tage vor meiner Rückkehr nach Tanger auf dem kürzesten Landwege auf gutem Pferde von dort gekommen war, hatte zwölf Stunden gebraucht. So schlug ich denn den einzig möglichen, wenn auch sehr viel längeren Weg längs des Meeres bis zum Kap Spartel ein und benutzte von da die Straße, welche die internationale Leucht- turmkommission angelegt hat. Sie führt von diesem Kap mit dem einzigen, von jener Kommission erbauten und unterhaltenen Leuchtturm in ganz Marokko nach Tanger über die Höhe des Djebel. Alle Karawanen von Fäs nach Tanger mußten in dieser Zeit diesen Umweg machen trotz der Kosten, welche das Über- setzen über den Tahaddart verursacht. Mein Gastfreund geleitete mich zu Pferde noch bis an die Mündung des Wed Aischa und ließ durch seinen Diener untersuchen, ob die Barre über- haupt gangbar war. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte ich einfach wie Graf Tattenbach warten müssen, bis sich das Wasser verlaufen hatte. Endlich waren alle Vorbereitungen beendet, ich schiffte mich in Tanger auf einem kleinen französischen Handelsdampfer ein und erreichte auf ungewöhnlich günstiger Fahrt am fünften Tage — 349 — Mogador, den südlichsten dem auswärtigen Handel geöffneten Küstenplatz von Marokko. Das Einschiffen auf der Reede von Tanger war sehr schwierig, denn es tobte ein heftiger Oststurm. Tanger ist wegen seiner im Vergleich zu Gibraltar ungeschützten Lage an der Meerenge ein arges Windnest, was im Sommer allerdings angenehm ist. Durch die Meerenge nämlich und durch den schmalen Westzipfel des Mittelmeeres, der im Norden wie im Süden von hohen Gebirgen begrenzt wird, vollzieht sich der Luftdruckausgleich zwischen dem namentlich im Winter große Gegensätze der Erwärmung und des Luftdrucks gegenüber den gleichen Breiten des Ozeans aufweisenden Mittelmeere und dem Ozean. Die Meerenge wird dadurch zu einem der greulichsten Zuglöcher der Erde. Bald bläst es aus Westen, bald aus Osten. Wenig südlich von Kap Spartel trat herrliches Wetter ein, so daß mein Dampfer alle Küstenplätze anlaufen konnte, und es mir sogar möglich war, überall zu landen, eine seltene Gunst an dieser gefürchteten, beständig von heftiger Brandung bestürmten Küste. Kaum war ich in Mogador gelandet, als der Sturm wieder losbrach, und mein Dampfer schleunigst das hohe Meer gewinnen mußte, um nicht an die Küste geworfen zu werden. In Mogador rüstete ich meine Karawane aus, da inzwischen auch mehi großes Gepäck dort eingetroffen war. Dank der überaus liebenswürdigen und tatkräftigen Llilfe unseres dortigen Konsuls, Herrn von Maur, eines ausgezeichnete^ Kenners von Land und Leuten, war das in vier Tagen möglich. Es galt, Maultiere und Pferde zu kaufen, was sich empfiehlt, um von den Vermietern unabhängig zu sein, ferner Leute anzuwerben, vor allem einen Soldaten, der vertragsmäßig jeden Reisenden be- gleiten muß, zum Ausdruck, daß derselbe mit Erlaubnis und unter dem Schutze der Regierung reist. Die Menschenkenntnis unseres Konsuls verschaffte mir einen relativ so tüchtigen Sol- daten, daß ich denselben auf der ganzen Reise behalten und erst in Tanger entlassen habe. Dann galt es auch, die drei von der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, der ich für Förderung meiner Reise zu großem Danke verpflichtet bin, mir geliehenen Zelte der Landesnatur anzupassen. Sie hatten Dr. von Drygalski in Grönland gedient! Mit Rücksicht auf die heftigen Wirbel- stürme, die schon im Frühling im Innern gelegentlich auftreten, und die mein Dolmetscher schon hinreichend kennen gelernt hatte, — 350 — mußten die Stricke verstärkt und die Zeltpflöcke sorgsam herge- richtet werden. Zu letzteren wählte ich, des Felsbodens wegen, das festeste Holz, das im Lande vorkommt, das wirklich eisen- feste Holz von Argania sideroxylon, einem ölhaltige Früchte tra- genden Baume, der auf der ganzen Erde nur in Südwestraarokko vorkommt, allerdings — wie ich nachgewiesen habe — viel weiter nach Norden, als man bisher annahm, nämlich noch nördlich vom Um-er-Rbia, dem Strome Mittelmarokkos, Recht bezeichnend war es, daß ich, um die Zeltpflöcke rechtzeitig zu bekommen, einfach meinen Soldaten in die Werkstätte des Schreiners stellen mußte mit dem Befehl, denselben keine andere Arbeit anrühren zu lassen, bis die Zeltpflöcke fertig gehauen waren. Könnte man doch bei den Handwerkern unserer Kleinstädte so verfahren! Am Morgen des Palmsonntags, den 26. März, ritt ich aus dem Tore von Mogador gegen Nordnordosten, um den Tensift, den Hauptfluß von Südmarokko, zu erreichen. Das nächste Ziel war das Tal von A'in el Hadschar, an der Südostseite des schmalen, nahe der Küste steil aufsteigenden Dschebel Hadid (Eisengebirge). Ich legte diese Strecke in Gesellschaft der Familie und des ganzen Haushalts unseres Konsuls zurück, der, wie alljährlich im Frühling und im Herbst an diesem lieblichen Fleckchen Erde ein paar Wochen verbringt. Zuweilen schließen sich auch andere Familien an. Mogador ist ein weißer Steinhaufen, sozusagen auf einer Insel , an der Landseite von einem breiten Gürtel vege- tationsloser hoher Dünen umgeben, ohne alles Grün. Ohne eine solche Abwechselung, zumal auch gesellige Zerstreuungen bei der geringen Zahl der Europäer kaum geboten werden, würde das Leben dort unerträglich sein. Der sinnige Deutsche flüchtet sich da in die Natur. Eine herrliche Quelle, die unter Felsen hervorbricht, daher Ain el Hadschar, die Steinquelle, genannt, schafft hier, 25 km von Mogador, nur etwa 10 km vom Meere, aber durch einen mit Buschwald bedeckten Bergrücken davon ge- trennt, eine Gartenoase, die freilich heute verwildert daliegt. Im Tale selbst findet sich keine Siedelung, nur eine malerische Kubba; auf den umgebenden Höhen aber erblickt man zahlreiche kleine Berberndörfer. Ich schlug meine Zelte neben denjenigen unseres Konsuls auf und genoß ein paar Tage die Gastfreund- schaft dieser lieben Menschen. Die Umgebung, die landschaft- lich, geographisch und geologisch äußerst anziehend ist, zeigt — 351 — allenthalben die Spuren eines uralten, wohl auf die Karthager zurückgehenden Eisenbergbaus. A'in el Hadschar ist wie ge- schaffen, um einmal ein klimatischer Winterkurort ersten Ranges zu werden. Am 30. März brach ich von Ain el Hadschar auf und erreichte in starkem Tagemarsche den Tensift bei Sidi A'issa el Bochabia, wo derselbe aus engem Felsentore, etwa 18 km vom Meere, in die kleine Küstenebene El Amr eintritt. Hier lag die Grenze des wissenschaftlich Unbekannten. Das untere, vielgewundene, felsige, daher wenig wegsame Tensifttal war bisher so gut wie unbetreten. Das bestimmte mich, den Versuch zu machen, dem- selben zu folgen und den Lauf des Flusses zu erforschen und aufzunehmen. Es gelang allerdings nur, indem ich mich andert- halb Tage von meiner Karawane, die gebahnte Wege nördlich vom Flusse einschlug, trennte und nur von meinem Soldaten und einem Ortseingeborenen als Führer und Furtsucher begleitet, vor- drang. Ich mußte den Fluß bis Marrakesch nicht weniger als siebzehnmal durchreiten, was nur bei dem ungewöhnlich niedrigen Wasserstande möglich war. Die Trennung von meiner Karawane und dem Dolmetscher, der eben zugleich Karawanenführer war, hatte für die Erforschung, abgesehen von anderen Unbequemlich- keiten, den Übelstand, daß ich, zu Sprachlosigkeit verurteilt, keine Erkundigungen einziehen konnte. Der Fluß durchströmt zum Teil ein furchtbar ödes Steppenland. Am 4. April traf ich in Marrakesch ein und fand, wie schon erwähnt, dank der werktätigen Hilfe des dort wohnenden jungen deutschen Kaufmanns Heinrich Marx, Vertreter des glei- chen Hauses in Mogador, Unterkunft in dem mir zur Verfügung gestellten Hause eines deutschen Schutzbefohlenen. Das liebens- würdige Entgegenkommen seitens der Herren Marx und aller in Marokko lebenden Deutschen wird mir immer in dankbarer Er- innerung bleiben. Hier bewährte sich mein Spahi vorzugsweise als Koch, denn ich mußte, ganz wie draußen in der Steppe, eigenen Haushalt führen. Da der Geleitsbrief des Sultans, in dessen Residenz ich mich jetzt befand, noch immer nicht aus- gefertigt war, obwohl er schon im Februar, sofort nach meiner Ankunft von selten der Gesandschaft beantragt worden, so ver- längerte sich mein Aufenthalt in Marrakesch auf siebzehn Tage; denn da wenig sichere Gegenden vor mir lagen, so konnte ich — 352 — ohne einen solchen Geleitsbrief nicht weiter. Ich nutzte diese Zeit gründlich zur Erforschung der näheren und weiteren Um- gebung von Marrakesch aus. Hier, nach zwei Monaten, stieß nun endlich auch mein von vornherein in Aussicht genommener Be- gleiter, der österreichische Hauptmann E. Wimmer, ein naher Verwandter, zu mir. Er war im Augenblicke der Abreise von Wien erkrankt, hat mich aber in der zweiten Hälfte der Reise in überaus dankenswerter Weise bei meinen vielseitigen Arbeiten unterstützt. Zugleich mit ihm kam ein bekannter deutscher Welt- reisender an, Herr Graf Joachim Pfeil, um mit uns für die näch- sten drei Wochen Freude und Leid zu teilen. Beide Herren hatten den viel begangenen Weg von Mogador her benutzt. Der wissenschaftlich wichtigste, schwierigste und anstrengendste Teil der Reise folgte nun. Am 21, April, als endlich der Sultans- brief in meine Hand gelangt war, brachen wir von Marrakesch auf. Zunächst ging es nach Osten durch die Hochebene immer näher ans Gebirge und schließlich in eines der Atlastäler hinein bis Demnat, Hier fand ich eine ausgesucht unhöfliche Aufnahme seitens des Stellvertreters (Khalifa) des Gouverneurs, der selbst noch in Marrakesch war, das einzige Mal auf der ganzen Reise — soweit Beamte des Sultans in Frage kamen. Denn Aus- spucken, Flüche und Verwünschungen der Bevölkerung habe ich oft genossen. Das hat mir aber keinen Kummer gemacht. Auch das ließ sich ertragen, daß man gelegentlich alle Lebensmittel verweigerte, da ich schon einmal mit Konserven auskommen konnte. Schlimmer war es, wenn mir Milch verweigert wurde, auf die ich großes Gewicht legte. Im Winter und im Frühling, wenn die Steppe überall grün ist und Futter reichlich vorhanden, ist auch fast überall Milch zu erhalten. Einmal, allerdings in der Nähe einer Sauia (etwa eines Klosters), die immer Sitze des mohammedanischen Fanatismus sind, verhöhnte man mich noch, indem man Kuhherden mit strotzenden Eutern an meinem Lager vorbeitrieb. Als ich in Demnat einritt, erwartete ich vergebens, daß mir der Khalifa oder wenigstens ein von ihm Beauftragter entgegen- komme, um mich zu begrüßen und den Lagerplatz anzuweisen, obwohl ich einen Reiter vorausgeschickt hatte, um mich anzu- melden. Ich ritt durch die Stadt bis vor die Kasbah, keine amtliche Persönlichkeit ließ sich seilen, trotzdem uns Hunderte — 353 — von Menschen umdrängten. Da riß mir die Geduld, und ich ergriff, wie ich wußte, das einzig wirksame Mittel: ich gab mit dem nötigen Minenspiel, das alle verstanden, meiner Empörung über diese Art, einen Europäer, einen Deutschen, zu empfangen, der mit einem Geleitsbriefe und als Gast des Sultans reise, kräftigen Ausdruck ; ich erklärte, solch ein Empfang sei mir noch nirgends zuteil geworden, und ich würde darüber sofort an den Sultan berichten. Mein Dolmetscher mußte dies der lauschenden Menge übersetzen und ich glaube, er hat es in nicht mißzuver- stehenden Ausdrücken getan, denn er wußte wohl noch besser als ich, daß es schlimm um uns stehen werde, werm es nicht gelänge, den Leuten zu imponieren. Darauf gab ich Befehl, die ganze Karawane solle umkehren und das Lager auf einem freien Platze aufgeschlagen werden, den ich innerhalb der Stadtmauern, nahe dem Tore, beim Einreiten gesehen hatte. So geschah es. Noch waren meine Leute nicht mit dem Aufschlagen der Zelte fertig, da zeigte sich die Wirkung: der Khalifa mit Gefolge er- schien, um sich zu entschuldigen und uns einzuladen, in der Kasbah abzusteigen. Ich wies ihn zurück und verharrte dabei, ich würde dem Sultan berichten. Nicht lange dauerte es, da kam eine Schar von Dienern und brachte eine reiche Muna (Gastgeschenk), wie sie allerdings die Gouverneure denen zu liefern verpflichtet sind, die mit einem Geleitsbriefe des Sultans reisen: einen Hammel, ein halb Dutzend Hühner, einen Korb mit Eiern, ein halb Dutzend (kleiner) Zuckerhüte, einige Packete Kerzen und reichlich Gerste für die Tiere, Ich wies alles mit Stolz und Verachtung zurück, wobei ich freilich Mühe hatte, mir das Lachen über die Komödie zu verbeißen. Erst auf dringendes Bitten meiner Leute, denen der etwaige Verlust der schönen Sachen doch nahe ging, ließ ich mich herab, sie anzunehmen und schließlich dem Khalifa auf nochmaliges Bitten zu erklären, daß ich versöhnt sei und keinen Bericht an den Sultan machen werde. Ein derartiges Auftreten war unerläßlich, denn der Ma- rokkaner erkennt nur in dem den Herrn, der auch als solcher auftritt. Ich wäre auch meinen Leuten gegenüber, auf die ich, wenigstens noch für den vor mir liegenden neuntägigen an- strengenden Marsch durch zum großen Teil unbekanntes Gebiet angewiesen war, verloren gewesen, wenn ich mir diese umziem- liche Behandlung hätte gefallen lassen. Fischer, Mittelmeerbilder. 23 — 354 — Zum Teil erklärte sich allerdings das Benehmen des Khalifa. Der arme Mann hatte den Kopf verloren und war selbst in einer sehr gefährlichen Lage. Schon am frühen Morgen, beim Auf- bruch aus der Kasbah von Tifsist, wo wir die letzte Nacht ver- bracht hatten, kam die Nachricht, zwanzig Insassen des Gefäng- nisses von Demnat seien ausgebrochen. Auch bei uns wäre das keine der Bevölkerung und der verantwortlichen Behörde ange- nehm klingende Nachricht. Nun vollends in Marokko ! Wie ein Gefängnis in Marokko beschaffen, ist ja oft geschildert worden, niemals übertrieben, so haarsträubend uns auch diese Schilde- rungen erscheinen mögen. Dem entspricht die Stimmung der Gefangenen. Diese sind entweder tatsächlich der Abschaum der Bevölkerung, Räuber und Mörder, oder ganz unschuldige, biedere Leute, die nur das Unglück haben, dem örtlichen Machthaber zu mißfallen oder im Verdachte stehen, Geld zu besitzen. Daß Leute bloß zu Erpressungszwecken ins Gefängnis geschickt werden, ist eine alltägliche Erscheinung, selbst in Tanger unter den Augen der europäischen Vertreter soll dies vorkommen. Die Furcht des Khalifa war also eine doppelte und wohlbegründete, einmal vor den ausgebrochenen Verbrechern, andererseits vor seinem Kaid, der ihn dafür zur Verantwortung ziehen würde. Aber auch die Bevölkerung selbst war in Furcht und Aufregung, namentlich die zahlreiche Judenschaft, die dort in sehr gedrückter Lage ist und bei jedem Aufstande zuerst geplündert wird. In der Tat ertönte die ganze Nacht hindurch Geschrei und fielen Schüsse, so daß von Nachtruhe kaum die Rede war. Man sagte mir, es seien die Juden, die auf diese Weise ihre Wachsamkeit be- kundeten. Meine Lagerwache war in dieser Nacht auch beson- ders stark. Auf der ganzen Reise nämlich wurde jede Nacht eine Wache, je nachdem zwei bis sechs Mann, um die Zelte aufgestellt, ganz abgesehen davon, daß wir mit Revolvern, zum Teil auch mit Gewehren bewaffnet waren, und daß ich stets den schon er- wähnten Soldaten bei mir hatte. Auf dessen Ansuchen mußten die Bewohner des Dorfes oder Zeltlagers, bei welchem ich näch- tigte, die Wachen stellen. Ich entschädigte dieselben in der Regel durch ein kleines Geldgeschenk , wie ich auch stets den Leuten, welche die Muna brachten, den Wert derselben an- nähernd ersetzte, obwohl ich wußte, daß die armen Bauern, denen — 355 — man einfach wegnimmt, was als Muna geboten werden soll, und meist das Doppelte und Dreifache, nichts davon erhielten. Um Wachen zu erlangen, andererseits auch der Sicherheit im allge- meinen wegen, die nachts eine sehr geringe ist, mußte ich daher stets entweder inmitten eines Zeltlagers das meine aufschlagen oder, was noch schlimmer war, in einer Kasbah übernachten. Da galt es lange Gespräche mit dem Gastgeber zu führen, wäh- rend ich die kostbare Zeit zur Ergänzung und Lesbarmachung der im Laufe des Tages im Sattel gemachten Notizen brauchte. Ja, es kam wohl vor, daß eigens mir zu Ehren Sänger die halbe Nacht sangen. Dazu der Lärm der Esel, die einer nach dem anderen ihre Stimme erhoben, das Bellen der zahlreichen bissigen Hunde, das Krähen der Hähne, das Geschwätz und Singen der Wachen, die sich so munter erhielten, und schließlich die Über- fülle von Ungeziefer! Wie glücklich war ich, wenn ich einmal außerhalb eines bewohnten Ortes, mitten in der freien Steppe mein Lager aufschlagen konnte. Ohne Wache bin ich nur einmal gewesen. Es war am Ufer des Sebu, den ich nach einem heißen, anstrengenden Marsche an der Meschera Bab el Ksiri überschritten hatte. Das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel sollte nur anderthalb Reitstunden entfernt sein. Aber ich miß- traute nach vielfachen Erfahrungen dieser Angabe und ließ un- mittelbar am Flusse, weit ab von jedem bewohnten Orte, Halt machen. Mein Soldat und der Dolmetscher mußten in der Nacht wachen, da in dieser Gegend nur Versuche, unsere Tiere zu stehlen, zu befürchten waren. Die Futterfrage war leicht gelöst: ein Feld mit reifer Gerste, dicht neben dem Lager, nährte Ka- mele, Pferde und Maultiere. Von Demnat ging der Marsch in zunächst nördlicher Rich- tung durch die subatlantische Hochebene an den Um-er-Rbia, den wir an der Meschera bu Challü überschritten ; dann am rechten Ufer des Stromes, dessen Lauf dort noch ganz unbekannt war, durch die öde Steppe der Beni Meskin nach Nordwesten und schließlich, als es nicht mehr möglich war, dem Strome, der dort in eine wilde Felslandschaft eintritt, zu folgen, in ziemlich nördlicher Richtung über die fruchtbare Hochebene von Schauia an die Küste, die wir bei Casablanca erreichten. Auf diesem Marsche wurde also das Atlasvorland in seiner größten Breite gequert. Das hat, wie die zusammenfassende Darstellung der 23* — 356 — wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise zeigen wird, unsere Vor- stellungen über die wichtigsten geographischen Verhältnisse des Landes vielfach berichtigt und geklärt. Auch die weitere Reise, von Casablanca zunächst in zwei- tägigem Marsch an der Küste entlang nach Rabat, von da wiederum in östlicher Richtung ins Innere nach Meknäs und Fäs, der nördlichen Hauptstadt, und von da auf oft begangenen Wegen nach Tanger war an Ergebnissen reich. Wenn ich zum Schluß die über Marokko im ganzen emp- fangenen Eindrücke in einige Sätze zusammenfassen darf, so kann ich nur sagen, daß dasselbe als ein von der Natur reich ausge- stattetes, nach Lage und Weltstellung außerordentHch bevorzugtes Land erscheint, das aber durch eine grauenvolle Willkürherrschaft verödet und entvölkert ist. Kein Mensch ist seines Lebens und Eigentums sicher. Der Dorfschech schindet seine Bauern, um sich zu bereichern; hat er sich vollgesogen, so fällt er dem Kaid zum Opfer, der seinerseits über kurz oder lang, wenn ein anderer für seine Stelle mehr bietet oder die freiwilligen Geschenke, die er dem Sultan und seiner Umgebung alljährlich bringen muß, nicht groß genug erscheinen, unter irgend einem Vorwande an den Hof befohlen, seiner Schätze beraubt wird und im Kerker verschwindet. Die Sultane ihrerseits endigen meist durch Gift. Nur derjenige, der gar nichts hat, ist einigermaßen sicher. Jedes Streben nach Erwerb wird durch dies System erstickt. Kunst und Handwerk, von deren Blüte in früheren Jahrhunderten man noch hie und da Spuren sieht, sind in den tiefsten Verfall ge- raten. Einem geschickten Handwerker wird seine Geschicklich- keit zum Fluch: er muß gegen schlechten Lohn für den Kaid oder den Sultan arbeiten. Alte Familien mit ererbtem Reichtum gibt es kaum noch. Jeder sucht zu verstecken, was er besitzt; der Reiche vergräbt sein Geld, der Bauer verbirgt seine Getreide- vorräte und was er sonst an wertvoller Habe besitzt, in Mata- moren, unterirdischen Behältern, die er in dunklen Nächten her- stellt, und deren Spuren er so sorgsam verwischt, daß kein an- derer sie auffinden kann. Aufstände der gequälten, bis aufs Mark ausgesogenen Bewohner der einzelnen Provinzen gegen ihren Gouverneur oder den Sultan sind an der Tagesordnung. Um sie zu verhindern, wird geflissentlich der Haß und die Eifer- sucht von Stamm zu Stamm, von Provinz zu Provinz genährt und — 357 — gelegentlich eine Provinz der anderen zum „Aufessen", wie der Kunstausdruck lautet, überlassen. Grauenvolle Szenen sind mir von einem zuverlässigen Gewährsmanne aus dem Aufstande der südöstlich von Rabat im Innern wohnenden Berbernstämme im Jahre 1897 berichtet worden. Der Sultan selbst zog gegen sie zu Felde. Anfangs wurde zur Anfeuerung der Soldaten für jeden eingelieferten Kopf eines Aufständigen i Duro (5 Francs) gezahlt. Als aber zu viele Köpfe eingingen — die Soldaten zogen es natürhch vor, friedlichen Kameltreibern und ähnlichen Leuten die Köpfe abzuschneiden — , setzte man den Preis herab und zahlte schließlich gar nichts mehr. Das hatte aber zur Folge, daß sofort Massendesertionen im Heere eintraten, da die Soldaten mit etwa 40 Pfennigen, die sie täglich als Sold erhielten, um so weniger leben konnten, als bald Hungersnot im Lager ausbrach, da es niemand der Unsicherheit wegen wagte, Getreide aus den Küsten- plätzen, wo reiche Vorräte vorhanden waren, ins Innere zu bringen. Die Tausende von Gefangenen, die man gemacht hatte, wurden zu Hunderten, jeder mit einem Ringe um den Hals, an Ketten zusammengeschlossen. Fast ohne Nahrung ließ man sie im Freien — es war im Winter, wo in dieser Gegend Nacht- fröste vorkommen — in einem Sumpfe liegen, so daß täglich, wenn sie sich am Morgen erheben durften, fünfundzwanzig bis dreißig Tote zwischen den Lebenden hingen. Die Gefangenen, die nach Marrakesch und nach Mogador in das große, als Ge- fängnis dienende Mauerviereck auf der vor der Stadt liegenden Insel gebracht wurden, starben bei solcher Behandlung zu Tau- senden. Im Marrakesch ließ man einmal vier Tage lang die Toten unter den Lebenden liegen. Wenn sich diese Szenen unter den Augen des Herrschers und des Großveziers vollzogen, so möge noch ein anderes Bild das väterliche Walten eines Provinzgouverneurs veranschaulichen. Diese Tatsachen reichen allerdings ins Jahr 1871 zurück, sind aber heute noch gerade so mögUch. Gewährsmann ist der be- rühmte englische Botaniker Sir Joseph Hooker, der 1872 das fragliche Gebiet bereiste. Einer der furchtbarsten Blutsauger war der Kaid von Haha, einer Landschaft südwestlich von Mo- gador. Da er aber einen großen Teil seiner Erpressungen an den Sultan ablieferte, konnte er sich lange behaupten. Sich stetig erneuernde Aufstände wurden mit unerhörter Grausamkeit - 358 - unterdrückt. Einmal wurden Hunderte von Aufständischen mit dem sogenannten „Lederhandschuh" bestraft. Schon das Vor- handensein eines solchen Kunstausdrucks ist bezeichnend. Es wird dabei dem beklagenswerten Opfer die eine Hand mit einer Kette auf dem Rücken befestigt, in die andere gibt man ein Stück ungelöschten Kalk, schließt sie, umwickelt sie fest mit einem Stück rohen Leders und taucht sie in Wasser. Nach neun Tagen wird die gefesselte Hand frei gegeben. Ist inzwischen noch nicht der Brand eingetreten, und befreit der Tod nicht den Unglücklichen von seinen Qualen, so ist er für sein Leben ein Krüppel. Endlich, 1871, zwang ein Aufstand den zugleich in eine Fehde mit dem Kaid der Nachbarprovinz Mtuga ver- wickelten Biedermann zur Flucht. Aber mit Hilfe des Kaids der anderen Nachbarprovinz Schedma gelang es ihm, nicht nur sich selbst und seinen Harem, sondern auch seine Schätze, einund- zwanzig Maultierladungen, in Sicherheit zu bringen. Er kam glücklich nach Marrakesch, opferte dem Sultan die Hälfte seines Blutgeldes und verbrachte den Rest seiner Tage in Frieden. Bei der Erstürmung seiner Kasbah fand man zwei eingemauerte Skelette, in denen man die Reste zweier Neffen des Scheusals erkannte, die vor einigen Jahren spurlos verschwunden waren. Neben der Beute, welche die Aufständischen machten, befanden sich auch große Vorräte von Butter und Honig, die zu ver- schmausen sie sich sofort angelegen sein ließen. Bald zeigten sich die Folgen: in Voraussicht dessen, was kommen werde, hatte der fürsorgliche Herrscher vor Antritt der Flucht noch Zeit gefunden, diese Vorräte zu vergiften! Durch und durch verfault und verrottet, wie er ist, würde dieser Staat, dessen Zustände eine Schmach für das christliche Europa sind, dem ersten Stoß von außen erliegen. Daß ein sol- cher nicht erfolgt, dafür sorgt die Eifersucht der Mächte. 4. Marokko. Eine länderkundliche Skizze.') Auch bei uns in Deutschland verbindet der allgemein Ge- bildete mit dem Worte Marokko einen ganz vagen Begriff eines l) Im Jahre 1903 in der Geogi-aphischen Zeitschrilt 9. Jahrg. 2. Heft im Verlage von B. G. Teubner, 1905 in englischer Übersetzung im Report des Smithonian Institution in Washington erschienen. — 359 — Staatengebildes an der Nordwestecke Afrikas. Aber selbst unter Fachgenossen dürfte keine volle Klarheit darüber herrschen, daß wir unter dem Namen Marokko eine ganze Gruppe von Ländern und Landschaften zusammenfassen, die nur durch religiöse Be- ziehungen ganz lose geeint sind, von denen aber nur ein Bruch- teil und in unablässig wechselnden Grenzen eine Art staatlichen Verbandes, dank dem Vorhandensein einer beherrschenden Land- schaft, dem Atlasvorlande, bilden. Darin kommt schon unsere geringe Kenntnis dieses Teiles von Afrika zum Ausdruck. Staats- gewalt und Bewohner sind, wenn auch aus verschiedenen Grün- den, in der möglichsten Fernhaltung der Europäer von jeher einig gewesen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist es gelungen, auch diesen letzten Teil des dunkeln Erdteils wenigstens in den großen Zügen aufzuhellen, wobei politische Bestrebungen eine große Rolle gespielt haben. Dem entspricht es, daß französische Forscher, fast ausnahmslos aktive oder inaktive Offiziere, in dieser Hinsicht das größte Verdienst haben. Was der Vicomte de Foucauld und der Marquis de Segonzac hier geleistet haben, gehört zu den höchsten Forscherleistungen auf afrikanischem Boden. Viel wertvolles, namentlich kartographisches Material, das französische Offiziere, besonders der Mission militaire, auf ihren Reisen durch das Land gesammelt haben, dürfte noch in den Mappen des französischen Kriegsministeriums schlummern. Von anderen mögen nur die Engländer Hooker, Maw, Ball, Harris, die Deutschen v. Fritsch und Rein genannt werden. Ich selbst schenke Ma- rokko seit Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit und habe das Land 18^8, 1899 und 1901 zu Forschungszwecken bereist. Eine irgendwie wissenschaftlich-geographischen Anforderungen genügende Darstellung ist nicht vorhanden. Die beste Karte ist die von R. de Flotte Roquevaire in i : 1 000000, der eine sichere Unterlage in dem mit ungewöhnlichem Fleiße und Scharf- sinn geschaffenen Werke von P. Schnell^) und der von ihm entworfenen Karte in i : i 750000 gegeben war. Die Grenzen von „Marokko" sind nach Südosten ganz un- bestimmt, dem entsprechend auch die Größe. Nach einer rohen i) Das marokkanische Atlasgebirge. Ergänzungsheft Nr. 103 zu Pet. Mitt. Gotha, J. Perthes 1892. — 36o — Schätzung schreibe ich dieser Ländergruppe einen Flächeninhalt von 600000 qkm zu. Tuat schließe ich dabei natürlich aus, Tafilalet, das ganze Draagebiet, die Landschaft Tekna und die Gebiete südwärts bis zur Sakiet-el-Hamra dagegen ein. Denn tatsächlich übt der Sultan heute einen gewissen Einfluß bis süd- lich vom Kap Juby aus, seit er die dort gegründete englische Handelsniederlassung für schweres Geld angekauft, mit einer Be- satzung von etwa 60 Mann belegt und den wirklichen Herrn des Landes, den Scheik El Maleynin, durch alljährlich sich erneuernde Geschenke veranlaßt hat, sich äußerlich seiner Oberhoheit zu unter- stellen. Bezüglich der Bevölkerung begnüge ich mich zunächst mit der Bemerkung, daß dieselbe etwa 8 Millionen betragen mag. Wir sehen also hier ein Ländergebiet vor uns, dem schon nach Größe und Bevölkerung eine große Wichtigkeit innewohnt. Gesteigert wird dieselbe aber noch durch Lage und Weltstellung, wie durch die außerordentlichen inneren Hilfsquellen. Marokko ist das bei weitem wichtigste der drei Atlasländer. Durch seine Ecklage vermag es sowohl zum Mittelmeere wie zum Ozeane Beziehungen zu unterhalten und vor allem an der Beherrschung der Straße von Gibraltar, der wichtigsten Straße des Weltverkehrs, teilzunehmen. Mehrere seiner ohne großen Kosten zu vortrefflichen Häfen auszubauenden Seeplätze am Ozean können zu Stützpunkten des Weltverkehrs nach Westafrika wie nach Süd- und Mittelamerika, ja selbst ins Mittelmeer werden. Larasch liegt zur Straße von Gibraltar genau so günstig wie Cadiz. Andererseits ermöglichen Oasen und Brunnen so lebhaften Verkehr durch die große Wüste mit dem Nigergebiet, daß stets, bis auf die allerneueste Zeit, wo die Franzosen diese Wege unterbunden haben, Erzeugnisse des Sudan in Menge nach Marokko und über Marokko abgeflossen sind, als Sklaven eingeführte Neger einen bedeutenden Prozent- satz der Bevölkerung von Marokko ausmachen und Timbuktu ein Jahrhundert hindurch dem Sultan von Marokko gehorchte. Er- klärten doch noch 1887 die Bewohner von Timbuktu, freilich nur um sich der Franzosen zu erwehren, dem Schiff"sleutnant Caron, daß sie von Marokko abhängig seien. Seine inneren Hilfsquellen nach Klima, Boden und Erzvorkommen können nicht leicht überschätzt werden. Die Küstenprovinzen am Ozean ge- hören dank ihrer Schwarzerdedecke zu den reichsten Ackerbau- gebieten der Erde. — 301 — Die großen Züge der wagrechten und senkrechten Gliede- rung, die Bedingungen, die hier eine Ländergruppe von einer gewissen, wenn auch losen Zusammengehörigkeit geschaffen haben, entwickelungsgeschichtlich herzuleiten, ist jetzt noch nicht mög- lich. Immerhin unterliegt keinem Zweifel, daß wir ein Stück des großen eurasischen Faltensystems vor uns haben, dessen eines südwestlich streichendes Faltenbündel, der marokkanische Atlas, am Kap Ghir an einem Querbruche endigt, während das andere, das Rifgebirge, als Fortsetzung des Tellatlas von Algerien nach Norden umbiegend ebenfalls an einem Querbruche endigt, bzw. vom andalusischen Faltensysteme getrennt wird, der durch noch heute fortschreitende Meereserosion zur Straße von Gibraltar aus- gearbeitet worden ist. Das Rifgebirge ist ein ganz junges Faltengebirge und wesentlich wie der Tellatlas Algeriens in der Eozän- und Miozänzeit, ja, nach dem andalusischen Faltensystem zu schließen, bis in die Pliozänzeit emporgefaltet und vermutlich vorwiegend aus Jura und Kreide, gegen die Meerenge hin aus älteren Schichten aufgebaut. In mehreren Parallelketten steil vom Mittelmeere, der Abbruchsseite, mit Gipfeln von mehr als 2000 m Höhe aufsteigend, bildet das Rifgebirge mit seinen engen Durch- bruchstälern ein abgeschlossenes, schwer zugängliches Gebirgs- land, das zu allen Zeiten seinen berberischen Bewohnern es er- möglicht hat, sich vom Joche fremder Eroberer frei zu halten. Marquis de Segonzac ist überhaupt der erste Forscher gewesen, der es zu durchqueren vermocht hat, aber auch nur die mittleren und östlichen Gegenden, nicht die westlichsten, das Gebiet der Djebala. Eine echte Längs- und Abschließungsküste hat die an kleinen meist halbkreisförmigen Buchten, Erzeugnisse der Bran- dungswoge, kleinen felsigen Inseln und Schlupfwinkeln reiche Rif- küste bei ihrer Lage an der größten Welthandelsstraße bis in die Gegenwart die Rolle einer Seeräuberküste gespielt, den spa- nischen Presidios zum Hohn. Diese aus einer besseren Ver- gangenheit noch festgehaltenen Festungen liegen teils auf Insel- felsen dicht an der Küste (Penon de Velez de la Gomera, Pehon de Alhucemas, Las Zafarinas) oder auf felsigen, natürlich festen Vorgebirgen (Genta und Melilla). Die spanischen Besatzungen werden aber hinter ihren Mauern und Blockhäusern von den Eingeborenen dauernd in Belagerungszustand gehalten und müssen nicht nur mit Lebensmitteln, sondern z. T. selbst mit Trinkwasser von — 3^2 — Spanien aus versehen werden. Nach innen ist die Grenze des Rif- gebiets gegen den Atlas in einer hydrographisch gut ausgeprägten Hohlform gegeben, welcher von dem neuerdings viel genannten, strategisch äußerst wichtigen, daher Fum el R'arb (Tor des Westens) genannten Thasa nach Westen hin der Innauen, ein rechter Nebenfluß des Sebu, des Hauptflusses von Nordmarokko, nach Osten zur Muluja der kleinere Msun folgt, dann die windungs- reiche Muluja selbst und ihr rechter Nebenfluß Wed-el-Kseb bis nahe an die Grenzstadt Udjda. Diese auf der Wasserscheide zwischen Ozean und Mittelmeer wohl noch nicht looo m Meeres- höhe erreichende Tiefen- und geologische Grenzlinie ist als ur- alter Verkehrsweg von größter Bedeutung. Er knüpft die atlan- tische Abdachung der Atlasländer, Maghreb-el-Aksa, den äußersten Westen der Eingeborenen, an das mediterrane Gebiet und hält noch heute das Mulujagebiet , für Marokko eine ausgeprägte Sonderlandschaft, ein Stück des inneren Steppengürtels von Al- gerien bzw. Oran, bei Marokko fest. Seit langem ist es das Streben der Franzosen, durch eine Eisenbahn, deren Verlauf in dieser Tiefenlinie vorgezeichnet ist, Fäs, die nördliche Hauptstadt von Marokko, mit Tlemcen und damit Marokko wie mit einer eisernen Klammer mit Algerien zu verbinden. Wenn es erlaubt ist. Kleines mit Großem zu vergleichen, so erinnert diese Tiefen- linie an die Arlberglinie, durch welche das schwäbische Vorarl- berg an das bayerische Tirol und Österreich geknüpft wurde. Westlich von Fäs öffnet sich diese Tiefenlinie zur miozänen Tief- landsbucht des unteren Sebu, das genaue Gegenstück der Gua- dalquivirbucht drüben in Spanien an der Außenseite des anda- lusischen Faltengebirges. Larasch am Nord- oder Rabat-Sla am Südrande dieser Bucht oder noch besser Mehedia an der Mün- dung des Stromes selbst würde so das ozeanische Ende der großen von der Natur scharf vorgezeichneten inneratlantischen Verkehrslinie sein, an deren mediterranem Ende Tunis liegt. Längs dieser Tiefenlinie, bald näher an Thasa, bald näher an Fäs bewegt sich bis jetzt der Aufstand, dessen Träger die nördlich und südlich anwohnenden Berberstämme der Hiaina und Rhiata zu sein scheinen. Nach Westen hin sind die Landschaften Djebala und And- jera, nördlich von der Tieflandsbucht des Sebu, letztere die nördlichste von Marokko, deren Hauptort die Meerengenstadt - 363 - Tanger ist, das Aus- und Eingangstor von Marokko von Europa aus, vom Rifgebirge erfüllt, das hier seine Austönungsseite in flach gelagerten, kleine, von Abdachungsflüssen ausgesonderte Hochflächen bildenden Tertiärschichten dem Ozean zukehrt. Über die Geschichte des marokkanischen Atlas und seine Beziehungen zum algerischen Saharaatlas sind wir noch wenig aufgeklärt. Von letzterem wissen wir, daß seine Richtung S\V — NO ist, daß seine Hauptfaltung in die Eozän- und Miozän- zeit fällt, daß er im wesentlichen aus drei auch orographisch gut gesonderten großen Faltenbündeln besteht, deren einzelne meist nur schwach gefaltete Falten von der südwestlichen mehr zu meridionaler Richtung abweichen, so daß, da namentlich auch seit Eintritt einer trockenen Zeit die ungeheuren Schuttmassen nicht von rinnendem Wasser davongeführt werden konnten, der Gebirgscharakter meist nur wenig ausgeprägt ist. Aufgebaut ist er vorwiegend aus Kalksteinen, Sandsteinen, hier und da auch Mergeln der Jura- und Kreideformation, unter denen allerdings je weiter nach Südwesten, gegen den marokkanischen Atlas hin, im Gebiet des Wed Ghir und Susfana, Devon und Carbon hervor- tritt. Dem gegenüber zeigt der marokkanische Atlas, abgesehen von der gleichen Richtung, wesentlich verschiedene Züge. Nament- lich nehmen an seinem Aufbau im Saharaatlas von Algerien an- scheinend durchaus fehlende ältere Eruptivgesteine, Porphyre, Diorite und Granite im nördlichen mittleren Atlas auch jüngere hervorragenden Anteil, wie das im Gebirge selbst bezeugt ist und man auch aus der Zusammensetzung der gewaltigen Schutt- kegel am Ausgange der Täler schließen kann. Das erinnert also an das alte abgetragene Faltengebirge der iberischen Meseta. Auch scheinen die faltenden Bewegungen hier früher begonnen und früher geendigt zu haben, als im übrigen atlantischen Falten- lande, nämlich mit Abschluß der Kreidezeit.^) Nach J. Thomson nehmen dieselben Kreideschichten, die im Vorlande ungestört lagern, steil emporgefaltet wesentlichen Anteil am Aufbau des marokkanischen Atlas. Derselbe wäre also als Gebirge älter als das Rifgebirge, der Teil- und der Saharaatlas Algeriens. Auch dürften paläozoische Gesteine großen Anteil an seinem Aufbau i) Die noch nicht veröffentlichten Forschungen Gentils und de Sengon- zacs, durch de Lemoines ergänzt, werden einen klareren Einblick gewähren. — 364 — haben. Die Faltung ist weit intensiver gewesen, so daß noch heute weit bedeutendere Kamm- (3000 — 4000 m) und Gipfel- höhen bis 4300, ja 4500 m hier auftreten als in den jüngeren Faltengürteln, Auch die Breite des zahlreiche Einzelfalten in drei parallelen Gürteln, dem hohen Atlas, dem Antiatlas und dem mittleren Atlas, aufweisenden Gebirges (etwa 200 km) ist weit bedeutender. Die Kammhöhe ist überall ansehnlich, tiefere Einschartungen fehlen. Südlich von Marrakesch liegen die Pässe in 3 — 4000 m Höhe, von da nach NO in 2500 m, nach SW, gegen den Ozean in 1000 — 2000 m. Das Gebirge bildet also einen hohen, schwer zu übersteigenden Wall von etwa 1000 km Länge, welcher das Vorland gegen den Ozean von der Wüste trennt und nach allen seinen Erstreckungen unsern Alpen nicht allzusehr nachsteht. Obwohl im allgemeinen und nicht bloß an der saharischen Abdachung, der geographischen Breite und der Lage in einem trockenen Erdgürtel entsprechend im ganzen Ge- birge die Spuren verhältnismäßiger Trockenheit hervortreten, empfängt es doch so reichliche, vorwiegend winterliche Nieder- schläge, daß seine Höhen bis in den Spätsommer schneebedeckt auf die von Sonnenglut und Dürre verzehrte Hochebene an seinem Nordwestfuße herableuchten und die Flüsse im Frühling und Früh- sommer durch die Schneeschmelze anschwellen und eine Fülle von Wasser zu Berieselungszwecken darbieten. Die herrschende Trockenheit, die durch eine fast bis zur Vernichtung gesteigerte Waldverwüstung noch erhöht worden ist, die winterliche Kälte und Schneebedeckung, die Seltenheit weiter Talebenen, außer im Nordosten und besonders im mittleren Atlas, die auch nur unter künstlicher Berieselung im Sommer Anbau ermöglichen, machen den marokkanischen Atlas zur Bewohnung weniger geeignet, als man erwarten sollte. Die Bevölkerung ist auf die Haupttäler bis zu geringer Höhe hinauf beschränkt. Auch für Viehzucht und Almwirtschaft sind die Bedingungen nicht ge- geben. Lockmittel für Eroberer scheinen zu fehlen. So hat sich die berberische Gebirgsbevölkerung, deren Unterwerfung schwierig war, zu allen Zeiten unabhängig erhalten, kaum daß die Herren des Vorlands sich einige Querverbindungen zu sichern vermocht haben. Sie zogen es vor die Talausgänge durch Kastelle zu sperren und da auch die Berberdörfer meist auf steilen Höhen liegen und die echt berberische, vom tunesischen Südlande, süd- — 365 - lieh der Kleinen Syrte, im Auresgebirge und bis an den Ozean herrschende Sitte, die Vorräte und sonstige kostbare Habe in von einer Dorfschaft oder einem Stamme gemeinsam auf sicheren Höhen errichteten Kastellen, hier Tirremt genannt, unterzubringen, in gewissen Gegenden auffallend hervortritt, so bietet der Gebirgs- rand hier und da mit seinen zahlreichen Burgen und Burgen- trümmern einen eigenartigen Anblick. Wir dürfen, streng genommen, wie J. Thomson nachgewiesen hat, das Faltengebirge des hohen Atlas nicht bis an den Ozean ausdehnen, sondern nur bis an die Asif Ig Schlucht, einige 50 km von der Küste. Was westlich von ihr liegt, ist Tafelland, die Landschaften Mtuga und Haha und nur unter diesem Vor- behalte kann man den hohen Atlas am Kap Ghir endigen lassen. Südlich davon, zwischen dem hohen und dem Antiatlas, sich weit zum Ozean öffnend, liegt eine der ausgeprägtesten, zugleich eine der nach ihrer natürUchen Ausstattung reichsten, Sonderlandschaften von Marokko, nach dem sie bewässernden Längsflusse des Atlas, dem Wed Sus, benannt. Reich an Erzvorkommen, namentUch Kupfer, reich an Wasser und fruchtbarem Boden könnte das Sus, das schon heute vorwiegend den Handel von Mogador belebt, unter guter Verwaltung eine reiche Kulturlandschaft, die Oasen- stadt Tarudant ein Brennpunkt des Verkehrs mit dem Süden, Agadir, die beste Reede an der ganzen Ozeanküste, aber dem Fremdhandel verschlossen, eine blühende Seestadt werden. In dem durch die Divergenz des Rifgebirges und des marokkanischen Atlas gebildeten Dreiecke liegt nun die größte und wichtigste marokkanische Landschaft, zu allen Zeiten das Herzland dieser Ländergruppe, der Kern der Staatenbildung, das marokkanische Atlasvorland. Einen in allen wesentlichen Zügen seitdem durch die Forschungen des französischen Geo- logen Brives bestätigten EinbUck in ihre Geschichte erlangte ich auf meinen beiden letzten Reisen. Danach läßt sich die ge- schichtliche Entwicklung der heutigen Oberflächenformen etwa in nachfolgender Weise erklären. Es erhob sich hier ein ver- mutlich gegen Ende der paläozoischen Zeit steil emporgefaltetes Gebirge, vorwiegend aufgebaut aus paläozoischen Schiefern, Grau- wacken, Quarziten, Tonsandsteinen, von granitischen, porphyrischen und ähnlichen alten Eruptivgesteinen durchsetzt. Wo die Rich- tung der Falten noch zu erkennen ist, war diese dem marokka- — 306 — nischen Atlas annähernd parallel. Dies Gebirge wurde gegen Ende des mesozoischen Zeitalters von dem übergreifenden Meere abgetragen. Wie mit dem Rasiermesser durchschnitten bilden die fast saigeren Schieferschichten hier und da fast wagrechte Ebenen, aus denen aber festere Grauwackenschichten zum Beleg der noch fortschreitenden äolischen Denudation mauerartig auf- ragen oder Quarzite, gelegentlich, wie im Dj. Ghilis bei Marra- kesch, auch kompakte Kalksteine, wahre Klippenzüge bilden. Ja im Djebilet, einem kahlen, felsigen Gebirge, das den nördlichen Horizont von Marrakesch begrenzt, im Dj. Achdar, Dj. Karra und ähnlichen kleinen Bergzügen haben wir Erscheinungen vor uns, die an den Taunus oder die Sierra de Alcudia und ähnliche der iberischen Meseta erinnern. Die Ähnlichkeit dieses alten Grundgebirges mit letzterer ist überhaupt sehr groß. Namentlich auch insofern, als durch das übergreifende Meer, allerdings in viel größerer Ausdehnung als dort, das alte Grundgebirge durch ein jüngeres Deckgebirge noch heute völlig wagrechter und un- gestörter, nur gehobener Schichten verhüllt wurde. Nur wo widerstandsfähigere Felsarten des Grundgebirges Aufragungen be- dingten oder das Deckgebirge der in der Pluvialzeit energischen Erosion und Denudation des rinnenden Wassers, seitdem der heute fast allein wirksamen äolischen Denudation erlegen ist, tritt jenes zutage. Namentlich ist die Bildung von Tafelbergen, die besonders in dem mittleren Steppengürtel häufig sind und oft in Gruppen beieinander stehen, auf äolische Denudation zurück- zuführen. Die Mächtigkeit dieses Deckgebirges ist gering. So- weit meine Beobachtungen reichen, dürfte sie jetzt lOO m nirgends überschreiten. Über seine Formationszugehörigkeit fehlt es noch an hinreichenden paläontologischen Belegen. Fossilien, die ich von der letzten Reise aus Schedma mitbrachte, also aus dem äußersten Südwesten, wo mit der Emporfaltung des Atlas zu- sammenhängende Störungen noch eine große Rolle spielen, schrieb E. Ficheur, wohl der beste Kenner des geologischen Aufbaus von Algerien, cretaceisches Alter zu. Und ich nehme danach an, daß das von mir 1899 fast von der Mündung bis auf die sub- atlantische Hochebene bei Marrakesch verfolgte windungsreiche Tal des Tensift in diese Schichten eingeschnitten ist. Nach den bisher bekannt gewordenen Forschungen des algerischen Landes- geologen A. Brives, der, als erster Geologe, einen Teil des — 367 - Atlasvorlands im Winter 190 1/2 bereist hat, hätten wir das Deck- gebirge zwischen Tensift und Um-er-Rbia und nördlich von dieser bei weitem überwiegend dem Miozän zuzurechnen. Er glaubt auch in dem paläozoischen Grundgebirge einzelne Formationen unterscheiden zu können. Demnach trägt das Atlasvorland vorwiegend den Charakter des Schichtungstafellandes, die Form der Ebene herrscht vor und zwar der Hochebene, die nur örtlich beschränkt durch aufragende Inselberge und Inselgebirge des Grundgebirges, fast alle kahl und felsig, unterbrochen wird. Soweit unsere Kenntnis heute reicht, ist man berechtigt zwei Perioden der Hebung anzunehmen, eine miozäne und eine ganz junge, wohl quartäre. Dadurch entstehen zwei Stufen, eine Küstenebene, deren Verhältnisse ich auf der letzten Reise (igoi) klarlegen konnte, und eine innere, den bei weitem größten Teil des Atlasvorlands umfassende Hochebene, Jene beginnt am Kap Hadid 20 km nördlich von Mogador in schma- lem Zipfel, erreicht in Dukkala bis zum Fuße des Dj. Achdär, der ganz Mittelmarokko beherrschenden Landmarke, bei Sidi Rehal, wo die vielbegangene Karawanenstraße von Mazagan nach Marra- kesch im Tale von Mtal auf die obere Stufe emporsteigt, eine größte Breite von 80 km, die sich weiter nordwärts an der Um- er-Rbia auf 70, in Schauia auf 60 km verringert. Schließlich verschwindet sie bei Rabat fast völlig, um in der Tiefebene des unteren Sebu bis zur Schlucht von Sidi Kassem, in welcher der Rdem sich von der oberen Stufe herabstürzt, noch einmal eine Breite von 70 km zu erreichen. Nördlich von dieser Tieflands- bucht verschmälert sie sich rasch wieder, man wird sie aber wohl bis an die Meerenge bei Tanger verfolgen können. Bei Arzila fand ich sie noch deutlich ausgeprägt, wenn auch nur etwa 10 km breit, dem westlichen Fuße des Rifgebirges vorgelagert. Diese unterste Stufe dehnt sich also in einer Länge von Ö50 km längs dem Meere aus, von dem sie aber meist steil, im Süden bis zu 100 m, aufsteigt. Die Ozeanküste von Marokko ist also vorwiegend als eine neutrale Schollenküste aufzufassen, deren felsiger Charakter örtlich noch dadurch erhöht wird, daß das alte Grundgebirge ansteht und die steil aufgerichteten Schich- ten von der Brandungswoge wie mit dem Rasiermesser durch- schnitten, eine bei Ebbe zum Teil trocken laufende felsige Strand- terrasse bilden. Die Erdbeben, die schon wiederholt die Küsten- - 368 - Städte heimgesucht haben, lassen auf längs der Küste verlaufende und sie bedingende Bruchlinien schließen. Die Küste entbehrt daher der Gliederung fast ganz, nur ausnahmsweise bietet eine flache Bucht, als Erzeugnis der Brandungswoge wie bei Mazagan, oder eine kleine Erosionsinsel, wie bei Mogador etwas Schutz, oder es ist ein kleines Flußtal wie bei Saffi oder ein System weicherer Schichten wie bei Casablanca von Brandung und Ge- zeiten zu einer wenig sicheren Bucht ausgearbeitet. Wirkliche Häfen bieten nur die Flußmündungen, der Um-er-Rbia: Azemur, des Bu Regreg: Rabat, des Sebu: Mehediya, des Lukkos: La- rasch. Leider aber sind alle diese Flußmündungen bei der an der ganzen Küste fast jahraus jahrein herrschenden starken Dü- nung durch Barren geschlossen, die in der Regel nur kleine Schifte überwinden können und die nur selten durch Hochwasser vorübergehend weggefegt werden. Auch hier wie vor allen ma- rokkanischen Seestädten müssen daher die Dampfer auf offener Reede Anker werfen, stets unter Dampf und jeden Augenblick bereit das off"ene Meer zu gewinnen. Azemur und Mehediya, obwohl an den Mündungen der größten Ströme gelegen, die beide eine Strecke weit schiff"bar sind, sind außerdem dem Fremd- handel geschlossen und daher ganz bedeutungslos. Auch da, wo jüngere Anlagerungen, wie vor der Tieflandsbucht des Sebu und in Dukkala südlich von Mazagan, einen Saum von Dünen und Haffen, also Flachküste geschaffen haben, sind dadurch keine verkehrsgeographisch günstigeren Verhältnisse entstanden. Doch scheint es, als könnte das Haff" von Walidiya, nördlich von dem als Landmarke und Wetterscheide bekannten Kap Kantin, leicht zu einem ausgezeichneten Hafen ausgestaltet werden. Von diesem zwischen 30 und 100 m hohen Steilrande, mit dem sie zum Meere abbricht, erhebt sich diese Küstenebene, der ich eine mittlere Höhe von 1 50 ra zuschreiben möchte, ganz unmerkhch landeinwärts auf etwa 250 m bis zum Fuße der zweiten Stufe, die sich auch ihrerseits mit etwa 100 m hohem Steilanstiege, der ganz den Eindruck eines ehemaligen Meeres- ufers hervorruft, ganz unvermittelt über der unteren Stufe erhebt. Diese Küstenebene trägt fast überall den Charakter der Ebene, ja in großer Ausdehnung erscheint sie als tischgleiche Ebene. Die für weite Flächen in Marokko charakteristische und ver- hängnisvolle Kalkkruste, die im wesentlichen als klimatische Er- — 369 — scheinung zu erklären ist, und die Denudation bedingen nur hier und da Hügel und flache Bodenwellen. Nur in Schauia tritt das Grundgebirge, vereinzelte Klippenzüge bildend, auf dieser Stufe, ja hier und da nahe dem Meere zutage. Rinnendes Wasser fehlt ganz, abgesehen von den aus dem Atlas kommenden großen Strömen. Kleinere Flüsse und Bäche, die von der oberen Stufe herabkommen, versiegen meist sehr bald, haben aber in ihren Tälern bequeme Aufstiege auf jene, selten flache Schuttkegel vor dem Steilrande geschaffen. Nur der Steilrand am Ozeane ent- lang in der Breite von 10 — 20 km und ein schmaler Gürtel zu beiden Seiten der in tiefem Erosionstale fließenden Um-er-Rbia ist durch das rinnende Wasser etvi^as gegliedert. Quellen sind daher auf dieser Landstufe äußerst selten, sie dürften überhaupt wohl nur in Schauia, durch das undurchlässige Grundgebirge bedingt, und in dem Gürtel längs der Um-er-Rbia vorkommen. Im größten Teile dieser Küstenlandschaften, abseits der großen Ströme, die zwar fast immer trübes, aber doch gutes Trinkwasser bieten, sind also die Bewohner auf künstliche Wasserbeschaffung angewiesen. Zunächst wurden sie wohl durch natürliche Wasser- ansammlungen auf der Kalkkruste, oder in flachen Becken dazu geführt, künstliche Sammelteiche für Regenwasser anzulegen. Solche finden sich in dem ganzen Gebiete in großer Zahl, nament- lich in Dukkala sind viele Hunderte in Kreisform mit niederen Ringwällen, nicht selten mit einem kleinen Hügel in der Mitte, vorhanden, an kleine JMaare erinnernd. Man hat ihnen auch vulkanischen Ursprung zuschreiben wollen. Sie sind aber sicher Erzeugnisse menschlicher Arbeit. Ich habe ganz neu angelegte gesehen. Weiter schuf man Zisternen, namentlich am Rande der Kalkkruste, die das Wasser nicht in den Boden dringen ließ. Wo diese Mittel nicht genügten, um namentlich in der 8 — 9 Mo- nate umfassenden Trockenzeit Wasser zu beschaffen, bohrte man Brunnen, eine sehr schwierige Arbeit, da diese in große Tiefe, ich vermute bis auf das undurchlässige Grundgebirge, hinabgeführt werden mußten und Steine zum Ausmauern meist fehlten. Ich habe Brunnen von 60 m Tiefe gemessen. Ihr Wasser ist warm und häufig mit Salzen derartig angereichert, daß selbst die Tiere es zunächst nicht saufen wollten und damit bereiteter Tee ungenießbar war. Und doch ist mancher dieser Brunnen, die dann stets innerhalb der Kasbas der Kaids^ als Mittel die Fischer, Mittelmeerbilder. 24 — 370 — Bevölkerung in Untertänigkeit zu erhalten, angelegt sind, die einzige Wasserquelle für eine ganze Landschaft. Ein Zugtier, Kamel, Pferd, Maultier ist daher den ganzen Tag beschäftigt, Wasser in einem großen Schlauche an die Oberfläche zu be- fördern. Nicht selten sieht man Frauen eingespannt! Hier werden Windmotoren, denen es fast nie an Triebkraft fehlen würde, recht am Platze sein. Der hohe Grad der seßhaften Bewohnbarkeit, der diesen Landschaften heute eignet, ist daher als ein Erzeugnis der Kultur, langwieriger menschlicher Arbeit zu bezeichnen. Er ist aber, ebenso wie die Form der Ebene, auch durch die erstaunliche Fruchtbarkeit des Bodens bedingt. Diese unterste Stufe des Atlasvorlands besitzt nämlich vorzugsweise in großer Ausdehnung eine Decke von Schwarzerde oder Tirs, wie sie im Lande selbst genannt wird, deren Vorhandensein ich zuerst iSgg nachweisen, 1901 weiter verfolgen und begründen konnte. Von zuständigsten Fachmännern durchgeführte chemische und minera- logische Analysen von beiden Reisen mitgebrachter Proben haben einerseits die außerordentliche Fruchtbarkeit dieser Bodenart er- klärt, andrerseits mich in meiner Theorie ihrer Entstehung im wesentlichen aus Staubablagerungen aus dem Innern bestärkt. Die Mächtigkeit der Schwarzerdedecke ist meist gering. Ihre Verbreitung ist lückenhaft, die größten Flächen einer geschlosse- nen Schwarzerdedecke dürften in Abda vorkommen. Doch gilt Dukkala als die fruchtbarste der Küstenlandschaften. Ich selbst habe Schwarzerde auch auf der oberen Stufe von Schauia, aber nahe dem Rande, und im Gebiet des oberen Wed Rdem in EI Gharb beobachtet und ihr Vorkommen in Tedla , der innersten Bucht des Atlasvorlandes, dem marokkanischen Ferghana, wie ich es nennen möchte, durch Erkundungen festgestellt. Dieser Schwarzerdegürtel kennzeichnet also vorzugsweise die Küstenebene, wo die reichlicheren winterlichen Niederschläge und eine üppigere Pflanzendecke in Verbindung mit der spülendes Wasser ausschHeßenden Ebenflächigkeit die aus den inneren Steppen herkommenden Staubfälle festhielt. In jenem geglie- derten Landsaume längs der Küste und längs der Um-er-Rbia fehlt daher Schwarzerde durchaus. Die durch die Analyse er- wiesene außerordentliche Wasserkapazität ermöglicht das Fest- halten der winterlichen Feuchtigkeit, die bis zu einem gewissen — 371 — Grade immer wieder durch die diesem Küstengebiet eigenen reichlichen Taufälle ergänzt wird. So gedeihen hier nicht nur eigentliche Winterfrüchte, sondern Frühlingsfrüchte, wie Mais, dem nach Ansicht der Bauern Regen geradezu schädlich ist und der mit der winterlichen Bodenfeuchtigkeit und Tau (Minsla) gut auskommt. Es wird eine nur drei Monate erfordernde Spielart gegen den i . April, also nach dem Ende der Winterregen, gesäet und gegen Ende Juni geerntet. jNIais ohne künstHche Beriese- lung gezogen ist eine in den südlichen Mittelmeerländem unbe- kannte Erscheinung. So ist diese unterste Landstufe des Atlasvorlands die Korn- kammer von Marokko, die in ihr gelegenen Landschaften Abda, Dukkala, Schauia und Gharb die reichsten und dichtest besie- delten des Landes. Dies erklärt das Vorhandensein und die Bedeutung der oben genannten, verhältnismäßig zahlreichen, na- mentlich im Vergleich zu dem städtearmen Innern, Küstenstädte. Staunenden Auges sieht man von der höheren Stufe und aus dem Steppenlande herabsteigend unabsehbar die tischgleiche Ebene von Abda zu seinen Füßen ausgebreitet, dunkelgrün von wogenden Feldern von Weizen, Gerste, Saubohnen, Kichererbsen, Mais, Kanariensamen, Koriander, Fenugrek (die Leguminose Tri- gonella foenum graecum L., arabisch Holba), Linsen, Erbsen und dergleichen, hie und da, aber erst seit den letzten Jahren, von den Europäern eingeführt, blaue Teppiche blühenden Flachses dazwischen gespannt, darüber gestreut einzelne weithin leuchtende weiße Kubbas und zahlreiche kleine aus Tabia erbaute Duars, aber kein Baum, kein Strauch! Holzgewächse sind der Schwarzerde fremd, kaum daß man hie und da einige kümmerliche Feigen- bäume oder eine Dattelpalme angepflanzt sieht. Der bei weitem größte Teil des Atlasvorlands gehört so der oberen Stufe an, die auch ihrerseits sanft gegen den Fuß des den ganzen Horizont beherrschenden Gebirges, von etwa 400 m auf 600 — 700 m ansteigt. Auch hier herrscht die Form der Ebene vor, aber nicht in dem Maße wie auf der unteren Stufe. Die ganze kleine Gebirge, wie der Djebilet oder der Dj. Achdär, bildenden Aufragungen des Grundgebirges, echte afrikanische Inselberge und Inselgebirge, die Tafelberge mildem die Ein- förmigkeit, und die großen das ganze Vorland querenden Sammel- ströme, besonders der Tensift und die Um-er-Rbia haben mit 24* — 372 — ihrem bedeutenden Gefäll, in starker Strömung, ja selbst häufig Stromschnellen bildend, tiefe, vielgewundene, oft canonartige Täler in das Hochland eingeschnitten, die, selbst ungangbar, ja auch als Tränkstellen nur an einzelnen Punkten zugänglich, schwere Hindernisse des Verkehrs bilden. In großartiger, wilder Land- schaft, auf dem Isthmus einer Flußschlinge der Um-er-Rbia, ähn- lich der Marienburg an der Mosel, liegt so an der Grenze beider Stufen und somit zugleich des Steppen- und des Kulturlands das mächtige Kastell Bu-el-Awän, das, fast sagenhaft, bisher, wie mir auch die Eingeborenen versicherten, von keinem Europäer er- reicht worden war. Diese ganze obere Stufe empfängt, schon meerferner, nur ge- ringe Niederschläge, es fehlt ihr die Schwarzerdedecke; das durch- lässige Deckgebirge, wie das einer Verwitterungsdecke, weil alle gelockerten Feststoffe vom Winde davon getragen werden, ent- behrende Grundgebirge bedingen große Trockenheit, daher haben wir da Steppenland vor uns, das allerdings Anbau von Gerste, hie und da auch Weizen in regeru-eichen Wintern in Hohlformen und auf besserem, feuchterem Boden nicht ganz ausschließt. Nach wich- tigen geographischen Zügen, namentlich nach Boden plastik, Be- wässerung und Anbaufähigkeit läßt sich aber dies Steppengebiet in zwei wesentlich verschiedene Gürtel zerlegen: den eigentlichen Steppengürtel und den Gürtel der subatlantischen Be- rieselungsoasen. Ersterer in einer Breite von 80 — loo km enthält zwar einige kleine Oasen, namentlich in einem Gürtel längs der Um-er-Rbia, auf Quellen begründet, ist aber im wesent- lichen Weideland, von Nomaden und Halbnomaden bewohnt. Immerhin ist der Bestand an Herden von Rindern, Schafen, Ka- melen bedeutend, namentlich da auch noch im Sommer, wenn die Vegetation der Steppe, die im Spätwinter und im Frühling einem herrlichen Blumenteppich gleicht, von der Sonne verbrannt ist, die Herden, sei es im Gebirge, sei es im Kulturlande der Küsten- ebene Nahrung finden. Der innerste Gürtel fällt mit dem zusammen, was ich boden- plastisch subatlantische Hochebene genannt habe. Diese dehnt sich in einer Länge von etwa 330 km und einer Breite von 30 — 40 km längs dem Gebirgsfuße aus. Alle aus dem Ge- birge heraustretenden Flüsse queren sie, lagern, somit eine schiefe vom Gebirgsfuße sanft abfallende Ebene bildend, ihre Schutt- — 373 — massen ab, bis sie auf die Inselgebirge des Vorlands, namentlich den auf etwa loo km von Südwest nach Nordost streichenden Djebilet stoßend durch diese teils nach Westen, teils nach Norden abgelenkt werden, und so die zwei großen Sammel- rinnen des Tensift, ein typischer Saumfluß, und der Um-er-Rbia entstehen, deren Wasserscheide auf der subatlantischen Hoch- ebene selbst, nur durch Schuttkegel gebildet, kaum erkennbar ist und wohl in der Pluvialzeit wesentliche Verschiebungen erfahren hat. Die Schuttkegel der Atlasflüsse, wohl vorzugsweise in der Pluvialzeit aufgeschüttet, aber noch heute in der Weiterentwicklung begriffen, bilden überwiegend den Boden dieses zwischen dem Atlas und den niedrigen Inselgebirgen des Vorlands eingeschalteten Gürtels, der insofern etwas an die Poebene, namentlich in Piemont, erinnert. Alle diese Flüsse bieten ungeheure Wasservorräte zu Be- rieselungszwecken, die schon heute, wenn auch nur zu einem Bruch- teil des ]\Iöglichen, verwertet werden. Sie werden noch vermehrt durch die Wasserschätze des Untergrunds, die durch die sog. Chat- taras, unterirdische Sammelkanäle ähnlich den Kanat und Kariz von Iran, den Sahrig von Jemen, den Feggagir (sing. Foggara) einzel- ner Saharaoasen, gesammelt und an die Oberfläche geführt werden. So ist hier die gelbe Steppe längs der Flüsse und namentlich am unteren Saume der Hochebene mit den dunkeln Flecken der Oasen übersäet, in deren größter die Hauptstadt Marrakesch als wahre Oasenstadt in einem Haine von Dattel- palmen liegt, deren Früchte hier in einer Meereshöhe von fast 500 m noch reifen. Fruchtbäume sind es, neben der Dattelpalme der Ölbaum, der Feigenbaum, der Granatbaum, Apfelsinen und Li- monen, Aprikosen und Pfirsiche, jNIandelbäume und dergleichen mehr, die diesen Oasen ihren Charakter geben und diesen Land- gürtel zum wenigst baumarmen des ganzen baumarmen Atlas- vorlandes machen. Im Schutze der Fruchtbäume und in der Umgebung der Fruchthaine, wo nur während des Winters be- wässert werden kann, wird auch Getreide, Gemüse und dergleichen gebaut. So könnte dieser Landgürtel in großer Ausdehnung in Kulturland, in eine weite Gartenlandschaft verwandelt werden. Wasserkräfte für elektrische Kraftübertragung sind reichlich vor- handen und durch Stauwerke am Ausgange der Atlastäler größter Vermehrung fähig. In glücklicher Weise vermöchten sich alle drei Gürtel des Atlasvorlands zu ergänzen: der eine liefert Brot- — 374 — Stoffe in Fülle, der zweite Vieh, der dritte vorzugsweise Baum- früchte. Die Gebirgsbewohner sind so für ihre Ernährung, ähn- lich wie in Algerien die Bewohner der Wüste auf das Teil, auf das Vorland angewiesen und so haben sich hier, wo Seßhaftig- keit von der Natur geboten ist, am Ausgange der Atlastäler kleine Randstädte wie Demnat, Sidi Rehal, Amsmis u. a. m. entwickelt. Die namengebende Hauptstadt Marrakesch , der Hauptort des Tensiftgebiets, wenn auch nicht unmittelbar am Tensift, aber so- zusagen im Wipfel des Tensift gelegen, ist dagegen eine Oasen- stadt in der freien Hochebene, zunächst wohl zur Entwicklung gekommen durch den Wasserreichtum, dann aber durch die günstige Verkehrslage. Wie in Mailand, das ähnlich vor dem Alpenwalle liegt, radienförmig die Alpenstraßen zusammenlaufen, so die Atlaswege und die nach dem Sus und dem Gebiet des Wed Draa, in Marrakesch, um auf der anderen Seite ebenfalls nach den nächsten Küstenplätzen Mogador, Saffi, Mazagan, Casa- blanca und Rabat auseinander zu streben. So ist Marrakesch die natürliche Hauptstadt von ganz Südmarokko. Für Nordmarokko spielt die gleiche Rolle Fäs, der Hauptort des Sebugebiets, das auch seinerseits, wenn auch nur in etwa 300 m Meereshöhe, auf der oberen Stufe liegt, die freilich hier näher dem Gebirge und zwischen dem Rifgebirge und dem Atlas teilweise in Hügelland gegliedert ist, in dem aber immer wieder die Form der Hochebene hervortritt. Aber auch Fäs verdankt seine Entwicklung dem Wasserreichtum, der die Stadt mit einem Saume üppiger Gärten geschmückt hat, und der Eigenschaft als Knoten naturbedingter Verkehrswege. Es vermittelt den Verkehr zwischen dem Gebirge und den Oasen jenseits desselben, nament- lich Tafilalet auf der einen, der Tieflandsbucht des Gharb und dem Meere auf der anderen Seite; ja, dank der schon hervor- gehobenen westöstlichen Tiefenlinie zwischen Atlas und Rifgebirge ist es der Brennpunkt des Verkehrs des ganzen Maghreb el Aksa mit den übrigen nach Osten hin gelegenen Atlasländern, in strategischer Hinsicht der Schlüssel wenigstens des nördlichen Marokko für jeden von Osten kommenden Feind. Nach Westen hin strahlen von hier radienförmig Verkehrswege zum Ozean aus, von der Meerengenstadt Tanger im Norden bis Rabat, dem Bindeglied zwischen Nord- und Südmarokko. Aber noch mehr: Fäs ist in Luftlinie nur 1 2 5 km vom nächsten Punkte der Mittel- — 375 — meerküste entfernt und es wird nicht schwer sein durch den ge- falteten Gürtel des Rifgebirges den Flußtälern folgend eine Eisen- bahn nach Bades zu bauen, das früher eine gewisse Verkehrs- bedeutung hatte, in der kleinen Bucht, in welcher die noch von den Spaniern besetzte kleine Felseninsel des Penon de Velez de la Gomera liegt. Vielleicht auch etwas weiter nach der größeren halbkreisförmigen Brandungsbucht der auch von Spanien besetzten Gruppe kleiner felsiger küstennaher Inseln von Alhucemas gegenüber. Selbst das Atlasvorland zerfällt somit bodenplastisch und verkehrsgeographisch, demnach auch politisch in zwei Teile, die auch die Einwohner streng unterscheiden und nur als in der Person des Sultans geeinigt ansehen: Nordmarokko, el Gharb, abgesehen von der Tertiärbucht des Sebu, Tiefebene, vorwiegend Berg- und Hügelland, wegen der nördlicheren Lage reicher be- netzt und fast überall anbaufähig, und Südmarokko, el Haus, vorwiegend Hochebene und bis zur Steppenbildung niederschlags- arm. Gelegentlich stellt man es Sus, den Süden als dritten gleichwertigen Teil auf. Die Grenzscheide zwischen den Sulta- naten von Fäs und Marrakesch gehört heute noch zu den wenigst bekannten Gegenden des Landes, weil die sie bewohnenden auch meist noch Tamazirt sprechenden Berberstämme der Zem- mur, Zair, Zaian, Beni Mgild und Beni Mtir unbedingt jeden Forschungsreisenden fernhalten, wie sie auch den Sultansheeren und allen Eroberen das Eindringen oder wenigstens das Festsetzen zu verwehren vermocht haben. Auch die Römerherrschaft reichte nur bis zu dieser Grenzscheide. Diese wird zwar durch die nördlichen und nordwestlichen Vorlagen des mittleren Atlas, die sich wie ein Keil gegen den Ozean vorschieben, das Sammel- gebiet des Bu Regreg und des zum Sebu gehenden Wed Beht, aber nicht durch hohe Gebirge gebildet. Es handelt sich viel- mehr, soweit ich habe feststellen können, auch hier um Stufen- land, mit vereinzelten Höhen von wenig über looo m, deren Kern das alte Grundgebirge bildet, das in großer Ausdehnung durch Abtragung des Deckgebirges bloßgelegt ist. Die steilen Terrassenanstiege, das wild zerrissene, felsige, durchschluchtete, vielfach mit dichtem Gestrüpp, im höheren Gebirge noch von Urwäldern zum Teil gewaltiger Zedern bedeckte Gelände ist es, welches das Eindringen so erschwert, während die Bewohner von — 376 — der Landesnatur zu Halbnomaden gemacht in der Lage sind, sich und ihre Herden im Notfalle durch Zurückweichen in die höheren Gebirge, die sie ohnehin im Sommer meist aufsuchen, in Sicherheit zu bringen. Durch dieses ungangbare Gebiet wird aller Verkehr von Nord- und Südmarokko auf den einen Weg am Ufer des Ozeans entlang gedrängt und muß selbst der Sultan an der Spitze eines Heeres, wenn er seinen Sitz von der südlichen Hauptstadt Marra- kesch nach der nördlichen Fäs verlegt, diesen Weg einschlagen. Diese unabhängigen Stämme, nicht die Geländeschwierigkeiten sind es, welche bewirken, daß heute eine in gerader Linie beide Hauptstädte verbindende Verkehrslinie nicht besteht. Darauf in erster Linie beruht die große strategische und verkehrsgeographische Bedeutung von Rabat. Rabat ist das Bindeglied zwischen Nord imd Süd, eine große Festung, in marokkanischem Sinne, ja fast eine ummauerte Landschaft, die aber fast beständig durch Zem- mur und Zair in latentem Belagerungszustande gehalten wird. Ein äußerer Feind, der Rabat besetzt, trennt den Norden vom Süden. Aus diesen Erwägungen heraus bzw. entsprechenden Ratschlägen folgend hat der Vater des jetzigen Sultans durch einen ehemaligen preußischen Genieoffizier ein die Reede von Rabat mit seinen gewaltigen Kruppschen Geschützen beherrschen- des Fort bauen lassen. Die klimatischen Verhältnisse, zu deren Erforschung jetzt sechs deutsche meteorologische Stationen, zwei ältere von der deutschen Seewarte eingerichtete in Mogador und Saffi, zwei neuere von mir eingerichtete in Casablanca und Marrakesch und zwei noch neuere in Mazagan und Rabat beitragen, nicht nur des Atlasvorlandes, sondern der ganzen Ländergruppe sind als günstig zu bezeichnen. Namentlich spielt Malaria, diese Pest der übrigen Atlasländer, eine geringe Rolle. Nur jenseits des Atlas tritt die Form der Wüste auf und ist aller Anbau auf einige wenige Oasen und Oasengruppen beschränkt, die, wie das Stammland der Dynastie, Tafilalet vom Wed Sis , von den Atlasflüssen genährt werden. In dem Küstengebiet am Ozean südlich vom Sus bis zum Kap Juby fallen die winterlichen Niederschläge noch so reichlich, daß in großer Ausdehnung gutes Weideland vorhanden ist, ja außerhalb der Berieselungsoasen in regenreichen Wintern noch Gerste gebaut werden kann. Mag doch am Kap Juby die — 377 — mittlere Regenhöhe noch 200 mm betragen. Schon in Mogador und vermutlich weit südlich davon ist sie auf 400 mm gestiegen, ein Betrag, bei welchem nach den Beobachtungen in Tunesien Ackerbau möglich ist, um so mehr als nach meinen Beobach- tungen im ganzen Küstengebiet auf die ablandigen Winde und das kühle Auftriebwasser zurückzuführende reichliche Taufälle vorkommen. In Casablanca übersteigt die Niederschlagshöhe 400 min, am Kap Spartel sind es nahe an 800 mm, in Tanger über 800 mm. Dementsprechend ist das ganze Küstengebiet und ganz Nordmarokko anbaufähig, ja es bedecken im Küstengürtel im Hinterlande von Wogador, in den Landschaften Schedma, Haha und Mtuga lichte immergrüne Wälder, namentlich von Arganbäumen, freilich oft mehr Buschwald, weite Flächen bis etwa 70 km landeinwärts, wo die Steppe beginnt. Daß aber auch im Steppengürtel, wo die Niederschlagshöhe beträchtlich unter 400 mm bleiben dürfte, Anbau nicht ganz ausgeschlossen ist, sahen wir bereits. Am Fuße des Atlas sah ich wieder Weizen- und Gerstenfelder auf unbewässertem Boden als Beweis wieder bis auf etwa 400 mm gesteigerter Niederschläge. In Marrakesch dürfte die Regenhöhe, soweit zweijährige Messungen ein Urteil erlauben, etwa 250 mm im Jahresmittel betragen. Die Bevölkerung von Marokko ist ethnisch noch nicht ge- nügend erforscht. Ich habe mir die Anschauung gebildet, daß das berberische Element weit mehr verbreitet ist, als man ge- wöhnlich annimmt, und sich selbst in den Ebenen und offenen Landschaften gegenüber dem arabischen zu behaupten vermocht hat, wenn es auch vielfach äußerlich arabisiert ist und arabische Sprache angenommen hat. Aber selbst auf der Hochebene fand ich einen Tagemarsch östlich von Marrakesch Berbern, die ihre Sprache bewahrt haben. In ganz Nordmarokko, selbst in der Umgebung von Tanger wohnen reine Berbern, Amazirghen, ebenso im Südwesten des Atlasvorlandes Schluh, in Schedma, Haha und Mtuga und im ganzen marokkanischen Atlas, Das arabische Element ist überwiegend nomadisch und vorzugsweise auf die Ebenen von Mittelmarokko beschränkt, doch ist der unter Berbern sitzende arabische Stamm der Howara im Sus auch seßhaft. Sofort beim Eintritt in bewegtes Gelände erkennt man, daß man sich inmitten berberischer Bevölkerung befindet. Die Städtebevölkerung ist gemischt, aber auch wohl überwiegend — 37« - berberisch. Auch in Marokko sind die Berbern seßhaft, Acker- und Gartenbauer, Baumzüchter, eifrig auf Erwerb bedacht, an der Scholle hängend. Im Gebirge haben sie sorgsame Terrassen- kultur und künstliche Bewässerung eingeführt. Selbst die rein berberischen Stämme der oben geschilderten Grenzscheide zwi- schen el Gharb und el Haus haben im Gebirge feste Dörfer, die sie allerdings nur im Sommer bewohnen. Auch die völlig arabisierten Beni Ahsen der Tiefebene des Sebu sind seßhaft, wenn auch in kreisförmigen Zeltdörfern. Im Zeltringe werden allnächtlich die Herden untergebracht. Die Zahl der Neger, die ursprünglich als Sklaven aus dem Sudan gekommen sind, ist sehr groß im Marokko, je weiter nach Süden, um so größer. Doch dürfte sich dieses Bevölkerungselement jetzt bald verwischen, nachdem die Zufuhr mit der Besetzung des Sudan durch die Franzosen unterbunden ist. Juden sind über ganz Marokko verbreitet, tief im Inneren, in den Dörfern des Atlas, überall findet man einzelne Familien und Gruppen solcher. Ähnlich dem polnischen Edelmann früherer Zeiten scheint kein Kaid ohne einen Hofjuden auskommen zu können. Am zahlreichsten sind sie in den Städten, namentlich an der Küste, wo sie am meisten Schutz genießen. Dorthin wan- dern sie jetzt auch vielfach aus dem Inneren. In Handel, aber auch im Handwerk spielen sie eine große Rolle. Marrokko ist lediglich ein Land des Ackerbaus und der Viehzucht. Bergbau ist heute unbekannt, wird aber gewiß einmal, wie zahlreiche mir bekannt gewordene Erzvorkommen, nament- lich reiche Kupfererze im Sus, aber auch sonst im Atlasvorlande zu schließen erlauben, eine große Rolle spielen. In früherer Zeit hat Bergbau und Metallverarbeitung geblüht. Die einst blühende Gewerbtätigkeit ist in tiefem Verfalle. Sie erzeugt kaum noch die unentbehrlichsten Gebrauchsgegenstände. Mehr und mehr werden selbst Bekleidungsstoffe, Metall waren und dergleichen aus Europa eingeführt. Da aber die breitesten Schichten der Bevölkerung infolge der unglaublichen Mißverwal- tung verarmt sind, der Unternehmungsgeist ertötet, der Erwerbs- sinn geschwächt, die Ausfuhr von Getreide, Vieh, Pferden und anderen wichtigen Gegenständen verboten , Wege- und Brücken- bau unbekannt ist, so ist auch die Handelsbewegung eine geringe. Man kann den Wert der Aus- und Einfuhr, freilich auf — 379 — sehr unsicherer Unterlage, auf etwa 80 Millionen Mark jährlich schätzen. In ersterer spielen Deutsche, von denen die ersten vor kaum zwei Jahrzehnten nach Marokko gekommen sind, eine große Rolle, in letzterer treten sie neben Engländern und Fran- zosen zurück. Doch dürfte der deutsche Handel sich in Marokko heute bereits die zweite Stelle nach den Engländern erobert haben, trotz der Ansprüche der Franzosen, die zum Teil auf künstlicher Werterhöhung des zu Lande nach Algerien ausge- führten Viehes beruhen. Infolge der Mißregierung, welche bei Dürre und Heuschrecken- plage, trotz aller Ausfuhrverbote Hungersnöte nicht hintanzuhalten vermag, aber so häufige Aufstände, bei denen ganze Landschaften systematisch ausgemordet und verwüstet werden, hervorruft, daß man sagen kann, irgendwo sei jederzeit ein Aufstand, ist die Volksdichte auch in den reichst gesegneten Landschaften ge- ring. Ich glaube, selbst in dem verhältnismäßig dicht bevölkerten Abda, wo man alle Viertelstunden auf einen allerdings meist kleinen Duar stößt, dürften nicht mehr als 50 Köpfe auf i qkm kommen. Ich glaube, daß diejenige Schätzung, welche der ganzen Ländergruppe etwa acht Millionen Bewohner zuschreibt, der Wahrheit ziemlich nahe kommen dürfte. Sicher ist das aber eine Höchstzahl. Davon ist aber nur ein Teil staatlich geeinigt und dem Sultan unterworfen. Von den etwa 600 000 qkm, die ich dieser Ländergruppe zuschreibe, gehört der bei weitem größte Teil zu dem im Lande selbst so genannten Beled-es-Ssiba, dem unabhängigen Gebiet, auf das der Sultan höchstens als religiöses Oberhaupt einen gewissen Einfluß ausübt, nur etwa 180000 qkm zum Beled-el Makhzen, dem Land der Kanzlei, den wirklich dem Sultan gehorchenden Landschaften. Den Kern dieser letzteren bildet das Atlasvorland mit etwa 85000 qkm und 3 Millionen Einwohnern, also 35 Köpfe auf i qkm. In den Händen einer europäischen Macht, die die reichen und mannigfaltigen Hilfsquellen des heute noch in mittelalterlichen Zuständen verharrenden Landes zu entwickeln, Lage und Welt- stellung zur Geltung zu bringen vermag, kann Marokko zu einem Machtfaktor ersten Ranges werden, der imstande wäre, geradezu eine Verschiebung der Machtverhältnisse der europäischen Staaten hervorzurufen. Allerdings ist nicht außer acht zu lassen, daß eine Eroberung des Landes eine schwierige und langwierige Auf- — 38o - gäbe wäre, weniger die des Atlasvorlandes, durchweg offenen vom Ozean aus leicht zugänglichen Landes, um so mehr die des ziemlich dicht besiedelten Rifgebiets und des Gebirgslandes des Atlas , dessen Unterwerfung eine Vorbedingung der Eisenbahn- verbindung von Fäs mit Algerien wie mit dem Mittelmeere ist. Die Zersplitterung der Gebirgsvölker in viele kleine sich meist demokratisch selbst regierende, untereinander in Fehde und Blut- rache liegende Stämme würde bei ihrer unbändigen Freiheitsliebe und den Geländeschwierigkeiten nur wenig Erleichterung bieten. Namentlich der natürliche Weg , durch welchen Frankreich Ma- rokko an sich ketten könnte, die oben besprochene Tiefenlinie, auf der sich in diesem Augenblicke die Kriegsoperationen be- wegen, wird erst sicher sein, wenn die Gebirgsvölker im Norden und im Süden davon, die mächtigen Stämme der Rhiata, Hiaina u. a. völlig besiegt sein werden. Und gerade diese nord- marokkanischen Berbern sind jetzt mit den besten europäischen Hinterladern bewaffnet, die ihnen der Schmuggel von Spanien und Gibraltar, vielleicht neuerdings auch von Algerien her zuge- führt hat. Es will scheinen, als wollten die europäischen Mächte im klaren Bewußtsein der furchtbaren Gefahr, die die Aufrollung der marokkanischen Frage für den Weltfrieden in sich birgt, auch jetzt unbedingt dieses europäischer Gesittung hohnsprechende Staatswesen aufrecht erhalten. Für Frankreich handelte es sich bei Erregung oder Förderung des Aufstandes des Bu Hamara zunächst wohl nur darum, den übergroß gewordenen englischen Einfluß am Hofe zu brechen. Die großen Erfolge, welche es durch die Unklugheit des Sultans und seiner englischen Ratgeber erzielte, ermöglichten dann den Vertrag vom 8. April 1904, welcher scheinbar Marokko Frankreich völlig überließ. Freilich hat sich seitdem gezeigt, was jeder Kenner schon voraussah, daß die friedliche Eroberung ein schöner Traum war. Will Frankreich Marokko besitzen, so muß es es erobern, mag es wollen oder nicht: eine Aufgabe, die für Frankreich, das schon 6 Millionen haßerfüllte Eingeborene in Algerien und Tunesien niederzuhalten hat, geradezu verhängnisvoll werden kann. Merkwürdig mutet es dabei an, daß für das Deutsche Reich in Marokko überhaupt keine politischen Interessen vorhanden sein sollen, während an der Meerengenfrage alle Handelsvölker beteiligt sind und wir doch in bezug auf die wirtschaftlichen Interessen dort in zweiter - 38r - Stelle stehen. Diese wären dem Untergange geweiht, unsere Stellung als Welt- und Welthandelsmacht wäre aufs äußerste ge- fährdet, wenn Marokko in irgend einer Form in die Hände Frankreichs fiele. Für das Deutsche Reich ist Aufrechterhaltung Marokkos als unabhängiger Staat geboten, allerdings unter wirt- schaftlicher Erschließung mit gleichem Licht und gleicher Sonne für alle Völker. Wird einmal eine Veränderung der politischen Karte dieses Teils von Afrika unvermeidlich, so muß das Deutsche Reich sein Teil erhalten: el Haus und Sus. Unser Interesse an der Meerenge ist zur Not gewahrt, wenn sich dort zwei Mächte, Spanien selbstverständlich nicht als Macht gerechnet, die Wage halten. Jedenfalls sind die geographischen Verhältnisse der von jeher latent vorhanden gewesenen politischen Zerteilung dieser Ländergruppe günstig. 5. Französische Kolonialpolitik in Nordwestafrika.^) Der Abschluß des deutsch-französischen Kamerunvertrages vom 15. März 1894 legt es nahe, einmal einen zusammenfassen- den Blick auf die Vorgänge und Bestrebungen zu werfen, welche in diesem Vertrage mit einem glänzenden Erfolge Frankreichs nunmehr einen äußeren Abschluß erhalten haben. Ein Triumph Frankreichs ist dieser Vertrag unzweifelhaft, seine Bedeutung wird noch dadurch erhöht, daß er dem ver- haßten Feinde, dem Deutschen Reiche, abgekämpft ist. Durch Glück und die Gunst der geographischen Verhältnisse mit herbei- geführt, ist er doch als ein wohlverdienter zu bezeichnen. Es hat lediglich hier zielbewußtes, opferbereites, durch keinen Mißerfolg zu erschütterndes Streben seinen Lohn gefunden. Dieser Aus- gang des Kampfes um das Hinterland von Kamerun war bereits vorauszusehen in dem Augenblicke (1885), wo die Regierung, sich den nur auf den augenblicklichen Nutzen gerichteten, eng- herzig eigensüchtigen x\uschaungen der Hamburger Kaufleute an- schließend, trotz Drängens von anderer Seite grundsätzlich darauf verzichtete, durch größere Unternehmungen auf den eben er- schlossenen Wasserstraßen des Ubangi, dem sich 1 890 der noch l) Preuß. Jahrbücher. Bd. 76. Heft 2. 1894. — 382 - günstigere Sanga anreihte, vom Kongo aus das weitere Hinterland von Kamerun zu sichern. Der Mangel an Wagemut und weitem Blick trat da recht bedauerlich auf unserer Seite hervor. Frei- lich, der deutsche Philister nennt das, was Engländer und Fran- zosen im letzten Jahrzehnt in Afrika getrieben haben, abenteuer- liche Politik und vollberechtigtes, starkes Nationalbewußtsein ist ihm Chauvinismus. Jener erste Mißgriff der Regierung findet zum Teil wenigstens eine Entschuldigung darin, daß es in den breiten Schichten des deutschen Volkes und vollends in unserer Volksvertretung an Verständnis und an Opferwilligkeit für diese überseeischen Dinge fehlt, während beide in Frankreich in hohem Maße vorhanden sind. Wenn man mitten in diesen Dingen drin steht und sieht, wie klein die Zahl derjenigen bei uns ist, die überhaupt eine Ahnung davon haben, daß es sich in der Kolo- nialpolitik um nichts Geringeres als um die Sicherung der Zu- kunft unseres Volkes handelt, und daß diese wenigen zum großen Teil nicht zu den mit Glücksgütern gesegneten gehören, vermag man sich tiefer Entmutigung nicht zu erwehren. Welche Mühe kostet es bei uns, um die kleinen Summen zusammenzubetteln! In letzter Stunde noch werden 50 000 Mark zusammengebracht zur Ausrüstung der Uechtritzschen Expedition, die doch dazu beigetragen hat, einiges zu retten, während die Franzosen in wenigen Wochen 1892 130000 Francs und bis Ende des Jahres 257000 Frcs. zur Ausrüstung der Maistreschen Expedition zu- sammen hatten. Die Opferwilligkeit würde allerdings auch bei uns größer sein, wenn ein zielbewußtes weitausschauendes Vor- gehen der Regierung dazu ermutigte. Während unsere Sendlinge sich mit ihren schwachen Kräften und Mitteln durch die feuchten Urwaldgehölze und feindliche Völker zu Lande von Kamerun aus vorzudringen abmühten, sozusagen den Stier bei den Hörnern packten, kamen uns die Franzosen auf den bequemen Wasser- straßen vom Kongo, ja selbst vom Binue aus zuvor, schlössen Verträge und gründeten Stationen an Orten, die wir unserem Machtbereich bereits für gesichert hielten. Daß wir noch so viel, eine Ausdehnung unseres Machtbereiches bis zum Schari und zum Tschadsee, erreicht haben, also . über Gebiete, auf die wir tatsächlich keine anderen Rechtsansprüche erworben haben, als diejenigen, die jemand aus der rein wissenschaftlichen Tätigkeit deutscher Forscher früherer Zeiten herleiten möchte, das beruht — 383 — wohl im wesentlichen darauf, daß die Franzosen, abgesehen von der Uechtritzschen Expedition, mit Rücksicht auf die Engländer und namentlich wegen der Zusammenstöße mit denselben im Innern von Oberguinea zu einem Abschlüsse und einer Regelung der Grenze uns gegenüber zu kommen wünschten. Da jetzt nur noch in Togoland ähnliche Fragen, aber von untergeordneter Bedeutung, zu regeln sind, so bildet dieser Ver- trag den wirkUchen Abschluß der Aufteilung Afrikas und unserer an derartigen traurigen Episoden nicht gerade armen Geschichte der Gründung unseres Kolonialreiches; für Frankreich bezeichnet er die Erreichung eines großen mit bewundernswerter Opfer- freudigkeit und Tatkraft, erst unsicher und tastend, bald aber immer sichereren Schrittes angestrebten Zieles. Da die Franzosen schon vorher, in ähnUcher Weise wie uns, dem Kongostaat ein gewaltiges Ländergebiet vorweg genommen hatten, reicht ihr Machtbereich, teils durch internationale Verträge anerkannt, teils von niemand bestritten, von 5° südlich vom Äquator bis 37*^ Nord, vom Kongo bis zum Mittelmeere, dessen Südgestade in Klein- afrika in etwa 25 stündiger Fahrt der Südküste Frankreichs gegen- über liegt. Sehr rasch hat somit das Ende 1890 erst gegründete Comite de l'Afrique fran^aise, eine große, alle Stände und Berufsarten umfassende Gesellschaft, ihr Ziel, alle Besitzungen Nord- und Westafrikas durch Erschließung des Iimem unter sich zu verbinden und zunächst das französische Kongogebiet nordwärts bis zum Tschadsee auszudehnen, äußerlich wenigstens erreicht. Nur die (bekanntlich seitdem auch erreichte) Ver- bindung des Sudan mit Algerien fehlt noch. Im Süden bildet somit heute der Kongo von unterhalb des Stanleypool bis zur Mündung des Ubangi, seines großen rechten Zuflusses, dann dieser selbst bis zur Mündung seines rechten Zuflusses Mbomu {2^° ö. L. V. Gr.) die anerkannte Grenze des französischen Ge- bietes gegen den Kongostaat, östlich von unserem Kamerun- gebiet, das immerhin noch ungefähr 495 000 qkm umfaßt, also dem Deutschen Reiche selbst wenig nachsteht, ist fast das ganze Scharibecken, also namentlich die große von G. Nachtigal er- forschte Landschaft Bagirmi Frankreich überantwortet. Das gleiche gilt vom größeren Teile des mehr einem flachen, sich periodisch ausdehnenden und verkleinernden Sumpfe ähnelnden Tschadsees, da, von dem kleinen uns jetzt zugesprochenen südlichen Uferstück — 384 - abgesehen, der englisch-französische Vertrag vom 5. August 1890 nur das allerdings wertvollste, vom Golf von Guinea am leich- testen zu erreichende Südwestufer des Sees im Reiche Bomu, England zusprach. Dieser Vertrag erkannte ausdrücklich die Freiheit des weiteren Hinterlandes von Kamerun an und gab so den Franzosen den sofort benutzten Anstoß vom Kongo aus in diese Länder vorzudringen, wie der uns verhältnismäßig günstige englisch-deutsche Vertrag vom 15. November 1893, der uns den Zugang zum Tschadsee sicherte, sofort die nunmehr befriedigten Ansprüche Frankreichs hervorrief. Die englisch-französische Grenze im mittleren Sudan verläuft im allgemeinen von Barrua am Tschad- see in westUcher Richtung nach Say am Niger, so daß also, wie schon seit längerer Zeit das Senegalgebiet, so jetzt auch das ganze obere Nigergel)iet als französischer Einflußbereich anerkannt und in der Tat auch schon zum Teil französisches Schutzgebiet ist. Auch hier haben die Franzosen sofort nach Abschluß des Vertrages durch Major Monteil, der vom Senegal ausgehend (Oktober 1890), über Segu und Say am Niger, Sokoto und Kano den ganzen westlichen Sudan bis Kuka am Tschadsee (April 1892) durchquert hat, die Grenzlandschaften gegen den englischen Machtbereich zwischen Niger und Tschad in ihrem Interesse durchreisen und bearbeiten lassen. Doch ist der wirkliche Ver- lauf der Grenze hier noch sehr zweifelhaft, da die Engländer, besonders die englische Nigergesellschaft, als Schutzherren der wichtigen Fellatahstaaten, alles in Anspruch nehmen, was irgend- wie zum Reiche Sokoto gehören könnte, selbst die Landschaft Damergu, ja sogar die bereits in der Sahara gelegene Oasen- landschaft Agades und A'ir.^) I) Nach Vertrag vom 14. Juni 1898 mit England verläuft die Nord- grenze des englischen Nigeria zwischen Tschadsee und Niger ungefähr unter 14" n. Br. Was nördlich davon liegt, so namentlich der größte Teil der mittleren und der westlichen Sahara, abgesehen von dem spanischen Gebiet des Rio de Oro am Ozean, ist als französisches Einflußgebiet anerkannt. Im Jahre 1900 wurde die wichtige Oasengruppe von Tuat, der Knoten- punkt der Handelswege vom Nigerbogen und dem französischen Timbuktu her nach den Atlasländern erobert. Wird die Herstellung einer regel- mäßigen Verbindung, die viel erörterte Transsaharaeisenbahn zwischen Al- gerien und dem Niger auch noch lange auf sich warten lassen, so ist es doch endlich nach jahrzehntelangem Bemühen und großen Verlusten dem - 385 - Mit einem gewissen Rechte können die Franzosen somit heute ganz Nordwestafrika bis zu einer Linie von der Kleinen Syrte zum Tschadsee und Kongo als französischen Machtbereich ansehen, innerhalb welches zerstückt deutsche, englische, portu- gisische, spanische Gebiete und Marokko, alle rings von fran- zösischem Gebiet umschlossen, liegen. Vielleicht träumt man schon davon, daß eine Aufsaugung dieser fremden Einschlüsse nur eine Frage der Zeit ist. Jedenfalls wird eine endgültige, den geographischen Verhältnissen mehr Rechnung tragende Auf- teilung Afrikas erst durch einen europäischen Krieg herbeigeführt werden. Hoffen wir, daß bis dahin auch bei uns die nötige Einsicht durchgedrungen ist, die das ganze Afrika nicht mehr als eine Last ansieht, die man lieber abschütteln als weiter ver- mehren möchte. Man kann dies französische Nordwestafrika auf 9,6 Mill. qkm, so viel wie ganz Europa, fast y^ von Afrika, das 18 fache von Frankreich, mit sSYg Mill. Bewohnern schätzen. Wie schon letz- tere Zahl erkennen läßt, ist ein sehr großer Teil dieser ungeheuren Landmasse überhaupt unbewohnbar, der Rest sehr dünn bevölkert, wenn auch einer großen Verdichtung der Bevölkerung zugänglich. Vor allem gilt dies vom Nordrande von Kleinafrika, der viele Millionen europäischer Ansiedler aufzunehmen fähig ist. Den bei weitem besten Teil des tropischen Nordwestafrika haben aller- dings die Engländer an sich gerissen, das untere Nigergebiet und den Zentralsudan bis zum Tschadsee, Länder, die schon heute dicht bevölkert, reich an großen Städten als Sitzen des Handels und der Gewerbtätigkeit mit wohlgeordneten Staatswesen sich rasch zu einem wichtigen Absatzgebiete britischer Erzeug- nisse zu entwickeln vermögen, um so rascher, da hier allein Innerafrika durch große Wasserstraßen, wie sie der Niger und sein großer linker Zufluß Binue bilden, von der tiefen Ein- buchtung von Guinea aus zugänglich ist. Immerhin sind aber auch das französische obere Nigergebiet und das Senegalgebiet sehr zukunftsreich. Sie bergen Sitze tief ins Mittelalter hinein- Reisenden Foureau 1898 gelungen, von Algerien aus die Sahara nach dem Sudan zu durchqueren, ja 1904 begegneten sich zwei französische militä- rische Forschungsgesellschaften, die eine unter Laperrine von Tuat, die andere unter Thevoniant von Timbuktu ausgegangen, mitten in der Wüste in Ti- missao unter 22 * n. Br. Fischer, Mittelmeerbilder. 25 — 386 - reichender Gesittung, alte Staatenbildungen und sind durch die Wasserstraße des oberen Niger, welche sich freilich sehr unvoll- kommen im Senegal fortsetzt, beide zwischen Kayes am Senegal und Bammako am Niger durch eine Eisenbahn verbunden, vom Ozean aus zugängUch. Hier liegt eine, wohl die wichtigste Zu- gangsstraße Frankreichs zu Innerafrika. Dakar, der Haupthafen der Senegalkolonie, dicht unter dem Grünen Vorgebirge, ist in elf Tagen von Marseille erreichbar.^) Bedeutungsvoll ist dabei, daß die Senegalkolonie zugleich eine der ältesten französischen Kolonien überhaupt ist, der einzige vor der unersättlichen Länder- gier Englands gerettete größere Rest des ersten französischen Kolonialreiches. Seit vollen zwei Jahrhunderten herrschen hier die Franzosen, aber sehr langsam hat sich ihr Einfluß nach dem Innern, selbst längs dem Senegal ausgedehnt, etwas rascher eigentlich erst seit 1880; erst 1883 setzten sie sich unter Oberst Desbordes in Bammako am oberen Niger fest und drangen von da, Stationen gründend und Schutzverträge schließend, nicht ohne heftige, Wechsel- und verlustvolle Kämpfe, die bei uns die Kurz- sichtigkeit und Parteiwut wahre Orgien hätten feiern machen, sowohl stromauf, wie stromab weiter vor. Namentlich gelang es auch durch Schutzverträge die französische Elfenbeinküste mit dem oberen Nigergebiet in Verbindung zu bringen, so daß dort jede Ausdehung der englischen und portugiesischen Besitzungen wie der Republik Liberia nach dem Innern unterbunden ist. Überall rückt die unmittelbare Herrschaft Frankreichs der Schutz- herrschaft rasch nach. Den äußersten Punkt französischer Herr- schaft bildet das heute wieder einmal vielgenannte Timbuktu, das am 10. Januar 1894 besetzt wurde, nachdem französische Kanonenboote schon seit April 1893 in Kabara, dem Flußhafen von Timbuktu am Niger, stationiert gewesen waren. Damit ist, wenn auch mit Rücksicht auf Anbahnung besserer Beziehungen zu den Tuareg vielleicht zu früh, ein hochbedeutungsvoller Schritt geschehen. Denn behaupten wird Frankreich Timbuktu unter allen Umständen, wie die neuesten Nachrichten tatsächlich auch bereits von in Ausführung begriffenen Festungsanlagen dort melden. l) Es wird jetzt zu einem großen Seekriegshafen und Flottenstützpunkte ausgebaut. - 38? - Die augenblickliche Bedeutung von Timbuktu ist eine ge- ringe, es ist durch Lahmlegung des Handels infolge der unauf- hörlichen, sich meist um den Besitz dieses wichtigen Punktes drehenden Kämpfe zwischen den Bewohnern der Wüste, heute den Tuareg, und den Bewohnern des Kulturlandes, heute der Fulbe, ziemlich entvölkert und verödet. Schon H. Barth, durch den wir es zuerst kennen gelernt haben, fand es 1853 gesunken und schätzte seine kennzeichnend für die Handelsstadt außer- ordentlich bunt gemischten Bewohner nur auf 13000, O. Lenz 1880 auf etwa 20000, seitdem scheint aber ein rascher Rück- gang stattgefunden zu haben und der Handel arg darnieder zu liegen. Die Lagenverhältnisse von Timbuktu sind aber so aus- gezeichnete, daß es in den Händen einer starken Macht rasch wieder die Bedeutung erlangen muß, die es in früheren Jahr- hunderten gehabt hat. Die Stadt liegt 15 km nördlich vom Niger, der aber bei Hochwasser noch die Umgebung überflutet, in wüstenhafter Umgebung, nur durch den Flußhafen Kabara, der aber auch an einem Seitenarme liegt, mit dem Strome verkehrend. Dieser bildet hier ein auffälliges Knie und ändert seine bisherige Nordostrichtung, also in die große Wüste hinein, erst in Ost, weiterhin in Südost. Um diese Lage, die die Stadt als gegen die Wüste vorgeschoben, aber durch die beiden schiffbaren Schenkel des Stromes mit dem Sudan verbunden erscheinen läßt, noch bedeutungsvoller zu machen, wird hier der oberhalb mehr- fach geteilte, große Zuflüsse aufnehmende Strom, also ein Bündel von Wasserstraßen, in eine einzige Rinne zusammengedrängt. Timbuktu ist also ein zum Austausch der Erzeugnisse völlig ver- schieden ausgestatteter Gebiete, des Sudan und der Sahara und, da Wasserplätze und Oasen sowohl von Südwestmarokko, wie von Tuat und Tripolitanien her die Wüstenstraßen auf diesen Punkt lenken, auch der Mittelmeerländer und Europas wie ge- schaffener Punkt. Sind doch die Beziehungen zu den zissaha- rischen Ländern so enge, daß man nicht nur zahlreiche Vertreter aller nordafrikanischen Völker in Timbuktu findet, sondern ein marokkanisches Heer 1588 die Stadt eroberte, die auf ein Jahr- hundert Marokko Untertan blieb. Als Handelsstadt war Timbuktu namentlich im Mittelalter, aber auch noch später, obwohl oft er- obert und verwüstet, ein Sitz des Reichtums, wenn auch nicht in dem Maße wie es wohl geschildert worden ist, eine Stätte mo- 25* - 388 - hammedanischer Gesittung und Gelehrsamkeit, die wohl von hier aus zuerst in den Sudan kulturfördernd eingedrungen ist. Wer will behaupten, daß es in nicht ferner Zukunft, wenn es den Franzosen gelingt die Verbindung mit dem Mittelmeere her- zustellen, in ähnlicher Weise der Ausgangspunkt europäischer Gesittung für den Sudan wird? Das Klima scheint derartig zu sein, daß Europäer in großer Zahl und andauernd als Kultur- träger dort wohnen können. Die geographischen Bedingungen zu einem neuen Aufblühen Timbuktus sind nur in geringem Maße dadurch geändert, daß der zentrale Sudan durch Niger und Binue einen bequemeren Weg zum Meere und nach Europa erhalten hat, aber die Erzeugnisse der Sahara, das für den Sudan überaus wichtige Salz, Datteln, Lederarbeiten u. dgl. sind noch die gleichen, ebenso die des Sudan, die unter europäischen Ein- flüssen nur in weit größeren Mengen hervorgebracht werden und für welche die sich mehrende Bevölkerung immer größere Mengen europäischer Waren wird aufnehmen können. Verfrüht kann die Besetzung von Timbuktu namentlich in- sofern erscheinen, als die Anbahnung friedlicher Beziehungen zu den Tuareg, die sich nun sozusagen zwischen zwei Feuer ge- nommen sehen, abgesehen von dem Verluste von Timbuktu zu- gleich als Einnahmequelle, immer schwieriger werden muß. Und solche herzustellen, da Gewalt anzuwenden sehr schwierig ist, schien gerade in letzter Zeit das eifrige Streben der französischen Kolonialpolitiker zu sein. - Denn seit langem ist es eines der Hauptziele derselben von Algerien aus den Verkehr mit dem Sudan, der seit der Eroberung Algeriens durch die Franzosen ganz aufgehört hat, neu zu beleben, ja Timbuktu und den Sudan durch eine Eisenbahn (le Transsaharien) an Algerien und Frank- reich zu knüpfen. Seit etwa anderthalb Jahrzehnt steht diese Eisenbahn in Frankreich im Vordergrunde der Erörterung und mit zähester Folgerichtigkeit, durch keinen Mißerfolg entmutigt, arbeiten die Regierung und weite Kreise der Nation an der Vor- bereitung und Weiterführung dieses großen Planes. Man ist sogar so weit gegangen, sich um die friedliche Mitwirkung der Herren der Wüste, der Tuareg, zu bemühen, obwohl der schwerste Mißerfolg, den Frankreich hier erfahren hat, die Ermordung des Obersten Flatters mit fast seiner ganzen Begleitung, gegen 150 Mann, durch die Tuareg in der Sahara zwischen Assiu und - 389 — Air, etwa unter dem 20. Parallel im Februar 1881 noch heute ungerächt ist. Es lohnt einen Augenblick bei den Bestrebungen der Fran- zosen zu verweilen, denen schon viele Millionen und Hunderte von Menschenleben geopfert worden sind und die, trotzdem die damit erzielten Erfolge gleich Null sind, mit einer Zähigkeit, ge- rade in den letzten Jahren, weitergeführt werden, der schließlich der Erfolg nicht fehlen wird. Es ist eben dieses Vorgehen der Franzosen in Afrika zurückzuführen auf den wohlberechtigten Nationalstolz dieses Volkes. Wie derselbe in Europa zur Wieder- erlangung der verlorenen Vorherrschaft den letzten Mann, der nur eben Waffen tragen kann, in das Heer einreiht und dafür die drückendsten Geldopfer bringt, so ist er gleichzeitig bemüht über See dem gewaltig anschwellenden Angelsachsen- und Slawentum gegenüber, die schon heute, und nächst ihnen die Deutschen, an Kopfzahl die Franzosen weit in Schatten gestellt haben, die größten Ländergebiete dem französischen Einflüsse, dem französischen Handel zu sichern. Ein so unentwegt folge- richtiges Vorgehen, trotz der unablässig wechselnden Ministerien, wäre nicht möghch, wenn nicht die breitesten Schichten der Nation, wie Regierung und Volksvertretung von der Überzeugung durch- drungen wären, daß die äußere Machtstellung eines Volkes sich auch in der Anerkennung wiederspiegelt, welche seine Erzeugnisse auf dem Weltmarkte finden, und daß es sich in dem gewaltigen wirtschaftlichen Ringen der Völker darum handelt, über See Frankreich ein großes geschlossenes W^irtschaftsgebiet zu sichern, in welchem sich seine reichen Geldmittel und seine Kulturkräfte unter dem Schutze des eigenen Staates nutzbringend betätigen können; Länder zu erwerben, welche Frankreich für den Bezug von Roh- und Nährstoffen, für den Absatz der Erzeugnisse des eigenen Gewerbefleißes vom Auslande mehr und mehr unab- hängig zu machen imstande sind. Wie weit sind wir Deutschen, Hoch und Niedrig, noch von dieser Erkenntnis entfernt, wie kläglich ist das Schauspiel, welches unsere Volksvertretung und unser Volk bietet, wenn es sich um Sicherung unserer Zukunft auf dem Wege der Kolonialpolitik oder um die Vermehrung un- serer Streitkräfte und Aufbringung der Mittel für dieselben han- delt. Trotzdem wir mit unserem Heere und mit den geringen Mitteln, die uns zur Erwerbung und Entwickelung unserer Schutz- — 390 — gebiete zur Verfügung standen, Großes geleistet haben! Trotzdem wir Geschick und Kulturkräfte, an denen, wie wir sehen werden, Frankreich gewiß keinen Überfluß hat, ja selbst Geld in Fülle besitzen! Ungeheuere Verzinsung suchende Summen haben unsere in allen überseeischen Dingen kläglich unwissenden, mißleiteten Sparer an so vertrauenerweckende Völker wie Griechen und Portugiesen verloren, die sie auf mindestens ebenso gewagte Unternehmungen verwendet haben, wie in unseren Kolonien, nur ohne daß unsere redliche Verwaltung die Verwendung überwachen konnte. Wenn nur ein Bruchteil derselben in Eisenbahnen, Pflan- zungen und dergleichen in unseren Schutzgebieten, wo wenig- stens gegen Rechtsanschauungen, wie sie jene Völker zeigen, Gewähr geleistet M'äre und wir selbst die Verzinsung in der Hand hätten, angelegt worden wäre, wieviel weiter wären wir schon heute! Die Katastrophe der Flattersschen Expedition hat die Ver- suche der Franzosen, durch die Sahara ihren den Niger abwärts vordringenden Streitkräften die Hand zu reichen, nur für kurze Zeit unterbrochen. Namentlich hat auch die Wissenschaft durch dieselben und die Vorarbeiten für die Eisenbahn wesentliche Förderung erfahren. Die Oberflächenformen, den geologischen Aufbau der großen Wüste, die Lage der so wichtigen wasser- führenden Schichten kennen wir heute, namentlich durch die er- folgreiche Tätigkeit des Geologen G. Rolland, der die Vorarbeiten für die Eisenbahn leitet, wesentlich besser. Es scheint trotz des Wettbewerbs der anderen Provinzen doch der von Constantine und Philippeville am Mittelmeere ausgehenden Linie der Vorzug zu geben zu sein, da diese nicht nur seit mehreren Jahren bis Biskra, am Rande der Wüste, in Betrieb, sondern bereits darüber hinaus bis Tuggurt im Bau und bis Wargla vorbereitet ist. Wie schon von Biskra an die Schwierigkeiten nur in dem Mangel an Wasser und drohenden Sandverwehungen liegen, so scheint auch von Wargla nach den Forschungen von M. G. Mery im Jahre 1893 das Gelände unter Benutzung des 12 — 13 km breiten sandfreien Bettes des Wadi Jgharghar auf volle neun Tagereisen keine Schwierigkeiten zu bieten. Freilich bleibt auch dann noch eine ungeheuere Strecke unerforscht und die Entfernung des äußersten von den Franzosen besetzten Postens, Hassi Inifei, von Timbuktu beträgt noch i 700 km, d. i. so viel wie von Berlin — 391 — nach Konstantinopel. Und wenn wirklich alle Schwierigkeiten, welche Natur und Menschen entgegenstellen, überwunden würden, so würde die Ertragsfähigkeit der Eisenbahn noch lange eine so mangelhafte sein, daß nur ihre große politische Wichtigkeit einen Ausgleich gewähren könnte. In jeder Hinsicht würde die Be- deutung derselben aber eine gewaltige Einbuße erleiden in dem Augenblicke, wo diejenige Linie gebaut würde, welche die Natur selbst vorgezeichnet hat: von Tripoli zum Tschadsee. So sehr die Franzosen die Vorzüge dieser Linie zu leugnen bemüht sind, so deutlich verraten ihre auch auf Tripolitanien , im Wettbewerb mit Italien, gerichteten begehrlichen Blicke, daß sie innerlich von denselben vollauf überzeugt sind. Seit einer Reihe von Jahren rücken die Franzosen planmäßig in der Sahara vor, indem sie einerseits ihre festen Posten immer weiter vorschieben, die älteren verstärken und besser nach rück- wärts verbinden, andererseits die Tuareg zu gewinnen suchen. In letzterer Hinsicht ist die Reise eines Abgesandten der Eisen- bahngesellschaft, des eben erwähnten M. G. Mery, im Jahre 1893 zu erwähnen, der am jetzt trockenen Menkhoughsee mit den Häuptern der Tuareg Asdscher eine Zusammenkunft hatte. Die- selben gaben die Erklärung ab, daß sie friedlichen Verkehr der Franzosen nicht hindern würden, einem bewaffneten Vordringen jedoch allen Widerstand entgegensetzen würden. Um dieselbe Zeit verhandelte F. Foureau, einer der unerschrockensten und erfolgreichsten neueren Saharaforscher, dessen Bekanntschaft ich 1886 in Biskra machen konnte, in der Nähe von Ghadames mit anderen Häuptern der Tuareg. Ihm kam es namentlich darauf an, die Tuareg zur Anerkennung des von den Franzosen immer wieder hervorgezogenen Vertrages zu bringen, welchen Oberst Mircher 1862 in Ghadames im Namen des Marschall Pelissier mit den Tuareg abgeschlossen hatte und der nach fran- zösischer Auffassung allen französischen Kaufleuten im ganzen Machtbereiche der Tuareg vollkommene Sicherheit gewähren sollte. Foureau ist soeben von einer letzten, in diesem Winter zu ähn- lichen Zwecken nach Ghadames unternommenen Reise nach Algerien zurückgekehrt, während vom Senegal aus L6on Fabert die Stämme der südwestlichen Sahara seit i8gi zu gewinnen sucht. Auch Gesandtschaften der Tuareg sind wiederholt und noch 1892 in Algier gewesen und haben selbstverständlich stets — 392 — eine ausgezeichnete Aufnahme gefunden. Alle diese Bemühungen sind aber bisher erfolglos, ja zum Teil unheilvoll gewesen, indem sie bei den Franzosen eine Vertrauensseligkeit hervorriefen, die zu solchen Katastrophen wie die Vernichtung der Flatterschen Expedition führten. Die Besetzung von Timbuktu dürfte wohl auf lange Zeit Anknüpfungsversuche unmöglich machen. Langsamer, aber sicherer muß die immer weitere Vorschie- bung französischer Posten zum Ziele führen. Wargla, der größte dieser Posten, 32^ n. Br., schon 1852 von den Franzosen be- setzt, als Mittelpunkt einer sehr großen Oase im Mittelalter ein Hauptsitz des Handels, birgt schon eine kleine bürgerliche fran- zösische Kolonie, namentlich auch eine Niederlassung der Väter der Missionsgesellschaft von Äquatorialafrika und ist heute der Ausgangspunkt aller Unternehmungen in der Sahara. An El Golea, das, 300 km weiter südwestlich, 1873 in Besitz genommen ist, sind im Herbst 1892 noch Hassi Inifei, noch weitere 150 km südwärts, ein spärlich mit Wasser versehener Punkt, ohne Bedeu- tung für den Handel, aber strategisch wichtig zur Beherrschung der Wege nach Tuat, ferner Mey und Berrec^of, dieses in der Richtung auf Ghadames, besetzt und befestigt worden. Eine eigene Kamelreiterei ist für den Dienst so tief im Innern der Wüste errichtet worden. Allerneueste Berichte französischer Zei- tungen erwähnen noch drei noch weiter gegen Tuat vorgescho- bene Punkte, die soeben besetzt und befestigt worden sind oder werden. Von den Forschern wird auf Errichtung von Posten in El Biodh, Temmassinin, Messegem und Amgid, kleinen, nur zum Teil bewohnten Oasen mit Quellen und Brunnen, gedrungen, durch welche man das Tuaregland selbst in Schach halten und die Straßen von Ghadames und Rhat nach Tuat beherrschen könnte. Noch wichtiger freilich wäre die längst geplante Besetzung der großen Oasengruppe von Tuat und Tidikelt, namenthch In-Salah, die noch kein Franzose hat betreten dürfen. Damit wäre ein Hauptherd des Widerstandes gegen die Ausdehnung der Fran- zosen in der Sahara, der wichtigste Knotenpunkt der Straßen, besonders der nach Timbuktu führenden und vor allem der Punkt in Frankreichs Gewalt, auf welchen die Tuareg für den Bezug von Brotstoffen, Datteln, Pulver und dergleichen angewiesen sind. Bisher haben die Tuater dieser Gefahr durch auffällige Anerken- nung der Herrschaft von Marokko vorzubeugen gesucht. Es will — 393 — indessen scheinen, als sei ein Schlag gegen Tuat soeben nur durch die rasche Beilegung des spanisch-marokkanischen Streites vereitelt worden,^) Welche Aufmerksamkeit man in Frankreich neuerdings den Vorgängen in der Wüste schenkt, darauf deutet auch die Reise (1894) des jetzigen Generalgouvemeurs von Al- gerien Cambon, eines der geschicktesten Verwalter und Diplo- maten des heutigen Frankreich, bis nach Golea. Cambon hat es sich besonders große Mühe kosten lassen, mit den Tuareg zu einem Einverständnis zu kommen. Der bei weitem größere Teil des französischen Kolonial- reichs in Nordwestafrika ist also erst seit wenigen Jahren er- worben, ja ist zum Teil erst auf der Karte französisch, viele seiner Bewohner haben vielleicht den Namen Frankreichs noch nie gehört. Vielfach wird es großer Klugheit und langer Kämpfe bedürfen, um überhaupt die französische Herrschaft zur Anerken- nung zu bringen. Alte Staaten, wie Baghirmi, werden noch ganz anderen Widerstand entgegen stellen, wie Samory und Ahmadu^), die Herrscher wenig in sich gefestigter Beiche im oberen Niger- gebiet. Noch schwieriger erscheint allerdings die Aufgabe, welche in dieser Hinsicht die Engländer im Niger- und Binuegebiet übernommen haben, aber diese lassen ihre Herrschaft zunächst durch eine Handelsgesellschaft vorbereiten und haben in der Be- handlung von Herrschern und Völkern auf einer Stufe der Ge- sittung, wie die dortigen, reiche Erfahrungen gesammelt. Jeden- falls liegt die Bedeutung des französischen Nordwestafrika noch in der Zukunft und kein Denkender wird erwarten, daß dasselbe schon heute ein wesentlicher Faktor im Wirtschaftsleben Frank- reichs, eine Machtquelle ist, die sich bei der Entscheidung der Geschicke Europas schon heute geltend machen könnte. Daß aber die Möglichkeit einer raschen Entwickelung an und für sich vorhanden ist, das wird kein Einsichtiger leugnen. Denn schon heute spielt Afrika mit seinen Erzeugnissen im Wirtschaftsleben Europas, nächst England vor allem auch Deutschlands, eine sehr große Rolle, obwohl noch kein halbes Jahrhundert, im Völker- leben eine verschwindend kurze Spanne Zeit, vergangen ist, seit durch Unterdrückung der Sklavenjagden und des Sklavenhandels 1) Die Franzosen haben bekanntlich 1900 Tuat besetzt. 2) 1898 unterworfen. — 394 — an der Westküste, — an der Ostküste und in einem großen Teile des Innern ist ja diese Zeit noch nicht ganz vorüber — gesetzmäßiger Handel dort hat Fuß fassen können. Denn bis dahin kamen neben Sklaven sonstige Erzeugnisse Afrikas kaum in Betracht und besonders für das Wirtschaftsleben Europas war Afrika kaum vorhanden. Was wird demnach Afrika bei dem fieberhaften Wettbewerbe aller Völker für Europa und besonders für diejenigen Völker nach weiteren 50 Jahren sein, die sich einen Anteil an diesem Erdteile zu sichern gewußt haben! Um so wertvoller muß Afrika werden, je mehr die Yankees die Monroe- doktrin, die nächst England uns Deutsche schädigen muß, zur Anerkennung bringen. Einen Einblick in das, was für Frankreich diese ungeheueren Länder einmal werden können, kann, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, vielleicht eine Betrachtung dessen gewähren, was dasselbe in dem am längsten seiner Herrschaft unterworfe- nen, ihm am nächsten gerückten und überhaupt in vieler Hin- sicht am meisten begünstigten Teile, nämlich in Algerien, geleistet hat. Es unterscheidet sich Algerien allerdings vom übrigen fran- zösischen Nordwestafrika, abgesehen von Tunesien, sehr wesent- lich dadurch, daß dasselbe auch zur Aufnahme europäischer An- siedler fähig ist, da sich sein Klima nur wenig von demjenigen der Südküste Frankreichs untersclieidet. Dies muß aber doch wohl als ein ungeheuerer Vorzug aufgefaßt werden, namentlich für Frankreich, dem sich nun die Möglichkeit bietet, auf jung- fräulichem Boden, fast im Angesichte des Mutterlandes, dessen Bevölkerung im Gegensatz zum ganzen übrigen Europa stehen bleibt oder zurückgeht, eine jugendfrische französische Bevölke- rung heranwachsen zu sehen, die, infolge der räumlichen Nähe, dem Mutterlande selbst von größtem Werte sein müßte und zu- gleich berufen wäre, die Träger französischer Gesittung tiefer in das afrikanische Festland hinein zu liefern. Daneben war hier aber auch die gleiche Aufgabe gestellt, wie im ganzen übrigen französischen Afrika, nämlich die Kulturerziehung und Anähn- lichung fremdrassiger Landesbewohner. Daß diese bereits eine eigene Kultur besaßen, mußte die Aufgabe ungewöhnlich er- schweren, die Möglichkeit, Franzosen in Menge unter ihnen an- zusiedeln, erlaubt aber auch eine Masseneinwirkung auf die Ein- geborenen, während die Kulturerziehung in den Tropen nur von — 395 — einzelnen, noch dazu individuell unablässig wechselnden Kultur- trägern ausgehen kann. Algerien als Kolonie bietet Frankreich Vorzüge, wie sie von allen europäischen Völkern nur noch den Russen im Besitz von Sibirien und Turkestan in noch höherem Maße zuteil geworden sind. Allerdings wird man auch schon jetzt sagen können, daß Turkestan, das in vieler Hinsicht als europäisches Kolonialland mit Algerien verglichen werden kann, nach 64 jähriger Herrschaft Rußlands diesem, trotz weit ge- ringerer Opfer, weit mehr sein wird, als Algerien heute Frank- reich ist. Algerien ist französische Kolonie geworden fast wider den Willen Frankreichs. Als die Franzosen am 14. Juni 1830 an seiner Küste landeten, handelte es sich für sie nur um eine Züch- tigung des Raubstaates, also um das gleiche, wie schon wieder- holt vorher den Holländern, den Franzosen selbst und den Eng- ländern, die erst 14 Jahre vorher unter Lord Exmouth Algier beschossen hatten. Jahrelang, ja bis gegen 1850, schwankte man, ob man sich dauernd festsetzen , ob man die Eroberungen aus- dehnen oder auf die Küstenplätze, wie es früher die Spanier getan hatten, die ja erst 1791 Oran geräumt hatten, beschränken solle, ja noch heute beklagen französische Patrioten diese Er- oberung, weil sie die Aufmerksamkeit von der Ostgrenze abge- lenkt habe, und setzen den Verkist Elsaß-Lothringens zu der Eroberung von Algerien in ursächliche Wechselbeziehungen. Bis 1835 hatten sich die Franzosen erst weniger Küstenplätze be- mächtigt und erst 1847 konnte man nach den langen, wechsel- vollen Kämpfen mit Abd el Kader die Unterwerfung des Teil, des wertvollsten, in seiner ganzen Ausdehnung europäischer Be- siedelung zugänglichen, von kleinen Ebenen durchsetzten Hügel- landes längs dem Mittelmeere, für vollendet ansehen, obwohl erst zehn Jahre später das Gebirgsland der großen Kabylei, fast im Angesichte von Algier, bezwungen wurde. Schon vorher war aber auch die Unterwerfung des Hochlandes und der Gebirgs- landschaften des Saharaatlas angebahnt, ja schon 1849 wurde das wichtige Biskra am Südfuße des Hochlandes und am Rande der Wüste dauernd befestigt. Um 1860, also nach 30jährigen Kämpfen, war die Eroberung vollendet. Aber noch zahlreiche, bald örtlich beschränkte, bald allgemeinere Aufstände, wie 1871, 1879, 1881 und 1882 folgten. Es leuchtet ein, daß jenes — 396 — Schwanken, die langen Kämpfe und sich wiederholenden Auf- stände der Entwickelung der Kolonie nicht günstig sein konnten. Die Schuld an diesen Erschwerungen lag aber zum großen Teil bei den Franzosen selbst. Rein theoretisch betrachtet boten sich zwei Wege, die Ko- lonie zur Entwicklung zu bringen: entweder man vernichtete die Eingeborenen bzw. drängte sie in die Wüste und setzte an ihre Stelle europäische Ansiedler, also wie es die Angelsachsen in Nordamerika und Australien gemacht haben, oder man suchte, durch französische Besatzungen den Besitz des Landes sichernd, ähnlich den Engländern in Indien, die Eingeborenen durch Ge- währleistung von Ruhe und Sicherheit, Förderung ihres mate- riellen und geistigen Wohles unter Wahrung ihrer Religion und sonstigen Eigenart für Frankreich zu gewinnen. Beide Wege hat man zu gehen gesucht, träumte man doch unter Napoleon III. von einem arabischen Königreiche, der erstere war aber zu allen Zeiten, namentlich bei den in Algerien lebenden Franzosen, der bei weitem beliebtere und derjenige, den die Regierung immer und immer wieder eingeschlagen hat, wenn auch ohne es offen einzugestehen; es war der Weg vor allem, den, meist ungestraft, jeder Kolonist auf eigene Hand wandelt. Beide Wege erwiesen sich aber schließlich als ungangbar und nicht zum Ziele führend, der letztere mußte zum Verluste der Kolonie führen, denn er hätte zu seiner Durchführung ein ganz außerordentliches Geschick in der Behandlung der Eiiigeborenen gefordert, wie es den Franzosen nicht eigen ist. So viele ausgezeichnete Eigenschaften dieses Volk auch besitzt, Verständnis fremder Eigenart, die Fähig- keit sich in eine fremde Volksseele hineinzuversetzen, ihr ge- recht zu werden und somit auf sie einzuwirken, eine Eigen- schaft, die wir Deutschen leider im Übermaß besitzen, ist ihm nicht gegeben. Das zeigt, wie wir noch weiter ausführen werden, namentlich auch die 64jährige Geschichte der Beziehungen der Franzosen zu den Eingeborenen Algeriens recht deutlich. Der erste Weg war ungangbar, weil es Frankreich tatsächlich an der Macht fehlte, die Eingeborenen zu vernichten und noch viel mehr an Menschen, um französische Ansiedler an ihre Stelle zu setzen, die, einmal erstarkt, wie die Angelsachsen in den Vereinigten Staaten, am kräftigsten das Vernichtungswerk hätten betreiben können. Auch daraus ergab sich ein der Kolonie wenig förder- — 397 — liches Schwanken. Bald drängte man die Eingeborenen mit allen Mitteln zurück und suchte Einwanderer unter allen möglichen Vergünstigungen herbeizuziehen, bald tat man das Gegenteil. Klarheit und Bestimmtheit hat bei den Regierenden fast immer gefehlt, nicht nur die Menschen, auch die Anschauungen, Pläne und Methoden haben unablässig gewechselt. So ist Algerien zu einer kolonialen Mischform geworden, sowohl Besiedelungskolonie, in welcher Europäer körperlich ar- beitend das Land durch Ackerbau, Bergbau, Fischerei, Handel und dergleichen ausbeuten, wie Betriebskolonie, in welcher die Eingeborenen, freilich fast unbeeinflußt in althergebrachter Weise, aber doch im wesentlichen zum V^orteile Frankreichs, Ackerbau und Viehzucht treiben. Man hat also in Algerien zwei Bevölkerungselemente zu unterscheiden, die eingewanderten Europäer und die Eingeborenen, zu denen wir die alteingesessenen Juden rechnen wollen, denen bei ihrem Bildungsstande und ihren Beziehungen zu den Moham- medanern 1870 das volle Bürgerrecht gewährt zu haben, heute wohl allgemein als ein Fehler anerkannt wird. Die Europäer, wenn wir uns diesen zunächst zuwenden wollen, sind zum Teil durch den Staat, zum Teil durch groß- kapitalistische Unternehmungen angesiedelt worden, nur wenige und meist auch erst im letzten Jahrzehnt sind einzeln und selb- ständig eingewandert.^) Der bis 1886 an und für sich geringen französischen Auswanderung erschienen bis vor kurzem die Zu- stände in Algerien so wenig verlockend, daß sie das ferne Amerika vorzog. Die staatliche Kolonisation zeigt eine Fülle von Mißgriffen. Man dekretierte Kolonien, ohne sich um die Mög- lichkeit und Zweckmäßigkeit derselben zu kümmern, man baute Dörfer fix und fertig, aber in fieberschwangeren Gegenden oder ohne Wasser und Wege. Als Kolonisten bot sich meist nur der l) Damit es nicht scheinen möge, als sei das folgende Bild von deut- scher Mißgunst eingegeben, bemerken ^vir, daß wir absichtlich auf Wieder- gabe der eigenen bei zwei Reisen durch das Land gesammelten Eindrücke verzichten und uns nur auf französische Gewährsmänner erster Ordnung stützen: einen Jules Ferry, der das Land kurz vor seinem Tode an der Spitze eines parlamentarischen Ausschusses bereist hat, den früheren Unter- staatssekretär Vignon, einen Kolonialpolitiker von Fach, den Minister Burdeau, die Kammerverhandlungen und andere Quellen. - 398 - Abhub der großen Städte, namentlich von Paris dar, zumal auch die Regierung lange Zeit Algerien als Ablagerungsstätte für solche lästige Elemente ansah. In einem Falle z. B. war ein nettes Dorf mit lauter steineren Häusern aufgebaut worden, jedes mit umfriedigtem Garten und Hofraum und 6 ha Land. Wer sich meldete, erhielt eine solche Stelle einzig unter der Bedingung, daß er während der ersten zwei Jahre, in denen er vom Staate unterhalten wurde, den sechsten Teil seines Besitzes urbar machte. Das Gesindel, welches sich an diesen gedeckten Tisch setzte, war natürlich unfähig oder auch nicht geneigt die gestellte Be- dingung zu erfüllen, nach den zwei Jahren verschwand es von selbst oder wurde es entfernt, bald war die Kneipe, die indessen alle Barmittel dieser ,, Kolonisten" aufgenommen hatte, das einzige noch bewohnte Haus. Die großen Gesellschaften, welche sich zur Ausbeutung des Landes bildeten, zogen natürlich brauchbarere Elemente heran. Das waren aber vorwiegend Spanier oder Italiener. Namentlich gilt dies von den Haifagesellschaften. Die Haifa (span. : Esparto), ein starrhalmiges Steppengras von sehr geringem Nährwerte, ist in den trockenen Landstrichen Algeriens, aber auch in Tunesien und Tripolitanien, vor allem auch in Südostspanien so verbreitet, daß man namentlich das Hochland von Algerien in großer Aus- dehnung geradezu als Haifasteppe bezeichnen kann. Obwohl schon von Karthagern und Römern in der Umgebung von Car- thagena (Campus spartarius) im großen zur Herstellung von Schiffs- tauen u. dgl. ausgebeutet, hat das Haifagras doch erst seit Anfang der 6oer Jahre Bedeutung auf dem Weltmarkte erlangt, seit man in England aus der Faser Papier, besonders für Zeitungen her- zustellen begann. Große bis dahin selbst als Weideland gering- wertige Flächen wurden nun in Ausbeute genommen und vor allem mit der Pflanze und ihrer Behandlung schon vertraute, ge- nügsame Spanier dafür herbeigezogen, die sich nach Ersparung einer kleinen Summe, meist im Lande, vor allem in der haifa- reichsten, Spanien am nächsten liegenden Provinz Oran, als Acker- bauer niederließen und andere Landsleute nachzogen. So sind heute in dieser Provinz, in welcher überhaupt die Zahl der Fremden weit größer ist als die der Franzosen, 152000 Spanier^) I) 1901 zählte man 155 OOO Spanier. — 399 — angesiedelt und sitzen dieselben in der Umgebung von Oran so dicht, daß dort selbst die Franzosen spanisch sprechen müssen. So ist ein beträchtlicher Teil der Provinz durch diese eine Pflanze erschlossen und besiedelt worden. Häfen und Eisen- bahnen, bis weit über das Hochland hin, die natürlich Verkehr und Ansiedelung auch sonst gefördert haben, sind durch sie ge- baut worden, sie ist, wenn auch jetzt sich ihre wirtschaftliche Bedeutung zu mindern scheint, in ähnlicher Weise zum Segen Algeriens geworden, wie etwa das Gold für Kalifornien. Ein schädliches Tier hat in anderer Weise die gleiche Rolle gespielt: die Reblaus. Die Verwüstung der französischen Wein- berge durch die Reblaus hat zuerst eine freiwillige, wirklich wert- volle Auswanderung von Franzosen nach Algerien hervorgerufen, das von derselben noch ziemlich verschont geblieben ist und sich für den Weinbau, wie wir schon aus dem Altertum wissen, vorzüglich eignet. Trotz der sehr bedeutenden Kosten der Ur- barmachung meist mit Gestrüpp bewachsenes Land ist die der Rebe gewidmete Fläche von 1881 — 91 von 30000 auf 107000 ha gestiegen. Trotzdem so besonders in den letzten zwei Jahrzehnten die europäische Einwanderung sehr gestiegen und auch die natürliche Vermehrung selbst unter den Franzosen eine wesentlich günstigere geworden ist, zählte die europäische Bevölkerung doch i8gi immer erst 480000 Köpfe ^), Heer und Fremdenlegion mit 65 — 68000 Mann eingerechnet. Von diesen 564000 Europäern werden 364000 zu den Franzosen, 200000 zu den Fremden gerechnet, so daß erstere heute zur großen Beruhigung der fran- zösischen Patrioten endlich das Übergewicht erlangt hätten.^) Untersuchen wir aber die Zahl etwas näher, so erscheint sie weniger rosig. Zu diesen „Franzosen" gehören zunächst etwa 72 000 Italiener, Spanier und Malteser, namentlich fast die ganze italienische Fischerbevölkerung, die sich, einem kräftigen Drucke folgend, seit i88g hat naturalisieren lassen. Vorher waren Naturalisationen verhältnismäßig selten, in den 22 Jahren 1867 bis 1888 nur 12000. Bei der Lebensweise jener Fischer ist 1) 1901 waren es 564 000. 2) Dazu kommen (1901) 57 000 naturalisierte Juden, die sich zu dem herrschenden Volke halten. — 400 — kaum anzunehmen, daß sie wirklich Franzosen geworden sind oder bald werden werden. Auch von den übrigen Naturalisierten gilt dies zum großen Teile. Ferner gehören zu den 364 000 französischen „Kolonisten" mehr als 5 1 000 Beamte mit ihren Familien, 10 000 Beamte der Eisenbahngesellschaften mit ihren Familien, 20000 Angehörige des geistlichen Standes u. dgl. — alle Priester müssen Franzosen sein und dürfen nur französisch sprechen — ferner alles, was an Gastwirten, Lieferanten u. dgl. vom Heere lebt. So bleiben von wirklichen französischen Kolo- nisten und deren Nachkommen, die also tatsächlich im Lande wurzeln, vielleicht noch nicht über 200 000 Köpfe übrig und von diesen ist eine große Zahl, jetzt im Durchschnitt etwa jährlich 5000, erst in den letzten Jahren als Weinbauer eingewandert. Es kommt also heute von der überraschend gestiegenen und wegen des Mangels an natürlicher Vermehrung recht bedenk- lichen französischen Auswanderung (i88g: 31000) immerhin ein ansehnlicher Teil auf Algerien. Derselbe geht also Frankreich nicht verloren, sondern wird nur um so wertvoller. Kaum 200 000 wirkliche Kolonisten, das ist also alles, was Frankreich mit ungeheuren Geldopfern und den verschieden- artigsten Lockmitteln herüberzuziehen, bzw. von den vielen Hun- derttausenden von ausgedienten Soldaten und Beamten im Laufe von 84 Jahren im Lande festzuhalten vermocht hat! Ackerbauer sind aber selbst von diesen nur ein Teil, da man von den Euro- päern überhaupt nur etwa 200 000 als solche ansieht und wir wissen, daß namentlich die Spanier darunter sehr zahlreich sind. Was an produktiver Arbeit im Ackerbau, Bergbau, Fischerei, Haifa- gewinnung, Straßenbau u. dgl. geleistet worden ist, ist überwiegend das Werk der Fremden. Einer meiner Gewährsmänner, ein eifriger Algerier und Fremdenhasser, die dort wohl ebenso zahlreich sind wie im Mutterlande, muß dies offen eingestehen. Die hohen An- sprüche, welche der Franzose an das Leben stellt, machen ihm in der Kolonie den Wettbewerb mit Spaniern und Italienern, denen überdies das Klima noch mehr zusagt, natürlich noch schwerer. Auch läßt die Fremdenfurcht jetzt täglich neue Mittel in Vor- schlag bringen, um dieselben vom Lande überhaupt, besonders aber von den Vergünstigungen der staatlichen Kolonisation fern- zuhalten, ihnen das Fortkommen zu erschweren, sie rascher auf- zusaugen u. dgl. Eine Massennaturalisation der Fremden, ohne — 40I — vorhergegangene Anähnlichung, wie sie 1884 vom Generalgouver- neur Tirman vorgeschlagen wurde, würde natürlich noch größere Gefahren bringen. Die Spanier z. B. warten nur darauf, um als französische Bürger und Wähler erst recht ihre nationalen Inter- essen zu vertreten, sich der Gemeindeverwaltungen zu bemächtigen, spanische Schulen zu errichten u. dgl. m.^) Wir sehen also, daß die Menschenarmut (in Verbindung mit den wirtschaftlichen Verhältnissen) Frankreichs ein großes Hinder- nis der Entwicklung dieser Kolonie ist, ja, daß dieselbe geradezu Gefahren für ihren Besitz heraufbeschworen hat. Fehlerhafte Verwendung des vorhandenen Kolonistenbestandes hat diese Schattenseiten noch verschärft. Wie rasch hat sich in der gleichen Zeit und mit sehr geringen Opfern das weltentlegene Australien und Neuseeland bevölkert, aus denen heute ungeheure Summen englischen Geldes, unter der Überwachung Englands angelegt, den englischen Sparern ein sicheres Einkommen gewähren. Die Zahl der Eingeborenen betrug i8gi 3570000 (igoi: 4 1 00 000 , die Marokkaner und Tunesier eingerechnet) und ist jetzt in raschem Wachsen begriffen. Sie zerfallen, wenn wir von der im Verschwinden begriffenen sogenannten maurischen Städte- bevölkerung absehen, in ureingesessene Berber und eingewanderte Araber. Die Berber, bei weitem die Mehrzahl, wenn sie sich und ihre Sprache auch noch hier und da in den Gebirgen rein gehalten haben, sind seßhaft, arbeitsam, eifrig auf Erwerb, be- sonders von Grundeigentum bedacht, gute Landbauer und Baum- züchter, demokratisch in allen ihren Einrichtungen, kurz grund- verschieden von ihren Unterjochern, den nomadischen, trägen, wenig fürsorglichen, aristokratisch-feudalen Arabern. Sehr be- zeichnend für die mangelnde Fähigkeit der Franzosen, fremdes Volkstum zu verstehen, ist es, daß sie lange Zeit gar nicht merkten, daß sie (wohl weil die Berber bis auf wenige Reste die arabische Sprache angenommen haben) zwei so grundverschiedene Völker vor sich hatten, die ganz verschieden hätten behandelt werden müssen. Man hat die Berber förmlich gezwungen mit ihren verhaßten Unterdrückern, den Arabern, gemeinsame Sache zu machen; man hat sie mit allen Mitteln zu arabisieren versucht, man hat ihnen, die meist nur äußerlich Mohammedaner sind, i) Ist seitdem sehr häufig eingetreten. Fischer, Mittelmeerbilder. 26 — 402 — Moscheen gebaut, hat ihnen das arabische Feudalsystem auf- gedrängt und zwingt sie, indem man nur arabisch mit ihnen spricht, noch mehr Arabisch zu lernen, also ähnlich wie aus Mangel an Nachdenken und Selbstachtung sogenannte gebildete Deutsche im Auslande zur Verbreitung der französischen Sprache beitragen, indem sie hartnäckig Französisch statt der eigenen oder der Landessprache sprechen, selbst wenn die Landes- bewohner Deutsch können oder sich Übung darin verschaffen möchten. Die Behandlung, welche die Eingeborenen von vornherein und bis heute erfahren haben, ist eine sehr üble. Schon der Umstand, daß man, auch Gebildete, ganz besonders aber die Kolonisten den Namen Araber, womit man alle Ein- geborenen zusammenfaßt, selten ohne „schmückende" Beiwörter, wie sale oder cochon, aussprechen hört, ist kennzeichnend. Lange Zeit, und bei den Kolonisten noch heute, galt der Grundsatz, man müsse die Eingeborenen mit jedem Mittel, durch den Alkohol und Krankheiten, durch Verarmung und Schürung von Zwietracht vernichten; eben noch erklärte einer meiner Gewährsmänner, nur Gewalt und Grausamkeit mache auf den Eingeborenen Eindruck. Man hat Aufstände gewaltsam hervorgerufen, um einzelnen Generälen Gelegenheit zu Siegen und Auszeichnungen zu geben. Scheußlichkeiten aller Art haben die von Offizieren geleiteten arabischen Bureaux geradezu sprich- wörtlich gemacht. Von 1830 — 45 hat man den Eingeborenen 18^4 Millionen Hammel, 2)^/^ Millionen Rinder und Q17000 Ka- mele weggenommen. Noch 187 1 haben sie als Strafe für den Aufstand 2)^^l'i Millionen Francs aufbringen und 446 000 ha des besten Landes in den Tälern im Werte von ig Millionen Francs abtreten müssen. Ungeheure Summen werden jahraus jahrein den schon blutarmen Eingeborenen als Strafgelder für Übertretung von Gesetzen auferlegt, die ihnen entweder unverständlich sind oder ohne deren Übertretung ihnen das Dasein geradezu un- möglich ist, z. B. das Weidenlassen von Vieh im Walde. Je zahlreicher solche Verurteilungen, um so zahlreicher sind die Waldbrände, die in ihrer wachsenden Häufigkeit die Stimmung der Eingeborenen kundgeben. Von dem, was an Geld, ob in Gestalt von ungerecht verteilten und unerschwinglichen Steuern oder sonstwie von den Eingeborenen eingetrieben wird, kommt — 403 — fast nichts wieder an sie zurück: Straßen, Brücken, Brunnen, Entwässerungen und Bewässerungen, alles nur für die Kolonisten. Alles gute Land wird nach und nach diesen übergeben, ja Fälle, wo dieselben ungestraft einem Eingeborenen das Wasser ab- schneiden, mit welchem dieser bisher seinen Frucht- und Wein- garten erhielt, sind häufig genug. Von einem Einflüsse der Franzosen auf die Eingeborenen in wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht ist keine Rede, man darf sich nicht durch vereinzelte Erscheinungen täuschen lassen. Die Masse der Eingeborenen ist unbeweghch und unbeeinflußt geblieben, nur einige Laster hat sie aufgenommen. Eine un- übersteigliche Kluft ist zwischen beiden Bevölkerungselementen befestigt, selbst in den Städten, wo dieselben noch heute völlig gesonderte Viertel bewohnen. Fanden doch in den neun Jahren von 1882 — go nur 34 Heiraten zwischen Europäern und Ein- geborenen statt. Naturalisationen kamen fast gar nicht vor, im großen durchgeführt würden sie auch, schon durch Schaff'ung einer Million Frankreich durchaus feindlicher Wähler, eine große Gefahr sein. Noch schlimmer wäre es, sie zur allgemeinen Heerespflicht heranzuziehen, denn schon heute gelten die etwa 1 2 000 Eingeborenen im französischen Heere , wenn sie heim- kehren, als die schlechtesten Elemente und als eine Gefahr. Kommt es doch vor, daß Eingeborene, die es als französische Linienoffiziere bis zum Oberstenrang gebracht haben, nach ihrer Verabschiedung in Algier wieder als Araber leben und zu Ara- bern werden. Ebenso gefährlich würde es sein, die allgemeine Schulpflicht auf sie auszudehnen. Schon 187 1 machten sich die Eingeborenen im Kampfe gegen die Franzosen das in fran- zösischen Schulen Gelernte zunutze. Das ganze Werk des Unter- staatssekretärs Vignon über Algerien zeigt eigentlich, wie man es machen muß, um eine Kolonie nicht zur Blüte und ihre Bewohner zur Verzweiflung zu bringen. Vignon hat den patriotischen Mut offen einzugestehen, daß ein Aufstand, furchtbarer als jemals, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit droht. Die ganze Eingeborenenbevölkerung harre nur der ersehnten Stunde, um das furchtbare Joch abzuschütteln. Und ähnlich äußern sich fast alle andern Landeskundigen. Weim schon 1871 86000 Mann nötig waren, um die 800000 Aufständischen, welche 200000 Waffenfähige stellten, niederzuwerfen, so wird bei einem nächsten 26* — 404 — Aufstande eine weit größere Truppenraacht in Algerien fest- gehalten werden, denn dieser wird bei der furchtbaren Er- bitterung der Eingeborenen, die heute namentlich auch durch die religiösen Orden eine Art Organisation und Beziehungen zur übrigen mohammedanischen Welt besitzen, ein ganz all- gemeiner sein. ' Zahlreihe Anzeichen deuten auf die drohende Gefahr hin. Die öffentliche Sicherheit ist eine sehr schlechte und wird täg- lich schlechter. Die Zahl der Angriffe auf Personen und Eigen- tum, obwohl viele gar nicht zur amtlichen Kenntnis gelangen, ist so groß, daß beispielsweise im Jahre i8go in der Gemeinde Medea, einem im Gebirge des Teil gelegenen, in wenigen Stun- den von Algier aus erreichbaren Städtchen von 5000 europäischen und 8000 eingeborenen Bewohnern, so viele Verbrechen vor- kamen, daß man im Verhältnis in Paris jährlich zählen müßte: 10 000 Morde, 6000 Mordversuche und 400000 Diebstähle. Es ist so weit gekommen, daß sich besondere geheime Gesell- schaften, die sogenannten Bechara, gebildet haben, durch deren Vermittlung der Kolonist Heber unter Zahlung des Viertels, ja der Hälfte des Wertes das gestohlene Gut zurückkauft, statt sich an die staatliche Gerichtsbarkeit zu wenden, die trotz ihrer Viel- schreiberei und Kostspieligkeit in der Regel nichts erreicht. Zwischen 1881 und 1890 sind 900 algerische Eingeborene, Räu- ber und Mörder, von Cayenne entkommen und bilden Banden, die zu vernichten sehr schwer ist, da sie bei den Eingeborenen Unterstützung finden. Zu diesen namentlich von den Eingeborenen drohenden Ge- fahren kommen die Schäden der Verwaltung. Gedankenlos, ohne jede Rücksicht auf die anders gearteten Verhältnisse, die grund- verschiedenen Rechts- und religiösen Anschauungen werden die französischen Gesetze von einer starren Bureaukratie zur Anwen- dung gebracht, von einer besonderen Vorbildung der Beamten für diesen Dienst, Erlernen der Sprache und dergleichen ist keine Rede. Unaufhörlich, fast jedes Jahr werden die Beamten von einem Ende des Landes zum andern versetzt, so daß sie sich nirgends tiefer in die Verhältnisse einleben und eine ersprieß- liche Wirksamkeit ausüben können. Ganz ähnlich werden ja die Zustände auch in anderen französischen Kolonien geschildert. Es fehlt am Zusammenarbeiten der verschiedenen Verwaltungszweige. — 405 — So hat man z. B. vor kurzem in der Provinz Constantine, da keine Verständigung zwischen dem Kataster, der topographischen und der allgemeinen Aufnahme stattfindet, 49000 ha doppelt, 3000 ha dreifach aufgenommen und so eine Million Francs ver- schleudert. Große Summen und wertvolles Staatsgut werden, wie Vignon nachweist, alljährlich durch allgemein verbreitete Miß- bräuche verschiedenster Art, Durchstechereien, Vergünstigungen und dergleichen verbraucht. Während die Straßen vielfach un- genügend und schlecht sind, so daß große Dörfer, ja Städte im Winter nicht selten ganz vom Verkehr abgeschnitten sind, werden anderwärts, wo fast gar kein Verkehr ist, aus persönlichen Rück- sichten oder zu Wahlzwecken Straßen gebaut. So schlimme Er- scheinungen, wie sie namentlich am Senegal und im Sudan neuerdings fast an der Tagesordnung zu sein scheinen, eigen- mächtiges Handeln der Truppenführer, der unteren gegenüber den oberen, dieser gegenüber den Zivilgouverneuren, treten in Algerien allerdings weniger hervor, finden aber ihre Erklärung in den Verhältnissen der Volksvertretung und der Presse in Paris, die einem erfolgreichen Führer nicht nur Straflosigkeit, sondern Ehren und Auszeichnungen in Aussicht stellen. Wie bedenklich solche Erscheinungen aber sind, bedarf keiner Ausführung. Die Besetzung von Timbuktu und vielleicht auch jene Zusammenstöße im Innern von Sierra Leone mit den Engländern stehen wohl damit in Beziehung. So gewaltige Summen Frankreich der Entwickelung von Al- gerien geopfert hat, die Zufriedenheit der Kolonisten hat es da- mit nicht erkauft, im Gegenteil, diese fordern immer neue Opfer. Jetzt sollen z. B. sofort 570 ^lillionen Frcs. durch eine Anleihe beschafft werden, um die Hilfsquellen des Landes rascher zu er- schließen. Der Grundbesitz ist allgemein tief verschuldet, Zwangs- verkäufe finden in unglaublicher Zahl statt. Die Kolonisten werden, dem Augenschein nach mit Recht, als dem Kneipenleben, dem Absinth und Billardspiel ergeben geschildert. Das ist das Bild, welches die Kolonie Algerien heute bietet nach 84jährigen schweren Opfern an Geld und an Menschen, welche Krieg und Fieber dahin gerafft haben. Die Summe, welche Frankreich auf Algerien verwendet hat, wird in zuverläs- sigster Weise für die Zeit von 1830 — 91 zu 5350 MiUionen Frcs. berechnet. Davon kommen auf die öffentliche Verwaltuno-, öffent- ■ — 4o6 — liehe Arbeiten, Kolonisation und dergleichen nur i 780 Millionen, alles übrige hat das Heer verschlungen. Algerien selbst hat da- von nur 1 400 Millionen aufgebracht, so daß die Reinausgabe Frankreichs vier Milliarden beträgt. Noch 1891 standen 40,4 Millionen Einnahmen 125,4 Millionen Ausgaben gegenüber, wo- von 54,5 Millionen allein für das Heer. Die französische Volks- vertretung ist es müde in dieses Danaidenfaß zu schöpfen und die Verhandlungen über das Budget von Algerien werden jedes Jahr erregter, Untersuchungsausschüsse werden ernannt und be- reisen das Land, Heilmittel der verschiedensten Art werden vorgeschlagen. Ob man aber diejenigen finden wird, die ge- eignet sind, diese heutige Lage Algeriens als Ergebnis einer derartigen 84jährigen Kolonialpolitik zu bessern, ist billig zu bezweifeln. So große Bewunderung man der Einsicht, der Zähigkeit, der Opferfreudigkeit und Tatkraft des französischen Volkes in bezug auf seine Kolonialpolitik entgegenbringen muß, auf das koloni- satorische Können kann sie sich nicht erstrecken. Es ist wohl keine Überhebung, weim wir von der deutschen Kolonialpolitik, selbst in der halben Weise wie sie bisher betrieben worden ist, Besseres erwarten. Die Franzosen selbst scheinen in Algerien doch auch vieles gelernt zu haben, indem sie in Tunis, aller- dings unter wesentlich günstigeren Verhältnissen, von vornherein die Sache weit klüger angefaßt und unleugbar schon heute recht wesentliche Erfolge erzielt haben. Sie behandeln Tunis wesent- lich als Betriebskolonie, die aber Frankreich, nachdem soeben der Kriegshafen von Biserta, dessen Bedeutung nicht leicht über- schätzt werden kann, wieder großen Schiffen zugänglich gemacht worden ist, in seinem Streben nach der Herrschaft auf dem Mittelmeere bereits einen gewaltigen Schritt weiter geführt hat. Indessen läßt sich, wenn wir von der augenblicklichen Lage als Frucht dessen, was im Laufe von 84 Jahren geschehen ist, ab- sehen, doch auch Algerien ein freundlicheres Aussehen abge- winnen. Wer das Land betritt und nur flüchtig durchreist, wird die tiefen Schäden nicht bemerken und freudig anerkennen, was ein großes Kulturvolk hier geschaffen hat. In manchen Städten, namentlich an der Küste, könnte man glauben, sich in Frankreich selbst zu befinden, und die Franzosen lieben es, von Frankreich in Afrika zu sprechen und ihre Leistungen mit denen ihrer Vor- — 407 — ganger auf diesem Boden, der Römer, zu vergleichen. Die meisten Küstenstädte besitzen unter großen Kosten geschaffene Hafenanlagen, die freilich den furchtbaren Stürmen, die hier zeitweilig hereinbrechen, nicht gewachsen sind, ausgedehnte Land- schaften sind fast unter Verdrängung der Eingeborenen mit euro- päischen Ortschaften bedeckt, zahlreiche Stauseen liefern Wasser zur Berieselung in der langen Trockenzeit, ein 3000 km langes Netz von Eisenbahnen und ebenso lange Staatsstraßen durch- ziehen das Land von der Grenze von Marokko bis zu der von Tunis und setzen sich bis Tunis selbst fort. Die Küste ist sorgsam aufgenommen und mit Leuchtfeuern besetzt, das der Landesaufnahme zugrunde liegende Dreiecksnetz ist durch eine für alle Zeiten denkwürdige geodätische Operation quer über den Westzipfel des Mittelmeeres und über Spanien mit dem europäischen verbunden, eine rasch fortschreitende topographische Aufnahme liefert Karten, die sich den besten Europas zur Seite stellen lassen, das Land ist in geschichtlicher und natur- kundlicher Hinsicht heute schon besser erforscht als viele Länder Europas, eine reiche Literatur über dasselbe ist in den Bibliotheken aufgespeichert. Die Bevölkerung, der Anbau, der Verkehr hat sich bedeutend gehoben. Der Gesamthandel in Aus- und Einfuhr ist von 1850 von 83 r^Iillionen Francs auf 500 Millionen im Jahre 1892, 600 MiUionen 1904 gestiegen, die Ausfuhr, die noch 1850 kaum in Betracht kam, nähert sich schon bedeutend der Einfuhr, ja übersteigt sie schon gelegentlich. Namentlich ist die erste Handelsstadt Frankreichs, Marseille, zum großen Teil das geworden, was es heute ist, durch die Bezie- hungen zu Algerien. Dieses nimmt unter den Ländern, nach welchen die französische Ausfuhr gerichtet ist, bereits die fünfte Stelle ein, und die Beteiligung Fremder, die grundsätzlich, wenn es irgend geht, aus den französischen Kolonien ausgeschlossen werden, am Handel mit Algerien ist bereits auf i97o herab- gedrückt. Die Handelsbewegung aller französischen Kolonien, also Algerien mit 500 Millionen eingerechnet, betrug 1891, so wenig entwickelt dieselben auch sind, bereits 1078 Millionen Francs. Eine so gewaltige Summe befruchtet also schon heute selbst das Wirtschaftsleben Frankreichs durch seine Kolonial- politik, — 4o8 — 6. Fünfzehn Jahre französischer Kolonialpolitik in Tunesien. 0 „Frankreich versteht nicht zu kolonisieren". Das ist ein Satz, den man in und außerhalb Frankreichs oft hören kann, zu dem aber das Verhalten der französischen Regierung und der Mehr- heit der französischen Volksvertretung in grellem Gegensatze steht. Denn wir sehen, daß Frankreich zu seinem älteren Be- sitze in Amerika, den letzten dürftigen Resten seines früheren Kolonialreichs, sich ein bereits recht ansehnliches Kolonialreich in Südostasien geschaffen hat und weiter auszudehnen bemüht ist und daß es vor allem in Afrika, abgesehen von der Riesen- insel Madagaskar j der Verwirklichung des großen Planes, den ganzen Nordwesten des Erdteils zu einem großen französischen Afrika vom Mittelmeer bis zum Kongo zu machen, sehr nahe gerückt ist.^) Betrachtet man dieses ungeheuere französische Kolonialreich in fünf Erdteilen, das an Ausdehnung nur dem englischen und russischen nachsteht,^) etwas näher, so erscheint es allerdings mehr als ein Wechsel auf die Zukunft. Dasselbe kostet das Mutterland ungeheuere Summen, von denen nur ein Bruchteil mittelbar wieder in jenes zurückströmt. Es handelt sich eben um die Schaffung eines großen französischen Wirtschaftsgebietes, innerhalb welches, ungestört von außen, das Mutterland die Er- zeugnisse seines Gewerbefleißes absetzen und die nötigen Roh- und Nahrungsstoffe erzeugen kann, in welchem sich vielleicht auch die Möglichkeit bietet, daß französische Auswanderer auf jungfräulichem Boden, unter neuen Naturbedingungen durch reichen Kindersegen dem schon nicht mehr relativen Rückgange der französischen Nation erfolgreich steuern. Selbst derjenige, welcher von der Richtigkeit des Satzes, daß Frankreich nicht zu 1) Erschienen in den Preuß. Jahrbüchern 1898. 2) Seitdem kann man diesen Plan als verwirklicht ansehen. Alles, was hier Engländer, Deutsche, Portugiesen, Spanier besitzen, erscheint als Ein- schlüsse in diesem ungeheuren französischen Besitze. Ebenso Marokko, auf welches Frankreich eben seine Hand zu legen im Begriff ist. Dieser Teil des französischen Kolonialreiches ist für sich so groß wie Europa. 3) Dasselbe mag jetzt einen Flächeninhalt von 1 1 Mill. qkm und 48 Mill. Einwohner haben. — 409 — kolonisieren verstehe, überzeugt ist, wird der Folgerichtigkeit, dem Geschick, der Tatkraft, die beide wir Deutschen ja am eigenen Leibe erprobt haben, und der Opferwilligkeit des französischen Volkes auf kolonialpolitischem Gebiete seine Bewunderung nicht versagen körmen. Das französische Volk glaubt eben an sich und seine Zukunft! Es ist politisch und wirtschaftlich hinreichend gereift, um einzusehen, daß nur diejenigen Völker und Staaten Europas sich auf die Dauer in einer Großmachtstellung behaupten können, die sich außerhalb Europas neue Machtquellen schaffen, d. h. zugleich Weltmächte sind: recht im Gegensatze zum Deut- schen Reiche, wo die Scheuklappen der Partei noch manchen hindern, diese Wahrheiten zu erkennen oder das Parteiinteresse manchen zwingt, die erkannte Wahrheit zu verleugnen. Daß der Wechsel auf die Zukunft, als welchen man heute im wesentlichen die überseeischen Erwerbungen Frankreichs wird bezeichnen müssen, doch in einzelnen Fällen in nicht sehr ferner Zukunft fällig sein dürfte, das lehrt nun Tunesien. Die Leistungen und Erfolge Frankreichs in Tunesien in einem Zeiträume von kaum einundeinhalb Jahrzehnt sind ganz danach angetan, die Vorstellungen von der kolonisatorischen Unfähigkeit des fran- zösischen Volkes, wo immer solche herrschen mögen, zu er- schüttern. Zugleich kann das, was die Franzosen in Tunesien zur Erschließung und wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes getan haben, in vieler Hinsicht vorbildUch sein. Namentlich wir Deutschen können sehr viel in Tunesien lernen, denn wir haben sehr vieles von dem, was selbstverständlich zunächst und sofort in einem neuen Lande geschehen muß, — am nächsten liegt der Vergleich mit Südwestafrika — nicht getan, allerdings zum Teil weil es gewissen Kreisen an Verständnis und gutem Willen fehlte, zu tun, was von Verständigen gefordert wurde. ^) Um die in seiner Lage und seiner geographischen Ausstat- tung begründete heutige und zukünftige Bedeutung Tunesiens, seine Rolle in der Geschichte zu verstehen, müssen wir uns zu- nächst die geographischen Grundzüge dieses Landes veranschau- lichen. I) Die hier gegebene Darstellung entspricht dem Bilde, das man sich zwei Jahrzehnte hindurch machen mußte. Der folgende Aufsatz, Tunesien 1901, zeigt, daß dies rasche Aufblühen des Landes eine vorübergehende Er- scheinung v.-ar. /[lO Tunesien ist ein Teil des Atlantischen Faltenlandes, d. h. des südwestlichsten zum Atlantischen Ozeane ausstreichenden Stücks der eurasischen Faltengebirge, die in vorwiegend westöst- licher Richtung die Erdteile Europa und Asien durchziehen und deren Oberflächengestalt in erster Linie bestimmen. Erst spät mit der großen Wüstentafel Nordafrikas verbunden und durch Bildung der Meerengen von Gibraltar und von Pantellaria von Europa losgelöst, ist das Atlantische Faltenland nach Entstehung und Oberflächenform europäisch, ein durchaus fremdartiges An- hängsel Afrikas. Im großen einheitlich, zerfällt es doch durch gewisse Züge seiner Oberflächengestalt in drei Länder, die, wenn auch mit sich häufig verschiebenden Grenzen, in verschiedenen Abschnitten der Geschichte ungefähr in dem, was wir heute Ma- rokko, Algerien und Tunesien nennen, ihren staatlichen Ausdruck gefunden haben. Dadurch, daß die beiden Atlantischen Faltengürtel je weiter nach Osten sich um so mehr einander nähern und der südliche, der sogenannte Saharaatlas, nach Nordosten, also nach Sizilien hin, abschwenkt, dessen Appennin in der Tat sich in den Gebirgen Nordtunesiens fortsetzt, dadurch daß zugleich im tunesischen Teile des Saharaatlas ein gewisses Auseinanderstreben der allerdings immer niedriger und kürzer werdenden Gebirgszüge hervortritt, die mehr sich in gleicher Richtung aneinander an- schließenden, aus der Ebene aufsteigenden Bergrücken von elliptischer Gestalt gleichen, erreicht Afrika hier seine höchste nördliche Breite, nähert sich Tunesien Sizilien auf 150 km (etwa Berlin — Magdeburg), neigt und öff"net es sich gegen das Mittel- meer. So entsteht eine orographisch vom Mittellande Algerien gut gesonderte, durch große Zugänglichkeit vom Mittelmeere aus, durch geringe Meerfernen, Mangel an hohen abgeschlossenen Bergländern , gekennzeichnete östliche Abdachung des Atlas- gebiets, kurz ein Länderindividuum niederer Ordnung, das wir jetzt Tunesien nennen. Es sind namentlich vier Höhenzüge, die die senkrechte und die wagrechte Gliederung Tunesiens, nament- lich die Aufschließung des Landes durch drei Meerbusen und sich zu denselben abdachenden Hohlformen, bestimmen. Die beiden nördlichsten, die man als Fortsetzungen der in Algerien gewöhnlich als Teil- und Saharaatlas bezeichneten Gebirgssysteme ansehen kann, endigen ersteres westöstlich, letzteres südwest- nordöstlich streichend, in den hohen Vorgebirgen des Ras Sidi — 4" — Ali el Mekki und des Kap Bon. Zwischen ihnen öffnet sich als vom Meer überflutetes Ende eines großen Längstales der Golf von Tunis, dem in dem noch überseeischen breiten Längstale, einen bequemen Weg ins Innere bildend, der größte Fluß Tu- nesiens, der Medscherda, zustrebt. Dies ist Nordtunesien. Ein dritter, jenen beiden paralleler, aber niedrigerer und weniger scharf ausgeprägter Höhenzug verursacht den stumpfen Landvor- sprung am Ras Dimas und Ras Kapudia. Dazwischen öff"net sich der flache und durch jüngere Landbildung noch flacher ge- wordene Golf von Hammamet, welchem ebenfalls eine flache, sich nach Nordosten neigende Mulde und ein Fluß, der Wed Zerud, entspricht, dessen Gewässer freilich in diesem schon weit nieder- schlagsärmeren Gebiet meist im Kelbia See verdunsten und nur ganz ausnahmsweise das langgestreckte Haff von Hergla und das Mittelmeer erreichen. Andere Höhenzüge weiter nach Süden, wie der Djebel Orbata, haben nicht mehr die vorherrschende Nordostrichtung, sondern streichen mehr in Ostnordost gegen den Nordrand der Kleinen Syrte. Sie bilden die Südgrenze Mittel- tunesiens. Allerdings muß betont werden, daß diese Höhenzüge, abgesehen von den beiden nördlichsten, keineswegs das Meer er- reichen, sie endigen vielmehr im Innern. Die annähernd meri- dional verlaufende Ostküste Tunesiens wird von jüngeren, plio- zänen und quartären ungestörten Schichten gebildet und ist keineswegs als eine Querbruchküste aufzufassen. Südlich von diesen Höhenzügen zieht sich nun von der Kleinen Syrte, dem südlichsten der drei Golfe, die sogenannte Schott-Depression tief ins Innere des Landes. Die flachen Salzseen, deren Spiegel zum Teil unter dem des Mittelmeeres liegt, nach denen diese die Grenze des Atlantischen Faltenlandes und der großen Wüstentafel kennzeichnende Depression benannt ist, sind der Ausdruck der noch größeren Niederschlagsarmut Südtunesiens, die es nicht mehr zur Bildung eines Flusses kommen läßt. Der östlichste dieser Schotts liegt aber zwischen zwei scharf ausgeprägten westost- streichenden , also auf die Kleine Syrte zielenden Höhenzügen. Die am Eingange der Kleinen Syrte gelegenen Inseln, die Ker- kenahgruppe am nördlichen, die große gartenartig angebaute Djerba am südlichen, beide ganz flache aus seichtem Meere sich erhebende Tafeln derselben jungen, festländisch gebildeten Schich- ten, aus denen das nahe Festland besteht, von dem sie abge- 4^2 gliedert sind, kennzeichnen die Kleine Syrte geradezu als die Gegend der reichsten wagerechten Gliederung des ungefügen Afrika. Da nun hier zugleich die Oberflächenformen und die Oasenzüge die Verkehrswege aus der Sahara und durch die Sa- hara ans Mittelmeer leiten, so bildet der Golf von Gabes nicht nur das Eingangstor von Südtunesien, sondern eines der wich- tigsten Eingangstore von Afrika überhaupt. Wie schon die alten Griechen die hier gelegenen Küstenstädte, namentlich Tacape (Gabes) als Emporia, die Handelsplätze, bezeichneten, sind noch heute die Bedingungen gegeben, unter denen ein beträchtlicher Teil des Sahara- und Sudanhandels über die Kleine Syrte und Tunesien überhaupt gehen könnte. In römischer Zeit drangen von hier aus römische Ansiedler und römische Gesittung, wie noch heute die Altertümer bezeugen, tief ins Innere ein bis in die Oasenstadt Rhadames (Cydamus), namentlich auch in das erst jetzt aufgeschlossene Gebirgsland der Höhlenberbern im Süden der Kleinen Syrte, die heute Arad genannte Landschaft, den Anteil Tunesiens an der großen Wüstentafel. Das Eingangstor von Mitteltunesien ist der Golf von Ham- mamet, der freilich heute keine so günstigen Verhältnisse mehr bietet. Hier entwickelte sich in römischer Zeit, aber schon eine alte phönikische Ansiedelung, Hadrumetum (heute Susa) zu einer volkreichen Seehandelsstadt, welche den Verkehr des dicht be- siedelten Mitteltunesien bis nach Tebessa im heutigen Algerien hin vermittelte. Noch wichtiger ist der Golf von Tunis, da er sich gegen Sizilien hin und an der großen Einschnürung des Mittelmeeres öffnet und das Tal des Medscherda in der gleichen südwestlichen Richtung den bequemsten Weg ins Innere bildet, auf welchem römische Ansiedler, Sprache und Gesittung bis aufs Hochland der heutigen algerischen Provinz Constantine vordrangen. Der Golf von Tunis, an welchem sich die römische Weltstadt Karthago entwickelte, und das Medscherda Tal sind die beiden wichtigsten geographischen Ausgangspunkte der völligen Romanisierung der nordöstlichen Atlasländer. Nichts stände im Wege, daß dieselben auch in Zukunft wieder ihre Wirkung ausübten — wenn Frank- reich Kinder entsenden könnte. Die Bedeutung des Golfs von Tunis und Nordtunesiens wird noch größer dadurch, daß an dem- selben bzw. in unmittelbarer Nähe nun auch die besten Häfen — 413 — des Landes liegen, die durch Kunst leicht den höchsten Anfor- derungen der Zeit entsprechend zu verbessern mit ihrem weiten und reichen Hinterlande, fast in der Mitte des Mittelmeers und an der Einschnürung, durch welche zu allen Zeiten eine wich- tige, wenn nicht die wichtigste Straße des Welthandels gehen muß, Sizilien und Sardinien gegenüber gelegen, durch allen Wechsel, welchem die Geschicke der INIenschen unterworfen sind, immer und immer wieder zu Brennpunkten des Weltverkehrs und der politischen Macht werden müssen. So Utica, das punische und das römische Karthago, Tunis. Noch mehr als Tunis selbst wird in Zukunft Biserta in dem Kampfe um die Herrschaft auf dem Mittelmeere hervortreten. Aufgeschlossenheit gegen das Mittelmeer, das ist also der entscheidende geographische Charakterzug Tunesiens: soweit der Einfluß der drei Golfe, aber vor allem der des beherrschenden von Tunis reicht, so weit rücken die Grenzen Tunesiens der vom Kap Bon annähernd nach Süden verlaufenden Küste parallel ins Innere, also bald weiter, bald weniger weit. Dieses Land er- streckt sich also als ein verhältnismäßig schmaler meridionaler Streifen, in den heutigen Staatsgrenzen im Mittel etwa 200 km breit, auf rund 600 km von Norden nach Süden. Der tunesische Staat umfaßt daher nur etwa iiöoooqkm, weniger als ein Fünftel der Bodenfläche Frankreichs. Das dazu gerechnete Wüstengebiet eingeschlossen sind es 167000 qkm. Die Meerfernen Tunesiens sind also überall so gering, daß auch die fernsten Punkte in einem Schnellzuge überall in drei bis vier Stunden erreicht werden könnten, denn das ganze Land neigt sich auch zum Mittelmeere. Es ist nicht, wie Algerien und Marokko, durch hohe Gebirgswälle von demselben geschieden. Auch in meridionaler Richtung bieten sich dem Verkehr auch zu Lande nur geringe Hindernisse. Von abgeschlossenen Gebirgslandschaften, die wie natürliche Festungen die Eingeborenen gegen übermächtige Feinde zu schützen und zu kräftigen, kriegerischen, freiheitsliebenden Bergvölkern zu er- ziehen vermöchten, wie das Auresgebirge und der Djurdjura (Mons ferreus der Römer) in Algerien, der hohe Atlas und das Rifgebirge in Marokko, ist in Tunesien keine Spur vorhanden. Die höchsten Erhebungen des Landes kommen nur denen der deutschen Mittelgebirge gleich. Nirgends hindern leicht zu ver- teidigende Engpässe das Eindringen ins Innere. Tunesien ist — 4H — durchaus ein offenes Land. Die Form der Ebene, namentlich am Meere entlang, und welliges Hügelland herrschen vor. Diese Aufgeschlossenheit kommt auch den klimatischen Verhältnissen zugute: überall vermögen die feuchten Winde vom Mittelmeere her einzudringen, die Hälfte des Landes ist noch genügend be- netzt, langsam und unmerklich vollzieht sich von Norden tiach Süden der Übergang zur Steppe und zur Wüste, nicht schroff und unvermittelt wie in Algerien liegen diese Gegensätze neben- einander. Diese Grundzüge der Landesnatur haben bewirkt, daß in Tunesien sich berberisches und arabisches Volkstum einander mehr angeähnlicht haben und sich ersteres, wenn es auch bei weitem überwiegt, nur örtlich und in geringer Ausdehnung ver- hältnismäßig rein erhalten hat. Der Anteil der seßhaften, gesitte- teren Bewohner ist weit größer wie in Algerien, der Gegensatz zwischen Seßhaften und Noraaden geringer, da der Prozentsatz der Halbnomaden groß ist. Wenn man auch neben 57 000 be- wohnten Häusern 81 000 Zelte gezählt hat, so sind diese Zelt- bewohner durchaus nicht alle Nomaden, meist höchstens Halb- nomaden. Wie in der Landesnatur alles Großartige und Wilde fehlt, so erscheinen auch die Landesbewohner im Vergleich zu denen der übrigen Atlasländer als friedlich, weniger freiheits- liebend und leicht regierbar. Sie neigen weit weniger zu reli- giösem Fanatismus. Tunesien erscheint durch seine überall vorhandene Frucht- barkeit des Bodens zu einem Lande des Ackerbaues bestimmt. Zur Entwicklung des Bergbaues sind die Bedingungen nur in geringem Maße, zu der der Gewerbtätigkeit so gut wie gar nicht gegeben. Die Lage des Landes zum Mittelmeere und zu Inner- afrika, die Fülle der eigenen Bodenerzeugnisse befähigen aber seine Bewohner, sich an gewinnreichem Handel zu Lande wie zur See zu beteiligen. Der ungeheure Reichtum der tunesischen Küsten an Fischen und anderen wertvollen Erzeugnissen des Meeres (Edelkorallen, Schwämme) erzieht tüchtige Seeleute. Zählt doch, obwohl Italiener und Griechen, die eigentlichen Fischer- und Schiffervölker des Mittelmeeres, noch immer einen bedeuten- den Anteil an den tunesischen Fischereien haben, die Fischer- bevölkerung des Landes nicht weniger als 60 000 Mann, am Golf von Gabes allein 6000. Die natürliche Fruchtbarkeit des Lan- — 415 — des kommt freilich nur zum Teil zur Geltung, da nur in Nord- tunesien überall die wie im ganzen südlichen Mittelmeergebiete auf die milden Winter beschränkten Niederschläge (50 — 60 cm im Jahr) dem Anbau von Weizen und der Zucht der Frucht- bäume des Mittelmeergebietes, abgesehen von Apfelsinen und Limonen, auch ohne künstliche Bewässerung genügen. Seßhaftig- keit und kleiner oder mittlerer Grundbesitz ist hier das Natur- bedingte. Auch in Mitteltunesien ist Olivenzucht noch überall möglich und lohnend, aber der Weizenbau steht bereits unter ungünstigeren Bedingungen, da die Niederschlagsmenge bei größe- rer Wärme schon von 50 bis auf 20 cm sinkt und vor allem so veränderlich ist, daß man bei Kairuan schon nur jedes dritte, bei Sfaks nur jedes fünfte Jahr auf eine gute Weizenernte rechnen kann. Ja, hier tritt bereits salzhaltiger Steppenboden und Salz- seen auf. Das ist der Gürtel der Riesengüter, von denen frei- lich immer nur ein kleiner Teil angebaut, der größere als Weide- land benutzt ist. In Südtunesien schließlich herrscht durchaus Steppe oder Wüste. Aller Anbau ist an künstliche Berieselung gebunden, also auf die geringen Bodenflächen der Oasen be- schränkt, in denen naturgemäß Kleinbesitz mit Gartenbau auf Gemüse und ähnliche Nährfrüchte im Schatten der lichte Dattel- palmenhaine bildenden Oasen. Frankreich hatte die Besetzung Tunesiens von langer Hand her vorbereitet. Es galt Italien zuvorzukommen, dessen Einfluß durch die größere räumliche Nähe, große wirtschaftliche Interessen und eine starke Einwanderung in gefahrdrohender Weise gewachsen war. Ein Vorwand war jeden Augenblick zu finden, da, wie an der Westgrenze gegen Marokko, so auch an der Ostgrenze gegen Tunis es fast nie an Reibungen unter den Stämmen der Ein- geborenen fehlt. Der berberische, äußerlich arabisierte Stamm der Krumir, der nur etwa 6500 Köpfe zählend das nördliche Küsten- gebirge an der Grenze von Algerien bewohnt, bot denselben durch Einfälle auf französisches Gebiet. Fast ohne Kampf wurde das ganze Land besetzt und das Verhältnis Tunesiens zu Frank- reich durch den später im einzelnen ergänzten Vertrag von Bardo am 12. Mai 1881 geregelt. Der völlig zerrüttete und durch un- erhörte Mißwirtschaft an den Rand des Abgrundes gebrachte Staat wurde französisches Schutzgebiet. — 4^^ — • Es muß anerkannt werden, daß Frankreich vom ersten Tage an und bis heute in Tunesien zwar tatkräftig, zielbewußt und folgerichtig, aber mit großer Klugkeit und Mäßigung vorgegangen ist. Letztere beiden waren allerdings auch in hohem Grade durch internationale Rücksichten, namentlich gegenüber Italien und England geboten, während die Bismarcksche Politik diese kolonialpolitischen Pläne der französischen Regierung offensichtig begünstigte. Wenn jener dabei vielleicht die Hoffnung vor- schwebte, es werde gelingen durch erfolg- und hoffnungsreiche überseeische Unternehmungen die Franzosen mehr und mehr von Elsaß-Lothringen abzuziehen, so kann man zweifeln, ob bis heute Aussicht auf Verwirklichung dieser Hoffnung eröffnet ist. Das eine ist aber sicher erreicht worden: eine Wiederannäherung Italiens an Frankreich ist völlig unmöglich geworden, falls nicht Italien auf die Stellung einer Groß- und Mittelmeermacht ganz und gar verzichten und sich in untergeordneter Stellung politisch und wirtschaftlich in größere Abhängigkeit von Frankreich begeben will wie zuvor. Die Vereitelung seiner geographisch und politisch naheliegenden, wirtschaftlich berechtigten Hoffnungen auf Tunesien würde Italien verschmerzen können, aber eine fast dreitausend- jährige Geschichte, welche die merkwürdigen Wechselbeziehungen zwischen Süditalien und Tunesien grell beleuchtet, lehrt, daß die Unabhängigkeit und der Besitzstand Italiens (Sizilien und Sardinien) bedroht ist, wenn eine starke Macht am Golf von Tunis steht. Und vollends wenn Frankreich seine Pläne auf Tripolitanien eines Tages auszuführen in der Lage ist! Zwischen Tunesien und Italien steht allerdings England, das auch hier eine der Lebens- adern seiner Weltmachtstellung zu verteidigen hat. Möge sich der Leser den Wert dieser englischen Interessengemeinschaft selbst zurechtlegen. Ob die Leiter der französischen Politik in Tune- sien auch einen Ersatz für Elsaß- Lothringen gesucht haben, lassen wir dahingestellt sein, jedenfalls kann man sagen, daß Tunesien heute schon mehr als ein solcher Ersatz ist für jeden, der sich die politische Einsicht nicht durch Gefühle, seien es auch noch so edele und berechtigte, trüben läßt. Der Verlust von Elsaß- Lothringen hat Frankreichs Stellung nur dem Deutschen Reiche gegenüber verschlechtert. Daß dieses an nichts weniger als an Angriffe auf Frankreich denkt, davon werden sich alle einsichtigen Franzosen nachgerade wohl überzeugt haben. Dagegen hat Tune- — 417 — sien die Weltmachtstellung Frankreichs ganz außerordentlich ge- fördert und eröffnet es wirtschaftlich und national die weitesten, in den Erfolgen von nur 15 Jahren fest begründeten Aussichten. Frankreich hat mit großem Geschick im Innern stets den Schein gewahrt, als sei die tunesische Dynastie und Regierung nach wie vor Herr im Lande, während tatsächlich vom ersten Tage an alle Macht in den Händen Frankreichs lag. Man hat alle Vorteile des tatsächlichen Besitzes erlangt, ohne den Haß auf sich zu laden, den notwendig die unverhüllte Angliederung, die Absetzung der Dynastie, die Beseitigung des ganzen Beamten- heeres, der plötzliche Umsturz aller Verhältnisse hätte hervorrufen müssen. Auch sonst hat man sorgsam die zahllosen Fehler ver- mieden, die in Algerien nie wieder gut zu machendes Unheil gestiftet haben. Dort ist heute, nach 67 Jahren, nicht nur die eingeborene Bevölkerung von glühendem Hasse gegen Frankreich erfüllt, an Zahl gewachsen, aber wirtschaftlich zurückgegangen, — die Eingeborenen wirtschaftlich zu vernichten war ja längere Zeit Grundsatz der französischen Verwaltung — nein, auch die euro- päischen Ansiedler, die französischen vielmehr wie die spanischen und italienischen, sind meist überschuldet, unzufrieden, ja er- bittert. Sie machen ja daraus auch kein Hehl und wer die Ver- handlungen im französischen Parlament verfolgt hat, kann sich, auch ohne in Algerien selbst gewesen zu sein, überzeugen, wie schwere Sorgen dies heute Frankreich macht. Von all dem in Tunesien keine Spur! Dort hatte die einheimische Regierung gründlich abgewirtschaftet und die religiösen Anschauungen der, wie schon erwähnt, auch zu Fanatismus wenig geneigten Be- wohner wurden vom ersten Tage an so sorgsam geschont, daß man von Franzosen im Lande geradezu von einer Begünstigung des Islam sprechen hören kann. Darf doch beispielsweise kein Christ im ganzen Lande eine Moschee betreten, außer in der heiligen Stadt Kairuan, wo dieselben von vornherein bei der Er- oberung von den französischen Soldaten betreten worden waren. Alle örtlichen Einrichtungen blieben bestehen, man begnügte sich sie zu verbessern und zu überwachen, Eingriffe in die Be- sitzverhältnisse wurden soviel wie irgend möglich vermieden, wo es galt unangenehme Dinge durchzuführen, traten die einheimischen Beamten in den Vordergrund. Am meisten Eindruck machte es aber, daß Frankreich sofort und mit Erfolg an Ordnung, Milderung Fischer, Mittelmeerbilder. 27 — 4IÖ — und gleichmäßige Verteilung des ungeheuren Steuerdruckes ging, daß das herrschende, wahrhaft blutsaugerische Verwaltungssystem beseitigt wurde, welches das Land in eine Wüste zu verwandeln drohte und zum Teil verwandelt hat. Wie in Marokko noch heute, konnten die Steuern nur an der Spitze eines Heeres eingezogen werden, wobei auch gelegentlich eine widerspenstige Landschaft „aufgegessen" wurde. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ein- geborenen wurden, wie wir im einzelnen sehen werden, tat- kräftig gefördert, ohne daß es, wohlverstanden, Frankreich auch nur einen Centime kostete. So muß schon heute der wohltuende Gegensatz von einst und jetzt auch dem Blödesten und Fana- tischsten klar sein. Nur fünf Jahre nach der Eroberung fand ich, abgesehen von einer Stelle, auch in den abgelegensten Teilen des Landes keine Spur von religiösem Fanatismus oder Haß gegen Frankreich. Daß es in Algerien leider nicht so ist, das weiß man in den leitenden Kreisen Frankreichs nur zu gut und auch dem einfachsten Reisenden drängt sich bald diese Überzeugung auf. Von Tunesien muß man aber schon heute sagen, daß die französische Schutzherrschaft und die Art und Weise, wie sie ausgeübt wird, für das Land eine Wohltat und auch vom allgemein menschlichen Standpunkte aus dank- bar zu begrüßen ist. Der Bey und seine Regierung hat nach wie vor alle Ab- zeichen der Herrschaft, selbst eine Leibwache von 600 Mann umgibt ihn, der tatsächliche Herrscher aber ist der Vertreter der französischen Regierung, der Generalresident. Dieser allein hat das Recht die Befehle des Bey bekannt zu machen, ihre Aus- führung anzuordnen und zu überwachen. Ihm unterstehen die Truppen. Er ist Vorsitzender des Ministerrates und zugleich Minister des Auswärtigen, wie der Befehlshaber des Besatzungs- heeres Kriegsminister ist. Dieses ist meist in Lagern aus niedrigen steinernen Kasernen, hier und da auch in den alten Zitadellen über das ganze Land bis in den äußersten Süden verteilt. Es zählt 15000 Mann, wozu noch gegen 2000 Mann eingeborene, aber französisch organisierte und befehligte Truppen kommen. Diese geringe Macht genügt vollkommen und würde wohl schon heute verringert werden können, wenn nicht andere Verhältnisse für das Gegenteil sprächen. Die Finanzen, die öffentlichen Ar- beiten, der Unterricht, der Ackerbau, Post- und Telegraphen- — 419 — Verwaltung unterstehen französischen Beamten, die allgemeine Verwaltung eingeborenen Ministem, denen aber je ein Franzose als Generalsekretär der tunesischen Regierung beigegeben ist, der also in der Lage ist, alles zu überwachen. Es überwiegt also im Ministerräte das französische Element durchaus. Ebenso stehen den Kaids der 17 Verwaltungsbezirke Franzosen als Zivilkontrol- leure zur Seite. Nachdem sich Frankreich in dieser Weise zum Herren von Tunesien gemacht hatte, mußte es selbstverständlich erste Auf- gabe sein, das bis dahin nur in den gröbsten Zügen bekannte Land zu erforschen, um zu wissen, was man vor sich habe. Schon vom militärischen Standpunkte aus war das nötig. Un- mittelbar darauf, zum Teil gleichzeitig mußte die Erschließung des Landes durch Häfen, Straßen, Eisenbahnen, Post usw. in Angriff genommen werden. Dann konnte, auf beiden Vorgängen als Voraussetzung beruhend, die wirtschaftliche Entwicklung ge- fördert werden. Zuerst galt es eine Karte des Landes herzustellen. In wenigen Jahren war ein Dreiecksnetz vermessen, bald auch nach der einen Seite mit Algerien, nach der anderen über die Insel Pantelleria mit SiziUen verbunden und auf dieser Grundlage eine, wenn auch zunächst nur flüchtige, Aufnahme des ganzen Landes durchgeführt. Die so hergestellte topographische Karte in i : 200 000 ist seitdem in ununterbrochener Verbesserung begriffen, wird aber bereits durch eine Neuaufnahme und eine neue Karte in dem großen Maßstabe von 1:50000 ergänzt, die sich an die in Ausführung begriffene von Algerien im gleichen Maßstabe anschließt. Die topographische Abteilung ist vor allem auch mit Aufnahme einzelner großer Güter des Staates oder der toten Hand zur Eintragung ins Grundbuch und mit Herstellung von Stadtplänen beschäftigt. Ferner ist die geologische Erforschung und die Herstellung einer geologischen Karte so eifrig und erfolgreich in die Hand ge- nommen worden, daß heute schon Tunesien, das vor 15 Jahren geographisch und geologisch noch ganz unbekannt war, besser erforscht ist als beispielsweise etwa Spanien oder die europäische Südosthalbinsel. Schon heute liegt die wirtschaftUche Bedeutung dieser wissenschaftlichen Arbeiten klar zutage. An die geo- logische Durchforschung schließt sich unmittelbar eine landwirt- schaftliche Bodenuntersuchung an, wie sie wenige europäische 420 Länder besitzen. Durch zahllose Bohrungen ist die oberste Boden- schicht etwa bis zu i m Tiefe sorgsam untersucht worden. Die- selbe hat das Rätsel der im Altertum so gerühmten und als schier unerschöpflich erscheinenden Fruchtbarkeit des Landes durch den Nachweis eines fast überall vorhandenen großen Phos- phatgehaltes gelöst. Durch die französische Marine ist femer die ganze Küste aufs sorgsamste aufgenommen und durch Lotungen sind bis weit ins offene Meer hinaus die Tiefen und die Be- schaffenheit des Meeresgrundes erforscht. An allen Punkten, wo es nötig schien, sind Leuchttürme errichtet, Bojen verankert und sonst alles getan, was der Schiffahrt und der Fischerei in dieser Hinsicht förderlich sein kann, selbstverständlich unter Verwendung französischer Ingenieure und französischen Materials zu gunsten fast ausschließlich der französischen Schiffahrt, aber auf Kosten des tunesischen Staates. Bei der großen Wichtigkeit, die in einem verhältnismäßig niederschlagsarmen Lande die Kenntnis der klimatischen Ver- hältnisse haben muß, wurde auch sofort die Einrichtung eines meteorologischen Beobachtungsnetzes in Angriff genommen. Eine meteorologische Kommission hat 2 1 gut über das ganze Land verteilte Stationen eingerichtet, von denen heute bereits zum großen Teil zehnjährige Beobachtungen vorliegen, die somit ein in den großen Zügen richtiges Bild des Klimas, aber ganz be- sonders der Niederschlagsverhältnisse zu entwerfen gestatten. Damit ist landwirtschaftlichen Unternehmungen der unentbehrliche Anhalt geboten, zugleich aber auch das Verständnis für die Landesnatur vertieft worden. Es hat sich dabei beispielsweise ergeben, daß im Krumirgebirge an der Nordküste, wo die Fran- zosen in 805 m Höhe in Ain Draham ein befestigtes Lager er- richtet haben, die mittlere Niederschlagshöhe 1754 mm, die Zahl der Tage mit Niederschlag 131 beträgt, jeden Winter Schnee fällt und zuweilen Yg "^ hoch einige Zeit liegen bleibt. Ihren pflanzlichen Ausdruck finden diese ungewöhnlich günstigen Ver- hältnisse in den dort noch erhaltenen herrlichen Wäldern. Jen- seits des Gebirges sinkt die Niederschlagshöhe freilich sofort auf etwa 600 mm und in Mitteltunesien auf unter 300 mm. Da diese Niederschläge überall auf wenige Monate der sehr milden Winter beschränkt sind — der Januar hat in Tunis eine Mitteltemperatur von 10" C, in Sfaks von 10,5*' C, in Gabes von 11° C — so gibt — 421 — es eigentlich nur einen dauernd fließenden Fluß, den Med- scherda, doch führt der auch in den Golf von Tunis mündende kleine Wed Miliane fast immer Wasser, ebenso der mitteltune- sische Wed Zerud, Die Beschaffung von Wasser für Menschen und Tiere und zu Berieselungszwecken während der langen Trockenzeit muß daher von besonderer Wichtigkeit sein. Man hat daher nicht nur bei der topographischen und geologischen Landesaufnahme den Flüssen, Quellen und Brunnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, sondern hat eine ganz besondere archäologische Erforschung des Landes in die Wege geleitet, die in erster Linie den Altertümern gilt, insofern diese als Zeugen für die dichte Besiedelung und den Reichtum des Landes in spätrömischer Zeit, besonders im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr., dienen und zugleich einen Einblick in die Mittel und Wege ge- währen können, auf denen diese Blüte ermöglicht wurde. Vor allem galt die Forschung den Bewässerungsanlagen der Römer, auf die man in der Tat überall stößt, oft noch so gut erhalten, daß sie, wie die Wasserleitung von Tunis zeigt, mit geringen Kosten wiederhergestellt werden können. Da ist nun fest- gestellt worden, daß schon damals Niederschlagsarmut herrschen mußte, denn es wird auch schon im Altertum über häufige Dürre und sengende Winde geklagt und die erhaltenen Reste zeigen, daß man überaus sorgsam alles Wasser sammelte, auf- speicherte und verwertete. Alle Gewässer, auch die kleinsten, wurden überwacht und geregelt. Es gab sorgsam ausgearbeitete strenge Gesetze über die Wasserbenutzung, dieselben wurden auf Marmortafeln verzeichnet und zu jedermanns Einsicht öffentlich angebracht. Einzelne sind uns daher erhalten. Alles dauernd oder zeitweilig fließende Wasser wurde hinter Staudämmen, oft von gewaltigen Ausmaßen, wie bei Kasserin, oder in offenen oder bedeckten Behältern aufgespeichert. Vielfach sind die Täler, in denen nur nach heftigen Winterregen Wasser floß, durch Quer- dämme, hinter denen sich das Wasser und die fruchtbare Erde sammelte, förmlich in Stufen zerlegt. Die Staudämme verhinderten zugleich Überschwemmungen und Verwüstung des angebauten Landes. So großartige Wasserleitungen, wie die von Karthago, die im Jahre 117 n. Chr. unter Hadrian begonnen und 163 vollendet wurde, war natürlich eine Ausnahme. Sie führte das Wasser der — 422 — starken Quellen der höchsten Berge Nordtunesiens, des Djebel Zaghwan und des Djebel Djukar, die weit gegen das Meer vor- geschoben die Wasserdämpfe desselben verdichten und in den Spalten und Klüften ihrer Kalkfelsen aufspeichern, 130 km vi^eit, wovon 17 über hohe Bogenstellungen, nach Karthago in die zum Teil noch erhaltenen riesigen Behälter von La Malka. Aber auch die Stadt Thysdrus, das heutige El Djem, 35 km vom Meere in einer heute verödeten Gegend des südlichen Mittel- tunesien, bekannt durch ihr großartiges, dem Kolosseum in Rom nach seinen Ausmessungen nur wenig nachstehendes Amphitheater, besaß eine Wasserleitung, die das in der Umgebung sorgsam durch unterirdische Kanäle abgefangene Wasser wie in unseren heutigen Städten den einzelnen Privathäusern zuführte. Zu ihrer Ergänzung besaß sie aber noch zahlreiche große Zisternen. In Uthina, heute Udna südlich von Tunis, wurde alles Regenwasser von den Straßen und öffentlichen Plätzen in Zisternen gesammelt, deren noch jedes Haus, ähnlich wie in Jerusalem, eine besaß. Selbst an den Landstraßen waren überall Zisternen gegraben, die das Wasser in der Umgebung zur Benutzung der Reisenden und ihrer Tiere sammelten. Namentlich wurden Felsflächen für solche Zwecke benutzt. Die römische Stadt Vallis westsüdwestlich von Tunis gewann das unentbehrliche Wasser, das bei ihrer Lage hoch am felsigen Südhange des Djebel M'rabba, der das obere Tal des Wed Melah beherrscht, nicht anders zu beschaffen war, dadurch, daß alles Regenwasser, welches im Winter auf die felsigen Hänge des Berges fiel, in zementierten Rinnen einer dreifachen Reihe zementierter Sammelteiche zugeführt und von da in die öffentliche Zisterne der Stadt geleitet wurde, die mehr als 15000 cbm fassen konnte. Die sogenannten Feskias von Sfaks, zum Teil bedeckte Sammelbecken, die bei heftigen Regen vom Wed Aguareb ge- füllt werden, vermögen 18000 cbm zu fassen, das sogenannte Becken der Aglabiten in Kairuan, allerdings eine Schöpfung der Araber, vermag sogar 50000 cbm zu fassen. Dazu kamen nun zahllose Brunnen, namentlich auf der Insel Djerba, um Sfaks und anderwärts, aus welchen das Wasser durch meist sehr einfache Hebevorrichtungen mit Hilfe von Kamelen oder Eseln in Sammel- becken emporgehoben und aus diesen durch die Gärten geleitet wird und in römischer Zeit noch mehr geleitet wurde. An Quellen im allgemeinen nicht reich, ist Tunesien doch an warmen Quellen — 423 — nicht gerade arm, von denen viele noch heute die Trümmer römischer Bade- und Berieselungsanlagen erkennen lassen. Heute meist unbenutzt, dienten sie noch den Arabern zu Badezwecken, wie schon die häufigen mit Hammam (= Bad) gebildeten Orts- namen zeigen. Auch hier handelt es sich um noch ungehobene Schätze. Namentlich dürfte die Oase Gafsa, die ja in kürzester Zeit von Sfaks aus mit der Eisenbahn zu erreichen sein (tatsäch- lich heute erreicht) wird, mit Hilfe ihrer starken warmen Quellen bald zu einer ausgezeichneten Winterstation werden, wie es Biskra in der algerischen Sahara schon ist. Die Quellen liefern täglich mehr als 6000 cbm Wasser von 28 — 30" C, sind also im Winter warm, im Sommer kühl und wurden in römischer Zeit hoch geschätzt. Unter so sorgsamer Ausnutzung alles vorhandenen Wassers, im Schutze römischer Militärstationen, die die Wüstenstämme zu- rückhielten, durch ein großartiges Netz von Straßen, die von Karthago, Hadrumet und Tacape (Gabes) ausgingen und im In- nern hie und da noch sehr gut erhalten sind, war es den rö- mischen Ansiedlem möglich, immer tiefer ins Innere vorzudringen, das Land immer intensiver anzubauen und in ein blühendes Kulturland zu verwandeln. Es muß im dritten und vierten Jahr- hundert nach Christus ganz Nord- und Mitteltunesien so dicht bevölkert gewesen sein, wie heute die besten ackerbauenden Gegenden Mitteleuropas. Um Mitte des vierten Jahrhunderts zählten Städte, die noch zur Zeit der Antonine gar nicht vorhanden gewesen waren, wie Thelepte, dessen Trümmer nahe bei dem heutigen armseligen Oasenörtchen Feriana liegen, Ammaedara, das heutige Haidra, Cillium (Kasserin), Suffetula (Sbeitla) 20 — 60000 Einwohner. Ihre großartigen Trümmer mit zum Teil wohl erhal- tenen Resten von Tempeln, Kirchen, Theatern, Amphitheatern, Hippodromen, Mausoleen, Triumphbogen und dergleichen liegen in einer Gegend, in der man noch 1886 tagelang reiten konnte und vermutlich noch heute, abgesehen von den neuerrichteten befestigten Karawansereien, reiten kann, ohne auch nur ein be- wohntes Haus zu finden. Wohl aber begegnet man auf Schritt und Tritt den Trümmern von Städten, Dörfern, Meierhöfen, Öl- mühlen und dergleichen. Mit herrlichen Skulpturen geschmückte Grabmäler erheben sich in öder mit Gestrüpp und Unkraut be- deckter Steppe. Wo einst viele Hunderttausende hochgesitteter — 424 — Menschen in Wohlstand lebten, da finden heute etwa 1500 Nomaden des arabisierten Berberstammes der Freschisch, deren Gastfreundschaft ich genoß, mit ihren Herden dürftigen Unterhalt. Wie dicht diese Gegenden damals bewohnt waren und worauf diese Volksdichte beruhte, darüber gewähren vor kurzem von den Franzosen vorgenommene Untersuchungen Aufschluß. Ein französischer Landmesser hat zu Besiedelungszwecken eine Landfläche von 2 7 000 ha in der Umgebung von Sbeitla, wo noch heute großartige Trümmer von entschwundener Pracht zeugen, vermessen und dabei so sorgsam wie möglich alle Reste des Altertums festgestellt und verzeichnet. Es ergibt sich daraus, daß außer Sbeitla in diesem Gebiet, das also ungefähr der Hälfte eines preußischen Kreises mittlerer Größe gleichkommt, noch drei Städte, 15 größere und 49 kleinere Wohnplätze vorhanden waren. Er zählte 1007 noch erhaltene Ölpressen, während heute weit imd breit nicht ein Baum, geschweige ein Ölbaum zu sehen ist. Nimmt man für Sbeitla, sehr niedrig, 20000 Einwohner an, für die anderen Städte im Mittel etwa 3000, 600 für die größeren, 100 für die kleineren Siedelungen und auf jede Ölmühle 400 Ölbäume, so standen auf dieser Fläche etwa 400000 Ölbäume und lebten dort 43000 Menschen, also 160 auf i qkm. Es war also die Baumzucht, besonders die Olivenzucht, welche Mittel- tunesien zu solcher Blüte gebracht hatte. Ganz Mitteltunesien war im Laufe der Jahrhunderte, indem der Anbau immer weiter ins Innere und nach Süden vorrückte, mit unabsehbaren Oliven- hainen bedeckt worden und mochte landschaftlich fast den glei- chen Eindruck machen, wie die Halbinsel des Kap Bon, die nach der Schilderung, welche der Sizilier Diodor bei Darstellung der Landung des Tyrannen Agathokles von Syrakus gibt, ein ungeheurer Garten und Fruchthain war, durch welchen die ein- zelnen Häuser der Bewohner verstreut waren. Ist es doch noch heute so auf der von fleißigen Berbern bewohnten Insel Djerba und in weiten Strichen des sogenannten tunesischen Sahel, dem Küstenlande Mitteltunesiens, die noch riesigen Olivenhainen glei- chen. Es war in römischer Zeit in Nord- und Mitteltunesien aller schwerer Boden, also die Täler und die Ebenen, dem Weizen- bau, aller leichterer und die Hänge dem Ölbaum in einer Aus- dehnung gewidmet, von der wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können, die aber die ungeheueren Mengen Öl erklär- — 425 — lieh machen, welche Tunesien nach Rom lieferte. So konnten die als Wüstenbewohner darüber erstaunten Araber sagen, ob- wohl jene Blütezeit längst vorüber war, daß man von Tripolis bis Tanger im Schatten der Bäume von Dorf zu Dorf wandern könne. Aber eben diese Araber waren es, die als Nomaden Feinde des Anbaues und der Baumzucht die schon durch die Kriege und Aufstände gelichteten Fruchthaine vollends vernichteten. Viele Siedelungen wurden zerstört, die Bevölkerung getötet, die Bewässerungsanlagen verfielen, das Land verödete allmählich und verfiel in den Zustand, den wir heute vor uns haben oder vor 15 Jahren vor uns hatten. Diese Schilderung von dem, was Tu- nesien einst war, kann uns eine Vorstellung von dem geben, was es wieder werden kann. Wir sehen also, daß durch Aufspeiche- rung imd peinliche Ausnutzung der Wasservorräte, wie Einfüh- rung der geeigneten Gewächse ein Land, welches nur Nomaden zu ernähren geeignet erscheint, von einer dichten, hoch gesitteten Bevölkerung bewohnt werden kann. Ja, das Haurangebiet Palä- stinas, das in derselben Zeit wie Tunesien ein reiches Kulturland war, liefert den Beweis, daß durch solche Mittel sogar ein Land, das selbst für Nomaden nur in der niederschlagsreichen Jahres- hälfte bewohnbar ist, für hochgesittete Menschen dauernd be- wohnbar gemacht werden kann. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes galt es für die Franzosen vor allem Häfen, Eisenbahnen, Straßen und ähnliche Anlagen ins Leben zu rufen. Bei der Einrichtung der franzö- sischen Schutzherrschaft besaß Tunesien nicht einen einzigen den Anforderungen unserer Großschiffahrt genügenden Hafen. Der 1886 eingesetzten Direktion der öflfentlichen Arbeiten lag vor allem ob, diesem Übelstande abzuhelfen. So wurden nach reif- lichen Erwägungen, ob man den Hafen von Tunis vor Goletta, das bis dahin den Seeverkehr durch seine wenig geschützte Reede vermittelt hatte, oder bei Tunis selbst im Haflf anlegen solle, die Arbeiten an letzterem Punkte begonnen. Entscheidend war dafür wohl die Erwägung, daß ein so gleichsam im Innern des Landes gelegener Hafen auch von einer überlegenen Flotte nicht ge- fährdet werden könne. Hinzu kam der Vorteil von Tunis, dessen europäische Entwickelung dadurch naturgemäß gefördert werden mußte, und die Schädigung der Goletta mit Tunis verbindenden — 426 — Eisenbahn, die bis dahin den ganzen Verkehr zu bewältigen ge- habt hatte. Dieselbe ist nämlich in italienischem Besitz und war mit keinem Mittel zu beseitigen gewesen.^) So gelangen heute auch größere Mittelmeerdampfer auf einem 8 km langen, 6,5 m tiefen Kanäle, der in dem seichten Haflf ausgehoben worden ist, bis in den Hafen von Tunis selbst, dem die europäische Neustadt rasch entgegenwächst. Goletta ist zu einem Seebadeorte herab- gesunken. Dient der Hafen von Tunis nur dem friedlichen Ver- kehr, so ist der von Biserta zum großen Kriegshafen, einem der besten der Welt, bestimmt. Seine geographische Lage an einer flachen, leidlichen Schutz bietenden Bucht dicht an der Nord- spitze Afrikas, an der Straße von Pantelleria, also in einer Flankenstellung zur wichtigsten Welthandelsstraße zwischen Gibral- tar und Malta, Sizilien, Sardinien und dem Tyrrhenischen Meere gegenüber, die von hier aus die Karthager, die Vandalen, die Araber beherrscht haben, fast in der Mitte des Mittelmeers, in kaum 40 Stunden von Toulon erreichbar, ist eine ausgezeichnete. Ein nächster Krieg, der notwendig Italien an Englands Seite finden wird, wird die große Bedeutung von Biserta erweisen. An diesem Punkte führt ein enger natürlicher Kanal in einen weiten und tiefen See, der seinerseits noch den Abfluß einen zweiten noch weiter landeinwärts gelegenen aufnimmt. Dieser Kanal war im Laufe der Jahrhunderte mit dem Schutt und Unrat der Stadt, der schon in punischer und römischer Zeit eine große Rolle gespielt hatte, angefüllt worden und war nur noch für kleine Fahrzeuge fahrbar. Statt ihn zu reinigen, schien es vorteilhafter, einen neuen Kanal von 9 m Tiefe und 64 m Breite^) geradeaus in den See zu graben, der nun einen den größten Kriegsschiffen zugänglichen, ungeheueren, durchaus sicheren und unangreifbaren Hafen bildet, der jetzt stark befestigt und mit Docks und an- deren Anlagen für die Kriegsmarine versehen wird. Zwei je 1000 m lange Dämme bilden an der äußeren Mündung des Kanals einen Vorhafen. Eine Eisenbahn, von welcher unmittel- bar die Waren in die Schiffe verladen werden können, verbindet bereits Biserta mit Tunis. Dasselbe könnte sich so auch zum Handelshafen entwickeln, wird aber vorzugsweise der Beherr- 1) Sie ist seitdem in französische Hände übergegangen. 2) Siehe den folgenden Aufsatz. — 427 — schung des Mittelmeeres durch Frankreich und in erster Linie als Trutz-INIalla dienen. Einfachere Hafenanlagen sind in Susa und Sfaks geschaffen worden. Ein ähnlich wie Biserta der An- legung eines Kriegshafens günstiger Punkt, auf den schon mehr- fach hingewiesen worden ist, findet sich bei Zarzis nahe der Grenze von Tripolitanien. Es ist damit allen Bedürfnissen der Gegenwart genügt. Diese Hafenbauten haben mehr als 40 Mill. Eres, gekostet, die der tunesische Staat aufgebracht hat. Selbst- verständlich sind dabei nur französische Ingenieure und soweit wie möglich französisches Material verwendet worden. Und da der Seeverkehr Tunesiens schon beinahe ein Monopol Frankreichs geworden ist, so kommen diese Anlagen nur dem Wirtschafts- leben Frankreichs zugute. Die Hafenbauten mußten notwendig durch Straßen und Eisenbahnen ergänzt werden. Sofort nach der Besetzung nahm Frankreich auch dies in Angriff. Wie man das von Algerien gewohnt ist, wurden zunächst Soldaten zum Straßenbau verwendet. Von großer Wichtigkeit ist dabei, daß das Gelände fast gar keine Schwierigkeiten bietet; es sind keine großartigen, kost- spieligen Brücken über die Flüsse zu bauen, da solche fast nicht vorhanden sind; keine hohen Gebirge sind mühsam in Tunnels zu durchbohren und dergleichen mehr. In Mittel- und Südtunesien namentlich sind die Geländeschwierigkeiten so geringe, daß man nur Wagen herbeizubringen brauchte , mit denen man ohne jede Wegebahnung sofort durch die Steppen und Wüsten fahren konnte. Schon 1886 fand ein großer Teil der Warenbeförderung auf leichten Karren von Tunis, Sfaks oder Gabes aus bis in die Oase Gafsa und in die des Beled el Djerid statt. Dort im Süden galt es nur für Wasserstationen und Karawanserais zu sorgen. Und das ist auch sehr bald geschehen. Auf den Linien von Sfaks und Gabes nach Gafsa und Tozer sind solche meist in einem Abstände von 40 km errichtet worden. Da diese Kara- wanserais meist als sogenannte Bordj, d. h. Mauervierecke mit nur einer (Tor-) Öffnung, alle Räume nur von innen zugänglich, also als kleine Festungen an den Wasserstellen errichtet sind, so wäre es im Falle von Unruhen nur nötig, sie mit Besatzungen zu versehen, um im Besitze der Wasserstellen jeden Widerstand unmöglich zu machen. Auch die sehr geringen Löhne, die den Arbeitskräften, sowohl den einheimischen, wie den sich in Menge — 420 — anbietenden Italienern gezahlt werden, erleichtern die Sache. So waren bis Ende 1896 bereits 1400 km Kunststraßen hergestellt, die man vorher in Tunesien kaum gekannt hatte. Diese haben nur 13 Millionen Frcs. gekostet, die natürlich die tunesische Ver- waltung aufgebracht hat. Mit noch weiteren 3 — 4 Millionen Frcs. wird allen Bedürfnissen der Gegenwart genügt sein. Von Eisenbahnen war die nur 34 km lange, aber sehr wichtige italienische Linie von La Goletta und La Marsa vor- handen, dazu die französische Linie von Tunis durch das Med- scherdatal nach Algerien. An diese gliedern sich heute bereits zahlreiche Abzweigungen und Anschlußlinien an nach Biserta, Zaghuan, Susa usw. Es waren Ende 1896 bereits 499 km im Betriebe, zu denen in kürzester Zeit noch 176 weitere hinzu kommen sollten. Namentlich ist auch hier schon auf die wich- tige Linie von Sfaks über Gafsa in das Gebiet der Phosphat- gruben hinzuweisen. In Tunis ist bereits eine Straßenbahn vor- handen. Telegraphenlinien von 2500 km Länge durchziehen das ganze Land, ein regelmäßiger Postdienst bis in die entlegensten Orte ist eingerichtet, ein eigenes Kabel verbindet seit 1893 Tunis mit Marseille! Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes gehört vor allem auch die Wasserversorgung, zunächst wenigstens der Städte. Schon die Rücksicht auf die französischen Truppen, Beamten und Ansiedler, die doch zunächst sich den Städten zuwenden, erfordert dies. Die wichtigste Anlage dieser Art, die Wasser- versorgung von Tunis, fällt allerdings schon in eine frühere Zeit, ist aber auch eigentlich das Werk eines Franzosen, des General- konsuls L6on Rocher. Unter dessen Einfluß wurde 1861 unter einem Kostenaufwande von 13 Millionen Frcs. die alte römische Wasserleitung von Zaghuan her bei Tunis wiederhergestellt. Die französische Verwaltung hat seitdem für gute Unterhaltung und Verbesserung der Leitung gesorgt, so daß Tunis und Umgebung heute wohl unter allen Städten Afrikas die am reichlichsten mit vortrefflichem Trinkwasser versehene ist. In ähnlicher Weise sind seit 1881 auch Biserta, Kef, Kairuan, Susa, Sfaks und andere Orte mit Wasser versehen worden, auch vielfach unter Wieder- herstellung römischer Anlagen. In der heiligen Stadt Kairuan ist nicht nur das Becken der Aglabiten wieder in guten Zustand versetzt, sondern auch das Wasser der Quellen von Cherichera — 429 — in 30 km langer Leitung herbeigeführt werden. Es ist daher nur ein Aufwand von 6 Millionen Frcs. nötig gewesen. Dazu hat die französische Verwaltung der Oase Gabes 1894 durch ein neues Stauwerk im Wed Gabes größere Wassermengen zur Ver- fügung gestellt. Andere Arbeiten ähnlicher Art müssen aber dort und anderwärts nachfolgen, denn noch bleibt ^^ der vor- handenen Wasservorräte unbenutzt. Es ist also noch eine große Erweiterung der Dattelhaine möglich. Wie es in Algerien mit so großem Erfolge geschehen ist, so haben auch in der Umgebung der Kleinen Syrte und auf der Insel Djerba künstliche Brunnen- bohrungen stattgefunden und finden solche noch immer statt. Ein Erfolg ist nicht ausgeblieben, wenn er auch bisher noch nicht besonders hervortritt. Die großen Wassermassen, welche der Medscherda, der zehn Monate im Jahre ein breiter und tiefer Strom ist und auch bei niedrigstem Stande noch 2 cbm Wasser in der Sekunde führt, dem Meere mitten durch fruchtbares Allu- vialland dem Meere zuwälzt, sind heute noch so gut wie unbe- nutzt. Sie vermögen aber ein weites Gebiet von Nordtunesien in einen Garten zu verwandeln. Bei Djedeida könnten unter Benutzung alter, wohl römischer Stauwerke 4500 ha, bei Teburha 7 — 8000 ha berieselt werden. Es sind femer zahlreiche Bauten für die verschiedensten Zweige der Verwaltung errichtet worden: für die Post- und Tele- graphenverwaltung, für den Zoll- und Steuerdienst, Gendarmerie- posten, Gefängnisse, Schlachthäuser und dergleichen mehr. Die Städte sind kanaUsiert, die Straßen gepflastert, zum Teil sogar schon mit Bäumen bepflanzt worden. Es ist für Straßenreinigung gesorgt worden und dergleichen mehr. Es leuchtet ein, daß durch alle diese Maßregeln auch die öffentliche Gesundheit ganz außerordentlich gefördert worden ist. Alle diese Arbeiten haben die verhältnismäßig geringe Summe von 1 50 Millionen Frcs. erfordert ! Und diese ist nicht etwa durch Anleihen, auch nicht durch erhöhte Steuern aufgebracht worden, sondern sogar unter Erleichterung derselben, nur durch geordnete Verwaltung aus den regelmäßigen Einnahmen! Da- durch sind Überschüsse erzielt worden, die in einzelnen Jahren 30 Millionen Frcs. erreicht haben. Die Summen, welche im Budget Frankreichs auf Tunesien kommen, sind ledigUch der Eroberung des Landes und der Unterhaltung des Besatzungs- — 430 — heeres zuzuschreiben, das natürlich auch sonst unterhalten wer- den müßte. Die tunesische Staatsschuld war durch Anleihen und unglaubliche Verschleuderungen von 1 2 Millionen Frcs. im Jahre 1860 auf 160 Millionen im Jahre 1870 gestiegen. Da- durch in erster Linie ist das Land um seine Selbständigkeit ge- kommen. Frankreich hat die Finanzen von Tunesien durch An- leihen und Umwandlungen, die natürlich alle dem französischen Geldmarkte zugute kamen, in einer Weise geordnet, daß dies Land, das schließlich überhaupt kein Geld mehr geliehen erhielt, heute nur noch 3^^ Zinsen zu zahlen braucht! Auch das Münz- wesen ist europäisiert worden. Das Meter- und Dezimalsystem ist eingeführt worden, alles Maßregeln, die natürlich der wirt- schaftlichen Betätigung der Franzosen höchst förderlich sind. In dieser Weise ist also ein neuer wirtschaftlicher Auf- schwung Tunesiens angebahnt worden, der schon heute überall erkennbar ist. Selbstverständlich ist es die Nation , die die Ge- fahr auf sich genommen, die die Arbeit geleistet hat, die nun auch die Früchte erntet. Tunesien ist, wie wir sahen, in erster Linie ein Land des Ackerbaues. Wenden wir uns daher zunächst den landwirtschaft- Uchen Unternehmungen der Franzosen zu. Hier galt es vor allem Klarheit und Rechtssicherheit in die, wie in allen moham- medanischen Ländern, so auch hier sehr verwickelten Besitzver- hältnisse zu bringen, schon um Reibungen und Unzufriedenheiten vorzubeugen. Es galt festzustellen, was Privat-, was Staats-, was Besitz frommer Stiftungen ist. Damit ist erfolgreich begonnen worden. Ununterbrochen werden Güter vermessen und ins Grund- buch eingetragen. Namentlich ist eine Behörde geschaffen worden, deren Entscheidungen entgültige sind und klare Ver- hältnisse schaffen. Auch hat man angefangen in der Umgebung von Tunis die Güter der toten Hand, die unveräußerlich sind, in Rentengüter umzuwandeln. Der Staat läßt zu Landkaufs- zwecken unentgeltlich Analysen von Bodenproben vornehmen. So ist der europäische, d. h. französische Grundbesitz sehr rasch gestiegen: Ende 1896 waren bereits 450000 ha in europäischen, d. h. zu 90^0 in französischen Händen. Und schon sind es nicht bloß reiche Privatleute, Banken und Gesellschaften, welche Land kaufen, sondern es entwickelt sich schon mittlerer und kleiner Besitz. Ja, man kauft schon Grundbesitz, der in Fülle angeboten — 431 — wird, und läßt ihn ganz in der bisherigen Weise von Eingeborenen bewirtschaften. Damit erzielt man noch immer eine Verzinsung des Kapitals zu s'^/q, gegen 3°/o oder weniger in Frankreich, un- gerechnet die natürliche Wertsteigerung. Diese letztere ist eine rasche und bedeutende. Während man 15 km von Tunis an- fangs der achtziger Jahre den Hektar guten Landes für 100 Frcs., 25 km von Tunis für 50 Frcs. kaufen konnte, muß man jetzt im Umkreise von 25 km bereits 300 — 500 Frcs. zahlen. Etwas weiter ins Innere ist aber noch immer gutes Land zu 25 Frcs. zu haben. Naturgemäß erwerben Franzosen vorzugsweise in Nord- tunesien Grundbesitz, aber auch in der Umgebung von Sfaks mehren sich die französischen Grundbesitzer rasch. Man zählt bereits 800 europäische Grundbesitze. Davon sind einzelne von ungeheuerer Größe. Das vielbesprochene Enfidagut am Golf von Hammamet umfaßt allein gegen 10 000 ha und einzelne Güter haben Anlagesummen bis zu 2 Millionen Frcs. erfordert. Anfangs warfen sich die Franzosen auf den Weinbau. Mit fieberhaftem Eifer sah man 1886 in Nordtunesien unter großen Kosten überall das Land zu Weinbau herrichten. Die dem Weinbau gewidmete Fläche ist schon auf 6000 ha gestiegen und das darin angelegte Kapital wird zu 25 Millionen Frcs. berechnet. Freilich hat man zunächst nur Enttäuschungen mit dem Weinbau erfahren, da bisher nur gewöhnliche Rotweine erzielt werden und die Entwickelung des tunesischen Weinbaus mit dem Wieder- erstarken desselben in Frankreich zusammenfiel. Bessere Aus- sichten bietet aber die jetzt im Vordergrunde stehende Oliven- zucht, die allerdings gegen 10 Jahre erfordert, ehe die Bäume zu vollem Ertrage kommen. Sie tragen dann aber geradezu jahrhundertelang und um Sfaks gibt es Pflanzungen, wo ein Baum 15 — 25, ja bis zu 40 Frcs. jährlich abwirft. Tunesien ist sozusagen das Olivenland schlechthin. Wie es im Altertume un- gemessene Mengen Öl nach Rom lieferte, so ist Olivenöl auch noch heute eines der wichtigsten Erzeugnisse Tunesiens. Man schätzt die Zahl der Ölbäume auf 11 — 12 Millionen^), ihren Er- trag, trotz ungeeigneter Behandlung des Öls, auf 25 Millionen Frcs. Der tunesische Sahel, das Küstengebiet um Susa, Monastir, Mahedia bildet auf Hunderte von Quadratkilometern einen lichten I) 1901 waren es bereits 20 Millionen. — 432 - Hain von Ölbäumen. Auch pflegen hier die Eingeborenen den Ölbaum in so ausgezeichneter Weise , wie sonst nirgends in den Mittelmeerländern. Die Art und Weise den Baum zu pflanzen, zu düngen, zu beschneiden, den Boden zu bearbeiten, — min- destens fünfmal im Jahre! — wie sie sich durch Erfahrung im Laufe von Jahrhunderten in der Umgebung von Sfaks entwickelt hat, ist mustergültig. Hier geht auch immer mehr Olivenland in französische Hände über, namentlich seit der ungeheuere Land- besitz der Familie Siala zu Staatsgut gemacht worden ist und von der Regierung der Hektar zu lo Pres, verkauft wird unter der Bedingung, daß er binnen vier Jahren mit Ölbäumen bepflanzt ist. So sind seit 1892 bereits 72000 ha verkauft worden. Dazu halte man sich gegenwärtig, daß so ziemlich ganz Nord- und Mitteltunesien mit Ölbäumen wieder bepflanzt werden kann und daß ein Hektar Land, der heute als Weideland in Nordtunesien 20 Frcs., in Mitteltunesien 10 Pres, kostet, mit Ölbäumen be- standen 700 — 800 Pres, wert ist. Eine so riesige Wertsteigerung bewirkt dieser edle Fruchtbaum! Derselbe bringt hier überdies Früchte hervor, deren Fettgehalt größer ist als irgendwo und von Norden nach Süden zunimmt. Während derselbe in der Provence selten zo^j^ erreicht und auf 13% herabgeht, auch in Bari nur 20 — 2T)^/q beträgt, steigt er in Tunesien bis auf 3i7o'- Hier ist also ein ungeheures Feld gewinnreicher Betätigung für franzö- sische Landwirte und Geldleute! Diese haben auch bereits an- gefangen die minderwertigen Verfahren der Eingeborenen bei der Ölbereitung durch das in der Provence eingebürgerte und durch vervollkommnete Maschinen zu ersetzen. Es waren bis Ende 1896 bereits 125 französische Ölfabriken mit 18 Dampfmaschinen und 532 französische Ölpressen in Betrieb. An die Olivenhaine ist noch heute die größte Volksdichte in Tunesien gebunden. Im sogenannten Sahel allein wohnen etwa 150000 Menschen, d. h. 200 — 250 auf i qkm, V4 der Be- wohner sitzen überhaupt in einem schmalen Küstengürtel. Das Innere dagegen , das ebenso oder annähernd ebenso dicht be- wohnt sein könnte, ist sehr dünn von Nomaden oder Halbnomaden, in Zelten oder Reisighütten (Gurbis) etwa drei Köpfe auf i qkm, bewohnt. Nach einer 1890 von der französischen Heeresverwal- tung durchgeführten Aufnahme gab es in Tunesien 138000 Woh- nungen, von denen 57000 Häuser, 81 000 Zelte waren. Feste — 433 — Dörfer findet man im baumarmen oder baumlosen Innern sehr selten und nur im Gebirge, wo sich die Berbern noch in ihrer Eigenart behauptet haben. Erst im Süden, im Gürtel der Oasen, überwiegen feste Siedelungen, die man der Zahl der Bewohner nach meist als Städte bezeichnen würde. In ähnlicher Weise haben die Franzosen auch bereits in Südtunesien den Anfang mit der Zucht der Dattelpalme gemacht, die dort die vorzüglichsten Datteln liefert. Heißt doch ein Teil desselben geradezu das Dattelland. Hier können die Erfahrungen, die bei der Anpflanzung von Palmenoasen im südlichen Algerien gemacht worden sind, sofort verwertet werden. Nur daß die südtunesischen Dattelhaine näher am Meere liegen, die Datteln also ausfuhrfähiger sind. Die Aufnahmefähigkeit des Weltmarkts für diese wohlschmeckenden und nahrhaften Früchte ist heute noch sozusagen unbegrenzt, während das tunesische Olivenöl erst das italienische und spanische wird zurückdrängen müssen. Die Süd- und zum Teil schon die mitteltunesischen Steppen liefern auch bedeutende Mengen des Haifagrases, dessen Ausbeutung heute auch im wesentlichen aus englischen in französische Hände übergegangen ist! Wie im Altertum, so ist auch heute noch Tunesien ein aus- gezeichnetes Weizenland. Auch da hat bereits die französische Unternehmung eingesetzt und erzielt naturgemäß weit höhere Er- träge wie die Eingeborenen mit ihren schlechten Geräten und veralteten Verfahren. Für die Zucht von Frühgemüsen sind die Bedingungen sehr günstige. Kartoffeln geben unter künstlicher Bewässerung drei Ernten im Jahr. Die Regierung fördert diese Bestrebungen eifrig und erfolgreich, namentlich durch einen neu angelegten Versuchsgarten, von welchem freigebig Pflanzen ab- gegeben werden. Auch die von den Eingeborenen sehr urtüm- lich betriebene Viehzucht erweist sich nach einzelnen Versuchen als sehr lohnend. An Wäldern ist Tunesien trotz weit fortgeschrittener Ver- wüstung nicht so arm, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist eine geordnete Forstverwaltung eingerichtet worden, ja man hat schon mit Wiederaufforstung begonnen. Ertragreich sind von der zu 500000 ha angenommenen Waldfläche zunächst freilich nur die herrlichen Wälder von Kork- und Zenneichen, welche das Krumirgebirge , also die niederschlagsreichste Gegend Tune- Fischer, Mittelmeerbilder. 28 — 434 — siens, trägt. Diese letzteren vermögen noch für sechs Jahre je 40000 Tonnen Gerberlohe, einen hohen Prozentsatz des euro- päischen Gesamtverbrauchs, hervorzubringen und in wenigen Jahren wird die normale Korkgewinnung auf einen jährlichen Reinertrag von 600000 Frcs. gestiegen sein. Selbstverständlich handelt es sich auch hier lediglich um französische Beamte und Gesell- schaften. Sehr wertvolle Ergebnisse hat die geologische und bergbau- liche Durchforschung Tunesiens gehabt. Vorkommen von Silber, Blei, Zink und Eisen waren zum Teil schon länger bekannt, zum Teil in Abbau genommen, naturgemäß von französischen Gesell- schaften unter Leitung französischer Bergleute, mit Maschinen aus französischen Werkstätten. Die Arbeiter sind allerdings Italiener und Eingeborene, da für die ortsüblichen niederen Löhne keine Franzosen zu haben sind. Doch wird Tunesien niemals ein Land bedeutenden Erzbergbaus werden. Weit wichtiger sind die neu aufgefundenen Phosphatlager, im äußersten Südwesten zwi- schen Gafsa und Tamerza auf dem Staate gehörigem Boden, andere auf dem westlichen Hochlande Mitteltunesiens bei Kalaat- es-Senam, Kalaat Djerda und Thala. Während aber die erst 1887 bei Tebessa in Algerien aufgefundenen bereits in Abbau genommen sind und reichen Ertrag geben, weil die Eisenbahn schon bis dorthin vollendet war, harren die schon 1885 aufge- fundenen tunesischen noch der Aufschließung. Diese wird aber beginnen, sobald die i8g6 beschlossene und begonnene Eisen- bahnlinie Sfaks-Gafsa, die so gut wie gar keine Geländeschwierig- keiten bietet, vollendet sein, wird.^) Eine französische Gesell- schaft mit 20 Millionen Frcs. Kapital hat auf 60 Jahre die Aus- beutung dieser bis 60 prozentigen Phosphatvorkommen, deren Mächtigkeit mindestens 50 Millionen Tonnen beträgt, und zu- gleich den Bau und Betrieb der Eisenbahn vom tunesischen Staate übernommen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich um ein sehr gewinnreiches Unternehmen handelt. Bei dem überall nach- gewiesenen starken Phosphatgehalte des Bodens, der die sozu- sagen unerschöpfliche Fruchtbarkeit desselben erklärt, ist nicht ausgeschlossen, daß noch ebenso wichtige Vorkommen aufge- funden werden. l) Sie ist schon in Betrieb. — 435 — Eine weitere Quelle des Reichtums Tunesiens, die eben beginnt auch in französische Taschen zu fließen, ist die Fülle von Fischen, Badeschwämmen, Edelkorallen und anderer Erzeug- nisse, welche die Haffe und die Tunesien umspülende Flachsee, besonders im Osten, hervorbringt. Sardinen und Anchovis werden dort in ungeheueren Mengen gefangen und Franzosen legen immer mehr Sardinenfabriken an Stelle der unvollkommenen Ver- fahren der Eingeborenen an. Ebenso Salzereien der sogenannten Alacce, einer Sardinenart. Öl liefern die Olivenhaine, Salz die Salzgärten an der Küste selbst. Auch einige große Thunfische- reien, von denen hier mehrere seit 2000 Jahren nachweisbar an ein und derselben Stelle bestehen, sind in französischen Be- sitz übergegangen oder von Franzosen neu angelegt worden. Sehr reich sind die Fischereien im See von Biserta und im Haff von Tunis und beide werden bereits von französischen Gesell- schaften betrieben. Die erstere sendet täglich mehrere tausend Kilo Fische in gefrorenem Zustande nach Marseille. Die Fischer selbst sind Eingeborene bzw. die Schwamm- und Korallenfischer Italiener und Griechen. Ein Versuch, bretonische Fischer zur Verdrängung der Italiener als Sardinenfischer in Tabarka anzu- siedeln, ist kläglich gescheitert. Die tunesischen Fischereien sind aber noch einer großen Entwickelung fähig. Waren schon im Vorhergehenden gelegentlich gewerbliche Unternehmungen französischer Einwanderer zu verzeichnen, so mögen dem noch eine Reihe anderer hinzugefügt werden, wie sie vorzugsweise in einem „neuen" Lande ins Leben zu rufen sind: Ziegeleien und Zementfabriken für die namentlich in Tunis rege Bautätigkeit, Faßfabriken für Wein und Öl, Eisfabriken, Mühlen, Seifenfabriken mit dem im Lande gewonnenen Öle, Gas- fabriken — es sind so ziemlich noch alle tunesischen Städte zu beleuchten — Druckereien, lithographische Anstalten, Parfume- rien, Fabriken alkoholischer Getränke und dergleichen. Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes in den letzten 15 Jahren prägt sich wohl am besten in der Entwicklung des Handels aus. Im Jahre 1875 betrug der Gesamthandel Tune- siens, Aus- und Einfuhr, etwas über 20 Mill. Eres.! Im Jahre 1894 war er auf 78,9, 1895 auf 85,3 Mill. gestiegen. Dabei geht derselbe immer mehr in französische Hände über. Italiener und Engländer treten immer mehr in den Hintergrund. Die Er- — 436 — richtung einer Handelskammer in Tunis 1885, die fast völlige Aufhebung der Zollschranken zwischen Frankreich und Tunesien 1890, die Vermehrung und Verbesserung der staatlich unter- stützten Dampferverbindungen hat hierbei natürlich in hohem Grade fördernd mitgewirkt. Naturgemäß wird Tunesien damit auch politisch immer enger an Frankreich geknüpft und auch die letzten Zölle werden wohl in kurzer Zeit in Wegfall kommen. Frankreich selbst vermag die Nahrungs- und Genußmittel, welche Tunesien fast allein ausführt, bei weitem nicht genügend hervor- zubringen, bezieht dieselben also mit Vorteil aus Tunesien. In welchem Maße somit der tunesische Handel in französische Hände hinübergleitet, das mögen folgende Zahlen veranschau- lichen: Der Anteil Frankreichs am Gesamthandel Tunesiens be- trug 1885/86, als sich eben die neuen Verhältnisse geltend zu machen begannen: 38,8^/0, Italiens 29,4, Englands 21,5. Im Jahre 1893 war das Verhältnis bereits 66 yQ, 13%, i2 7o' Der Anteil Frankreichs an der Einfuhr nach Tunesien betrug 1894: 60, Englands 18, Italiens io^/q, an der Ausfuhr: 70, 12,7, 8,5 y^j. Über die Hälfte des tunesischen Seeverkehrs liegt be- reits in französischen Händen und es ist nur noch eine Frage kurzer Zeit, daß aller fremde Wettbewerb im Wirtschaftsleben Tunesiens bis auf einen unvermeidlichen Mindestanteil beseitigt sein wird. Naturgemäß hat diese Umwälzung auch eine relativ be- deutende französische Einwanderung zur Folge gehabt, obwohl sich gerade darin die große Schwäche Frankreichs, seine Kinder- armut, am meisten offenbart. £s darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß die französische Regierung, offenbar auch auf Grund in Algerien gemachter Erfahrungen und aus politischen Gründen, sehr weise immer bemüht gewesen ist die Begehrlichkeit der eigenen Landeskinder möglichst einzudämmen. Vor 1881 zählte man unter etwa 20000 in Tunesien ansässigen Europäern, meist Sizilianer und Malteser, nur einige hundert Franzosen. Im Jahre 1895 war die Zahl der Europäer nach Turquan auf ca. 75000, die der Franzosen und französischen Schützlinge auf 20000 ge- stiegen. Nicht wenige zur Entlassung kommende Soldaten lassen sich im Lande nieder. Auch die Zahl der Italiener und Malteser ist rasch gestiegen, aber sie setzen sich fast nur aus Angehörigen der untersten Schichten zusammen, stehen alle im Dienste fran- — 437 — zösischen Kapitals und können nicht entbehrt werden, da es eben in Frankreich an bilHgen Arbeitskräften fehlt. Die Ein- wanderung erstreckt sich, abgesehen von wenigen vereinzelten landwirtschaftlichen Unternehmungen, bis jetzt nur auf die Städte, von denen namentlich in Tunis sich rasch eine europäische Stadt an den orientalischen Kern ankristallisiert. Es zählt bereits 1 40 000 Einwohner. Dörfer europäischer Ackerbauer gibt es noch nicht und man würde es verstehen, wenn die französische Verwaltung, wie es den Anschein hat, die Bildung solcher nicht begünstigt. Daß nicht nur durch diese europäische Einwanderung, son- dern auch durch die Sicherheit von Personen und Eigentum ge- währleistende, den wirtschaftlichen Aufschwung fördernde fran- zösische Verwaltung bereits eine bedeutende Vermehrung der Bevölkerung eingetreten ist, unterliegt keinem Zweifel. Doch fehlt es noch an sicheren statistischen Unterlagen. Amtlich wird die Bevölkerung des Landes zu 1,5 Mill., 15,5 Köpfe auf I qkm, angegeben. Doch mögen es bereits 1,8 Mill. sein. Jedenfalls ist der Volksvermehrung hier noch ein ungeheurer Spielraum gelassen. Wir stehen nicht an zu behaupten, daß etwa zwei Drittel von Tunesien, mindestens 75 000 qkm, nach jenen Feststellungen bei Sbeitla und nach dem zu urteilen, was in ähnlichen Ländern, z. B. in Palästina, dagewesen ist und noch heute möglich ist, eine Verdichtung der Bevölkerung auf 150 Köpfe auf I qkm zugänglich ist, wie in den ersten christlichen Jahr- hunderten tatsächlich eine derartige Volksdichte hier geherrscht hat. Man darf nicht vergessen, daß Baumzucht, für welche sich Tunesien besonders eignet, in den Mittelmeerländern eine sehr große Verdichtung der Bevölkerung herbeizuführen pflegt, noch weit mehr wie bei uns der Weinbau, und daß, selbst wo Weizen gebaut wird, die Fruchtbarkeit so groß ist, daß man in Mittel- tunesien, wo Mißernten, wie wir sahen, wegen ungenügender Niederschläge nicht selten sind, sprichwörtlich sagt, wenn in vier Jahren eine gute Ernte eintrete, die Bevölkerung leben könne; gebe es deren zwei, so werde sie wohlhabend, bei drei reich! Dazu fällt schwer ins Gewicht, daß in solchem Klima die Be- dürfnislosigkeit der Bevölkerung überhaupt sehr groß und be- sonders der Bedarf an Nahrung weit geringer ist, als in den Ländern des Nordens. Ein gleich großes Stück gleich guten - 438 - Bodens vermag also in Tunesien viel mehr Menschen zu ernähren als etwa in Deutschland, Man wird also sagen können, daß Tunesien imstande ist an Stelle seiner heutigen i,8 Millionen ii — 12 Millionen weit wohlhabenderer, kaufkräftigerer Bewohner zu ernähren. Welche Aussichten eröffnet also eine glückliche Kolonialpolitik für Frankreich! Trotzdem oder vielmehr infolge der überall hervortretenden Klugkeit und Mäßigung hat die Annäherung der eingeborenen Bevölkerung an die neuen Herren, die Anähnlichung, schon so erkennbare Fortschritte gemacht, daß der Gedanke, es werde Frankreich einmal gelingen, die Eingeborenen in ähnlicher Weise aufzusaugen und zu französieren, wie es den Römern gelang, sie zu romanisieren und hier höchster römischer Gesittung eine Stätte zu bereiten, wenigstens ausgesprochen werden kann. Dazu wird vor allem auch das französische Schulwesen beitragen, dem man die größte Aufmerksamkeit schenkt, und nicht bloß der Staat, sondern auch die Privatgesellschaft der Alliance franyaise pour la propagation de la langue fran^aise ä l'^tranger, deren erfolg- reiche Wirksamkeit man auch im Orient allenthalben beobachten kann. Wie beschämend für uns Deutsche ist es dagegen, daß die verschiedenen nur auf Erhaltung der deutschen Sprache im Auslande gerichteten Bestrebungen so wenig Unterstützung finden! Die wirtschaftlichen und politischen Vorteile, welche Frankreich im Orient von der immer weiteren Verbreitung des Französischen, besonders auf Kosten des Italienischen, zieht, sind für jeden, der jene Länder kennt, geradezu handgreifliche. Eine große Zahl französischer Schulen ist durch ganz Tunesien errichtet und der Besuch steigt rasch. In dem Institut de Carthage ist auch be- reits eine gelehrte Gesellschaft erstanden. Wir gelangen somit zu dem Ergebnis, das schon nach 1 5 Jahren Frankreich und französische Staatsbürger in Tunesien die Früchte einer weisen, zielbewußten Kolonialpolitik zu ernten beginnen, wenn dies auch nur die bescheidenen Vorzeichen einer hoffnungsreichen Zukunft sind. Schon heute erweist sich die französische Schutzherrschaft als eine Wohltat für das tunesische Volk und ist Tunesien ein neuer Machtfaktor Frankreichs im Mittelmeer, ja es schickt sich an ein Faktor der Weltmacht Frankreichs, eine Quelle des französischen Nationalwohlstandes, — 439 — vielleicht sogar eine Stätte neuen jugendfrischen Aufstrebens des französischen Volkstums durch Zuführung neuer Säfte aus frem- dem Volkstume zu werden. 7. Tunis, Biserta und Tunesien im Jahre 1904.O Wie überall und aus naheliegenden Gründen der wirtschaft- liche Aufschwung und die Europäisierung Tunesiens unter dem französischen Protektorate in den Küstenstädten am augenfälligsten zutage tritt, so ganz besonders in der Hauptstadt selbst, aber vielleicht noch auffälliger in Biserta, bei welchem es sich geradezu um eine großartige Neugründung handelt, Tunis und Biserta sind unstreitig die geographisch am meisten begünstigten Punkte in ganz Tunesien, ja, sie gehören zu den bevorzugtesten im ganzen Mittelmeergebiete. Von Tunis leuchtet das ohne weiteres ein, denn nur die Gunst der Lage erklärt, daß das phönikische Karthago, auf seinen Trümmern das noch größere römische zu Weltstädten des Altertums aufblühten und daß im Mittelalter das ganz binnenländische Kairuan, welches die noch nicht das Meer beherrschenden Araber gründeten, nach wenigen Jahrhunderten von Tunis, ganz nahe der Stätte von Karthago und mit seinen Trümmern erbaut, in den Schatten gestellt wurde. Wenn auch die Stätte von Biserta keine so großen geschichtlichen Erinne- rungen birgt, da Plippo Zaritus, dessen Name selbst noch heute an dieser Stelle haftet, nur die Bedeutung einer Mittelstadt hatte, so kann man doch schon heute fragen, ob nicht Biserta bei seiner zur Beherrschung des Mittelmeeres und den Anforde- rungen des Welthandels der Gegenwart gegenüber weit gün- stigeren Lage in einer nicht fernen Zukunft die Hauptstadt über- flügeln wird. Wichtige Züge zumal der topographischen wie der geo- graphischen Lage beider Städte ähneln einander. Beiden ist die Ecklage und die Lage an der das Südostbecken des Mittelmeers mit dem Nordwestbecken und dem Ozean verbindenden Meer- enge von Pantelleria, also die Lage an einer der wichtigsten Welthandelsstraßen eigen. Aber Tunis, heute durch den Kanal i) Preuß. Jahrbücher. — 440 — auch für Seeschiffe von mäßigem Tiefgange (6 m) unmittelbar zu- gänghch, liegt weit zurück, im tiefsten Hintergrunde seines Golfes und Haffs, etwas abseits der Straße, was für den Weltverkehr der Gegenwart den Verlust kostbarer Zeit bedingt, während Biserta an der Straße selbst und zugleich auf der Grenze des Tyrrhe- nischen Meeres und des Westbeckens liegt. Von dem Leucht- turme des Kap Blanco auf dem Gipfel des Dj. Nador wird im Durchschnitt stündlich ein großer vorüberfahrender Dampfer ge- meldet. Für den Verkehr Tunesiens mit Sizilien und Sardinien liegt Biserta unbedingt günstiger wie Tunis. Es liegt Neapel und sozusagen auch Marseille gegenüber im Meridian von Genua. Die Entfernung von Cagliari beträgt 230 km, von Trapani 240 km, Neapel 540 km, Genua 800 km, Marseille 780 km, Gibraltar 1350 km, Algier 620 km, Malta 450 km, Port Said 2200 km. Sehr ins Gewicht fällt in der Gegenwart, daß es eine große Kohlenstation werden kann. Für den Seeverkehr erscheint also die geographische Lage von Biserta unbedingt günstiger. Gewiß, die Landbeziehungen von Tunis sind innigere und vielseitigere, denn Tunis ist nicht nur bei seiner Lage im einspringenden Winkel der natürliche Brennpunkt des Land- und Seeverkehrs am Golfe selbst, der Mittelpunkt einer weiten sich zum Golfe neigenden, offenen Landschaft, es ist auch der Knotenpunkt natürlicher Straßen, die vom Süden, von Kairuan her und von noch wichtigeren, die von Westen durch das Tal des Medscherda hier an das Meer ausmünden, ja, es steht auch in bequemer Verbindung mit der dichtbevölkerten Östküste von Tunesien, Aber immerhin liegt Biserta dem Golfe und dem Medscherdatale so nahe, daß es einer Biserta begünstigenden Verkehrspolitik nicht schwer werden würde, es bei der geringen Entfernung von Tunis (70 km) an der Gunst der Lage von Tunis voll teilnehmen zu machen. Und die topographischen Bedingungen sind bei Biserta auch heute noch weit bessere. Tunis liegt auf und an einer Gruppe niedriger Hügel miozäner Sandsteine und pliozäner Konglomerate, die inselartig aus der Ebene aufsteigen und noch heute eine Art Landenge zwischen zwei flachen Seebecken einnehmen, dem See von Tunis, einem echten Haffe, und der im Sommer ganz aus- trocknende Sebkha Sedjumi. Es ist anzunehmen, daß es sich hier um die ältesten Deltabildungen des Wed Miliana, der nur — 441 — selten im Spätsommer zu fließen aufhört , und des Medscherda handelt, der seine Mündung unter dem Einflüsse des den Golf umkreisenden Neerstroms immer weiter nach links, also nach Norden, verschoben hat. Derselbe Neerstrom hat auch mit den Sinkstoff"en des Wed Miliana die Nehrung von La Goletta ge- schaffen und so eine innerste Bucht des Golfs als Haff" von demselben abgegliedert. Die Landengen und Hügellage gab Tunis eine gewisse Festigkeit, während es über das Haff" und durch den Durchstich durch die Nehrung, an welchem danach benannt La Goletta (Verkleinerung von gola = die Kehle) ent- stand, Beziehungen zum Meere zu unterhalten vermochte, ohne doch unmittelbar von demselben aus angegriffen werden zu können. Der Boden der Umgebung ist fruchtbar und in allen Rich- tungen wegsam, Bausteine, Mörtel, Ton, enthält der Boden von Tunis, selbst Brunnen von geringer Tiefe, jetzt häufig an Stelle der Ziehbrunnen Windmotoren, liefern allenthalben Wasser, erst eine größere Entwicklung erforderte Herbeiführung besseren Trink- wassers aus den regenverdichtenden und in starken Quellen wieder an die Oberfläche sendenden Kalkgebirgen des Südens, wie im Altertum so in der Neuzeit. Die alte Wasserleitung von Kar- thago ist so im Jahre 1861 wiederhergestellt worden. Sie ver- sieht heute auch die Umgebung, bis nach Karthago und La Go- letta mit Wasser, das in immer größeren Mengen durch Anschluß neuer Quellen, erst zu denen des Zaghuan die des Djebel Dju- kar, neuerdings die des Dj, Bargu 125 km weit herbeigeführt wird. Die von den Arabern Duames-esch-Schiatin genannten großen antiken Zisternen nahe am Meere auf der Stätte von Karthago, die 35000 — 40000 cbm Wasser zu fassen vermögen, sind wiederhergestellt worden und werden durch eine Röhren- leitung von Tunis her gefüllt. Überall längs der Leitungen sind Brunnen eingerichtet, so daß europäische Niederlassungen und jNIeierhöfe entstehen und die Umgebung von Tunis der Haupt- schauplatz europäischer Ansiedelung wird. Bereits sind hier °:. des Bodens in europäischen Händen und erstehen, im Gegen- satz zu den dünngesäeten Ansiedelungen der Eingeborenen, die stets auf Anhöhen liegen, in der vorher menschenleeren Ebene im weiteren Umkreise von Tunis einzelne Meierhöfe und Gruppen von solchen, mehr noch von Sizilianern, wie von Franzosen be- — 442 — wohnt. Selbst der Charakter der Landschaft, die vorher, wo nicht Haine vernachlässigter Ölbäume sich erbalten haben, öde und kahl, im Sommer als sonnenverbrannte Steppe dalag, beginnt sich dadurch, durch die ausgedehnten Weinpflanzungen, durch Pflanzungen von Eukalypten und Fruchtbäumen zu verändern. Doch sind die künstlich berieselten Flächen noch sehr klein, nur Gemüsegärten betriebsamer Sizilianer, da dafür nur das Wasser der Ziehbrunnen zur Verfügung steht. Die große Staubrücke von Bathan am Medscherda, 3 km unterhalb Teburba, die wohl rö- mischen Ursprungs ist und im 17. Jahrhundert durch holländische Baumeister wiederhergestellt worden war, ist ganz in Verfall, wenn man auch noch die Kanäle erkennt, welche das Wasser durch den heute noch 200 000 Stämme zählenden Olivenhain von Teburba leiteten. Wie die Beschaffung von Wasser, so hat die Entwickelung der Verkehrswege nicht nur Tunis selbst neues Leben gebracht, sondern auch der Umgebung weithin. Tunis ist heute bereits ein ansehnlicher Verkehrsknoten. Hier endigt die große atlan- tische Längsbahn, welche immer wieder, sei es wie bei Oran und Algier, durch das Gelände selbst ans Meer gedrängt, sei es durch Sonderlinien mit demselben verbunden, heute nahe der Westgrenze Algeriens bei Tlemcen beginnt, naturnotwendig aber in Zukunft über Udjda, Taza und Fäs nach Mehedia an der Mündung des Sebu in den Ozean weitergeführt werden wird. Auch nach Osten und Süden reicht die Eisenbahnverbindung von Tunis bereits bis in den tunesischen Sahel und kleinere Linien strahlen nach La Goletta, nach La Marsa und nach Bi- serta aus. Selbst elektrische Bahnen führen schon in die Um- gebung. Wohl ebenso wichtig ist die Verbindung mit dem Meere, die der 1893 vollendete Kanal quer durch das Hafi" und die Nehrung etwas südlich von La Goletta ermöglicht hat. Zu 6,5 m Tiefe ist dieser somit nicht den größten Schiff"en zugäng- liche Kanal, in dem höchstens 2 m tiefen, im Laufe der Jahr- hunderte vom Unräte der Großstadt aufgehöhten Haffe aus- gehoben und von Dämmen aus dem ausgebaggerten Schlamme begleitet. Neun Kflometer lang endigt er in dem 1 2 ha großen Hafenbecken von Tunis, das von Staden umschlossen und mit allen erforderlichen Anlagen versehen ist. Diese Schöpfung hat — 443 — etwa 17 Millionen Frcs. gekostet, die natürlich der tunesische Staat aufgebracht hat. Es ist hier mehr als die Hälfte des See- verkehrs von ganz Tunesien vereinigt. Unter diesen Einflüssen hat sich Tunis seit Errichtung des französischen Protektorats außerordentlich entwickelt. Ganz neue, völlig europäische Stadtteile haben sich an die alte arabische Stadt angegliedert, vor allem gegen den Hafen hin, wo alle neuen staatHchen Bauten, der Palast des französischen Residenten, des wahren Herrschers des Landes, die Post, die Banken, die Gasthäuser usw. liegen. Da aber der Baugrund hier schlecht ist und die Ausdünstungen vom See her sich sehr lästig machen, so entstehen europäische Stadtteile und Villen auch nach Westen hin, ja viele europäische Familien wohnen bereits dauernd in Landhäusern der Vororte am Meere, wie La Marsa. Die Be- völkerung von Tunis kann jetzt schon zu 175000 angenommen werden, und von iioooo Europäern, die igoi in Tunesien ge- zählt wurden, wohnten nicht weniger als 68000 allein in Tunis und Umgebung, von 24000 Franzosen 12000, von 72000 Ita- lienern 45000. Diese, bei weitem überwiegend Sizilianer, be- wohnen geschlossene, eigene, rasch wachsende Stadtteile, wie die Juden. Selbst die Seebäder all der kleinen Ortschaften rings um den Golf, die im Sommer wer es nur irgend kann aufsucht, hat jede Nation für sich. Von einer Verschmelzung der Mo-, hammedaner, Juden, Franzosen, Italiener ist zunächst noch keine Rede. Am ehesten dürften sich Juden den Franzosen anähneln, indem sie eifrig Französisch lernen, auch hier unter dem Ein- flüsse der AlUance isra^Ute und der AUiance fran^aise welche beide durch die Schulen eifrig französieren. Vorläufig aber bilden Mohammedaner, Juden und Europäer noch drei völlig getrennte Kulturkreise in der Stadt Tunis. So bunt gemischt in ethnischer Hinsicht auch gerade die ersteren sind, die Religion einigt sie. Tunis und Umgebung hat von jeher weithin anziehend gewirkt, zu Lande wie zur See sind unablässig Bevölkerungselemente, namentlich von Süden her, zugewandert. Dazu nahmen die Mo- hammedaner hier noch mehr wie sonst in den Atlasländern christ- liche Renegaten in sich auf: Italiener, Spanier, Griechen, Tscher- kessen usw., von denen viele bis in die neueste Zeit einflußreiche Stellungen erlangten und eine zahlreiche Verwandtschaft herbei- zogen. Es gab und gibt Familien, wo der Hausherr Italiener, — 444 — die eine Frau Griechin, die zweite Türkin, die dritte unbekannter Herkunft ist, aber alle Mohammedaner sind. Der bekannte Mustapha Kasnadar, einer der einflußreichsten Minister vor der französischen Besetzung, war Grieche, seine Frau die Tochter eines Türken und einer Italienerin. Auch Franzosen und Ita- liener vermischten sich vielfach. Bei den Juden sind solche Mi- schungen unmöglich, aber auch unter ihnen scheiden sich die alteinheimischen von den livornesischen. Die Juden widmen sich in erster Linie dem Handel und Geldgeschäften, daneben aber doch auch dem Handwerke. Es sind z. B. alle Schneider in Tunis Juden, und im jüdischen Viertel gibt es kaum ein Haus, in welchem nicht ein Schneider wohnt. Aber auch Glaser, Klempner, Goldschmiede und dergleichen sind sie. Die Franzö- sierung der Juden beginnt bereits auch in Tunesien die gleiche Wirkung zu zeitigen, die ihre Gleichstellung in Algerien gezeitigt hat: den Antisemitismus, der bei den Mohammedanern, die wirt- schaftlich vielfach auf die Juden angewiesen sind, immer vor- handen gewesen ist, jetzt aber auch die Europäer ergreift. Bei den Juden selbst hat das französische Protektorat eine Vergröße- rung der Gegensätze von reich und arm hervorgerufen. Die topographische Lage von Biserta ähnelt insofern der- jenigen von Tunis, als auch hier ein See eine große Rolle spielt und der werdende maritime Stützpunkt Biserta ebenfalls im In- nern des Landes liegt und nur durch einen Kanal zugänglich ist. Biserta, das alte phönikische Hippo, nachmals nach der Lage an einem natürlichen in ein kleines inneres Meer, dem See von Biserta, bei Griechen und Römern, zum Unterschied von Hippo Regius (Bona) Diarrhytus, Hippo Zaritus genannt, woraus Benzert, Biserta, entstanden ist, hat die Lage, welche alle Mittel- meerküstenstädte der Atlasländer von Biserta bis Tanger kenn- zeichnet: es liegt an und auf Anhöhen an der Westseite eines kleinen flachen Golfes, dessen westlicher Eingang von dem be- kannten Kap Blanco beherrscht wird, das unentwegt als die Nordspitze von Afrika bezeichnet wird, obwohl längst nachge- wiesen ist, daß das etwas weiter nach Westen gelegene, freilich nicht so hohe und daher als Landmarke weniger auffälUge Ras Engeiah zwei Bogenminuten weiter nach Norden reicht. Nur insofern unterscheidet sich Biserta von Bona, Bougie, Algier, Tanger usw., als hier das Innere besser aufgeschlossen ist. Ganz — 445 — ähnlich wie weiter nach Westen bei La Calle und bei Bona küstennahe Seen vorkommen, so liegen zwei Seebecken, über deren Entstehung noch nichts gesagt werden kann, — es dürften mit der Küste gleichzeitig gebildete Einbruchsbecken sein — der See von Biserta und der sich landeinwärts an ihm anschließende, nur durch eine 2 km breite Landenge davon getrennte Ischkel- see. Dieser hat seinen Namen von einem mitten darin auf- ragenden 500 m hohen Kegelberge, dem Djebel Ischkel, der wohl einer der zahlreichen die Bodenplastik von Tunesien kenn- zeichnenden domförmigen Emporfaltungen der obersten Schichten der Erdrinde ist, jedenfalls ein Zeuge bedeutender tektonischer Störungen. Durch den von Süden, von Mateur her einmündenden Wed Chair ist das flache Seebecken hier so weit verlandet, daß der macchienbedeckte Dj. Ischkel nur noch bei höchstem Wasser- stande im Winter ein Inselberg, sonst durch sumpfiges Schwemm- land landfest ist. Da der Ischkelsee im regenreichsten Gebiete von Tunesien liegt — im nahen Krumir- und Mogodgebirge, von dem her er zum Teil gespeist wird, fallen im Mittel etwa i'^l^ m Regen — so hat derselbe dauernden Abfluß durch den Wed Tindja zum See von Biserta und ist süß. Nur selten, bei besonders großer sommerlicher Trockenheit, wenn sich der Spiegel des Ischkelsees durch Verdunstung gesenkt hat, zeigt der Wed Tindja, der überall i — 2 m tief in Schlangenwindungen die dort nur 3 km breite, flache, zum Teil sumpfige Landenge durchzieht, die umgekehrte Strömung und führt Salzwasser aus dem See von Biserta herbei. Der ganze See ist wegen der Fülle von Sink- stoff"en, die ihm die einmündenden Flüsse und Bäche zuführen, in Auffüllung begriffen und hat nur noch bei gelblich - schlam- migem Grunde und fast ringsum flachen, sumpfigen Ufern eine größte Tiefe von 2 — 3 m. Er erstreckt sich heute noch auf etwa 15 km in westöstlicher, halbsoweit in nordsüdlicher Richtung und hat einen Flächeninhalt von etwa 120 qkm. Für den Bi- sertasee ist er als Läuterungsbecken und vielleicht auch für die Fischerei von größter Bedeutung. Auch dieser hat annähernd elliptische Gestalt; die große westöstliche Achse ist 15 km lang, die kleine nordsüdliche nur loYg km. Seine Ufer sind zwar auch überwiegend flach, aber doch bestimmt und in der gleichen nördUchen Richtung, in welcher ihm der Wed Tindja als wirk- licher Fluß die Gewässer des Ischkelsees zuführt, steht er durch — 446 — einen breiten, sich mehrfach ausbuchtenden und erst nahe dem Meere verengenden Arm von 7 km Länge mit dem Meere in Verbindung. Er ist gewiß einmal eine Meeresbucht gewesen, die ganz ähnlich dem Haff von Tunis durch eine sandige, von Dünen besetzte Nehrung vom Meere abgeschnitten worden ist und sich nur eine durch die Küstenversetzung und einen die Bucht um- kreisenden Neerstrom nach Nordwesten an den Fuß der Höhen gedrängte Öffnung, ein Tief, erhalten hat dank dem Drucke der ein regenreiches Gebiet von etwa 2500 qkm Fläche entwässern- den Binnenwasser, die den größten Teil des Jahres sich einen Ausweg zum Meere offen halten mußten. Der See von Biserta ist 150 qkm groß und hat in großer Ausdehnung Tiefen von 9 — 12 m, die also den größten Kriegsschiffen der Gegenwart ge- nügen. Er ist salzig und gibt den größten Teil des Jahres Wasser an das Meer ab, nur während des Sommers strömt ihm Meerwasser zu. Wohl die reichliche Zufuhr von Süßwasser mit reichlichen Nährstoffen von der einen, von Seewasser von der anderen Seite bedingt den ungewöhnlichen Fischreichtum dieses Sees, dessen Ausbeutung von jeher eine wichtige Einnahmequelle des tunesischen Staates gebildet hat. Jetzt sind die Fischereien an die Hafengesellschaft von Biserta verpachtet, die dieselben namentlich mit Hilfe eines großen, am inneren Ende des in den See führenden Kanals angebrachten Gitterwerks, das den ganzen See absperrt und nur einen 50 m breiten durch Versenken zu öffnenden Eingang besitzt, durch welchen die Schiffe in den See gelangen können. Es werden jetzt im Durchschnitt jährlich mehr als 500000 kg Fische gefangen, namentlich wenn dieselben wieder dem offenen Meere zustreben, durchweg die edelsten Speisefische, von denen 100 000 kg teils auf Eis, teils gesalzen oder geräu- chert nach Frankreich eingeführt werden. Am Eingange in diesen See, an der Westseite, auf und an Hügeln, die Bucht und den See beherrschend, liegt mm Biserta. Der höchste dieser Hügel, der Dj. Kebir, der große Berg, hat eine Höhe von 277 m. Diese Hügel laden förmlich zur Be- festigung ein und sind heute sämtlich an Stelle der alten Stein- bauten von gewaltigen neuen Vesten gekrönt, die die ganze Um- gebung nach der Land- wie nach der Seeseite, die Bucht, den Vorhafen, den Kanal, den See beherrschen. Einst einer der Hauptsitze der tunesischen Seeräuber war Biserta vor kurzem — 447 — noch ein verödeter Ort. Der als Hafen dienende Kanal war vom Unräte der Jahrhunderte so verschlammt, daß meist kaum 2 m Wassertiefe vorhanden war. Daß Frankreich schon vor der Besetzung Tunesiens die hohe Bedeutung von Biserta erkannt hatte, unterliegt keinem Zweifel; da das aber auch bei anderen Mächten, besonders England und Italien der Fall war, so war zunächst äußerste Zurückhaltung und Vorsicht geboten und empfahl es sich zu erklären, daß Biserta nicht befestigt werden solle, also genau so wie jetzt Tanger neutralisiert werden soll. Selbstverständlich wird Frankreich^ wenn es erst wirkhch Herr in Marokko sein wird, nach dem bei Biserta und in Tunesien bewährten Muster verfahren und Tanger in einem Augenblicke, wo England nicht in der Lage ist, darum Krieg zu führen, zu einem großen maritimen Waffenplatze aus- gestalten. Mit dem gleichen Geschick, mit welchem die franzö- sische Diplomatie soeben in Marokko die Bahn frei zu machen verstanden hat, hat sie auch in Tunesien in den Jahren i8g6 und 1897 alle vom früherher bestehenden und von ihm bei der Protektoratserklärung ausdrücklich anerkannten mit der Regierung des Bey geschlossenen Verträge, welche seine Freiheit des Han- delns unterbanden, namentlich die sogenannten Kapitulationen, einen nach dem andern unter verhältnismäßig geringen Opfern auf anderen Gebieten zu lösen verstanden. Aber schon ehe diese Fesseln abgeschüttelt und alle Mächte aus Tunesien hinaus- komplimentiert waren, hatten in aller Stille und unter dem Ver- wände, daß es sich um Herstellung eines Handelshafens handle, die großartigen Arbeiten begonnen, welche, schon heute nahezu beendet, Biserta zu einem der größten Seebolhverke der Welt machen werden. Schon iSgo begannen die Arbeiten zur Schaf- fung eines Handelshafens, iSgi wurde der Grundstein zu der Neustadt gelegt, 1895 der Handelshafen für eröffnet erklärt. Aber in demselben Jahre 1895 liefen auch die ersten großen französischen Kriegsschiffe in diesen Handelshafen ein, wenn die Arbeiten, die Biserta zu einem wirklichen Kriegshafen ausgestalten sollten, tatsächlich auch erst 1897 begonnen haben, gleichzeitig mit der Bewilligung von 200 Mill. Frcs. seitens der französischen Volksvertretung zur Vermehrung der Flotte und zur Schaffung von Zufluchtshäfen und Stützpunkten für dieselbe. Da der bis auf i m Tiefe verschlammte, auch noch durch — 448 — eine Barre geschlossene natürliche Kanal als Zugang zum See, der den Kriegshafen bilden sollte, nicht geeignet schien, so wurde beschlossen, denselben zuzuschütten und nur die äußere Hälfte zu erhalten, bis dahin, wo er sich in zwei Arme teilend eine mit Häusern bedeckte Insel bildete. Dieser somit heute dort in zwei Zipfel auslaufende alte Hafen dient, etwas gereinigt und am Eingange mit Molen versehen, den Fischerfahrzeugen und den Küstenfahrern. Statt dessen grub man etwas weiter nach Süd- osten durch die flache Nehrung einen 1500 m langen Kanal, der neuerdings auf 240 m Breite oben, 200 m an der Sohle und 10 m Tiefe gebracht worden ist. Vor dem Eingange wurden zwei gewaltige Steindämme ins Meer hinaus vorgeschoben, von denen der nördlichste jetzt auf 1223, der südöstliche auf 950 m verlängert ist. Der so entstandene Vorhafen ist jetzt nach den Lehren, welche die Vorgänge in Santiago de Cuba, während des spanisch-amerikanischen Krieges geboten haben, wesentlich ver- bessert worden. Man sagte sich nämlich, daß es unmöglich sein werde zu verhindern, daß ein in raschester Fahrt einlaufendes feindUches Schiff bis in die Kanalmündung gelangte und dort versenkt, ähnlich .dem Pfropfen einer Flasche, den Kriegshafen sperren und die darin liegenden Schiffe zur Untätigkeit zwingen werde. Um das unmöglich zu machen, hat man quer vor die Mündung des Vorhafens noch einen 610 m langen Steindamm aufgeschüttet, so daß nun die Einfahrt nur durch einen der beiden 320 und 680 m breiten Eingänge unter mehrfacher Kurs- änderung und in langsamer Fahrt unter wirksamem Feuer aller Forts möglich ist. Übrigens ist auch der Bau eines zweiten Ka- nals bereits ins Auge gefaßt. Der Raum, welcher zwischen dem neuen Kanal und der Altstadt zum Teil durch Zuschüttung des natürlichen Kanals ge- wonnen wurde, wurde mit den aus dem Kanal ausgehobenen Massen aufgehöht und lieferte den Baugrund für die Neustadt. Diese ist ganz regelmäßig angelegt, sie besitzt einen großen öffentlichen Garten; die Staatsbauten, Bahnhof und dergleichen sind zuerst und rasch empor gewachsen. Kohlenlager nehmen das Südufer vor den Gärten des Dorfes Zarzuna ein. Eine 50 m hohe, weithin sichtbare eiserne Brücke, die man über den Kanal hergestellt hatte, ist jetzt aus militärischen Gründen wieder ab- gebrochen und 1903 nach Brest gebracht und dort aufgestellt — 449 — worden. Zwei Dampffähren vermitteln jetzt den Verkehr. Sie sollen später durch einen Tunnel ersetzt werden. Alle Höhen ringsum krönen jetzt bereits Vesten. Der Dj, Kebir ist der Mittelpunkt der Verteidigung und des großen ver- schanzten Lagers von Biserta. Bis zur Vollendung der Kasernen- bauten sind die französischen Truppen noch in Zelten und Ba- racken untergebracht. Die Anlagen des Kriegs- und Handelshafens, welche diese Bollwerke zu decken bestimmt sind, hegen aber weit landeinwärts, auch für die weitesttragenden Geschütze einer auf der Reede liegenden feindlichen Flotte nicht erreichbar. Als Handelshafen ist zunächst die Bucht von Sebra eingerichtet, die erste westliche Ausbuchtung des sich nach innen erweiternden natürlichen Ka- nals, dieselbe liegt 4 km vom Eingange in den Vorhafen und hat Tiefen von g m. Freilich steht dieser Handelshafen vorläufig noch leer. Der Handel von Biserta wächst sehr langsam, na- mentlich weil es an Rückfracht fehlt. Da dies auch aus militä- rischen Gründen insofern bedenklich ist, als damit eine stetige Erneuerung der Kohlenbestände schwierig und kostspielig wird, so ist man darauf bedacht, Bisertas Verbindungen mit dem In- nern zu verbessern und es namentlich zum Ausfuhrhafen der Erzeugnisse des Bergbaues Nordtunesiens zu machen. Doch ist es nicht gelungen, die jetzt in Erschließung begriffenen ungeheuren Phosphatlager des inneren Mitteltunesien bei Kalaat-es-Senam, El Kef beziehungsweise Sbiba mit Biserta zu verbinden und von Tunis, dessen Hafen im Vergleich zu Biserta immer schlecht bleiben wird, und Susa abzulenken. Immerhin ist, abgesehen von der Eisenbahnlinie nach Tunis, eine solche im Bau nach Sidi Ahmet im Gebiet der Nefzas, wo Zinkerze vorkommen, und ebenso eine Linie, die von Mateur nach Pont de Trajan bei Beja am Medscherda führt und somit mit der großen Längsbahn verbindet. Noch weiter landeinwärts an zwei Punkten, räumlich von- einander getrennt, liegen die Anlagen des Kriegshafens. Zu- nächst nahe dem Handelshafen, aber noch nahezu iVg km land- einwärts an einer kleinen jetzt nach dem Admiral Ponty benannten Bucht ebenfalls am Nordwestufer, vor welcher die großen Fahr- zeuge der hier stationierten Flottendivision im freien Fahrwasser in Tiefen von 11 — 12 m zu ankern pflegen, während die Tor- Fischer, Mittelmeerbilder. 29 — 450 — pedoboote in der Bucht selbst liegen, sind Werkstätten, Kasernen und vor allem auf einem hohen Landvorsprunge weithin sichtbar ein zum Sitz des Befehlshabers der Flottendivision von Tunesien bestimmter Prachtbau errichtet worden. Hier sind auch die loo Mann Eingeborene untergebracht, mit denen als Nachkommen der alten gefürchteten Seeräuber der Versuch gemacht wird, den Kern der Baharia, einer eingeborenen Seetruppe, auszubilden. Das eigentliche Arsenal liegt noch etwas weiter landeinwärts an der Südwestecke des Sees, in 7 km Entfernung dem inneren Eingange in den Kanal gegenüber, 15 km vom Meere. Dort ist seit 1899 die kleine Bucht vom Sidi Abdallah durch Bagge- rungen und Dämme zu einem 10 m tiefen Hafenbecken aus- gebaut worden, an welches sich Docks und alle sonstigen An- lagen anschließen. Das größte der Docks ist schon 1903 fertig- gestellt worden. Das Ganze ist durch Mauern abgeschlossen. Munitionsniederlagen, Kohlenvorräte usw. bilden in der Nähe ähnliche von Mauern eingeschlossene Anlagen. Um dieses große Arsenal ist nun in wenigen Jahren eine neue nach dem ver- dienten Staatsmanne Jules Ferry, dem Frankreich Tunesien ver- dankt, benannte Stadt Ferry ville entstanden, die bereits 5000 bunt aus Eingeborenen, Franzosen, Italienern, Maltesern usw. ge- mischte Arbeiterbevölkerung mit einer Unzahl von Kneipen und Tingeltangeln beherbergt. Lediglich französische Arbeiter heran- zuziehen, ist mit allen Mitteln noch nicht gelungen. Eine für die französischen Beamten erbaute Villenstadt schließt sich an. Bis 1908 oder 1909 hofft man alle diese Anlagen, die, sämtlich mit der Eisenbahn . Tunis — Biserta verbunden, bisher 46 Mill. Eres, gekostet haben und an denen ohne Unterbrechung 1000 Mann arbeiten, fertigzustellen und damit Biserta zu einem der größten Seekriegshäfen der Welt zu machen. Genau Toulon gegenüber und, von dem im Entstehen begriffenen Kriegshafen an der einen ausgezeichneten Naturhafen bildenden Bucht von Porto Vechio auf Korsika und Mers el Kebir bei Oran ergänzt, bildet es den Hauptstützpunkt Frankreichs zur Beherrschung des westlichen Mittelmeeres. Vor den vereinsamten Inselfelsen von Malta und Gibraltar, denen alle Vorräte von weither zu Wasser zugeführt werden müssen, hat Biserta vor allem noch ein großes reiches Hinterland voraus. Biserta wird auch Frankreichs Herr- schaft in Nordafrika weiter befestigen und dasselbe in immer — 451 — engere Beziehungen zum Mutterlande bringen. Schon heute ist Biserta eine furchtbare Bedrohung sowohl Englands wie Italiens, welches letzere damit heute von Frankreich im Westen förmlich umklammert wird. Tunis und Biserta, wie sie heute dastehen und in Entwick- lung begriffen sind, sind somit glänzende Leistungen, auf welche Frankreich stolz sein kann. Aber ihnen entsprechen zahlreiche andere durch das ganze Land hin. Vor allem ist der wissen- schaftlichen, allerdings überall zugleich praktische Ziele verfolgen- den Erforschung des Landes zu gedenken, die geradezu be- wundernswert ist. Erstaunlich rasch ist eine topographische Karte des ganzen Landes hergestellt worden, zuerst im Maßstabe von I : 200 000, jetzt aber bereits auf Grund sorgsamerer Neuaufnahme, bei welcher ähnlich wie in Algerien auch der geologische Bau berücksichtigt wird, soweit er das Gelände beeinflußt und für das Verständnis desselben von Wichtigkeit ist, im Maßstab von 1:50000 weit fortgeschritten. Die Küsten sind neu vermessen und ausgelotet, auch die geologische und geographische Er- forschung ist weit fortgeschritten, zahlreiche gut gelegene meteoro- logische Stationen sind seit mehr als einem Jahrzehnt in Wirk- samkeit, die Erforschung der Altertümer hat ganz besonders die Vorstellungen über die Dichte der Bevölkerung und den Kultur- zustand in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, der höchsten Blütezeit Tunesiens, zu klären und festzuhalten ge- sucht, in welcher Weise in dem schon damals regenarmen Lande der Wasserbedarf für Menschen und Tiere, teilweise auch für Berieselungszwecke gedeckt wurde. Es sind so ungezählte größere und kleinere Anlagen zur Sammlung und Aufspeicherung von Wasser nachgewiesen worden, die die Vorstellung erwecken, daß damals kein Tropfen Wasser der Quellen, der Flüsse und der Winterregen unbenutzt ins Meer rann. War Tunesien beim Ein- rücken der Franzosen im Jahre 1881 ein noch völlig unerforschtes und unbekanntes Land, so kann es sich heute bereits den best- erforschten Europas zur Seite stellen. Zieht man nun weiter in Betracht, was an Verkehrswegen, an Hafenbauten, an Wasserversorgung der Städte und gesund- heitlichen Einrichtungen der verschiedensten Art, was zu Hebung des Anbaues, der Gewerbetätigkeit und des Handels, zur Schaffung einer geordneten Verwaltung u. dgl., was für Unterricht usw, ge- 29* — 452 — tan worden ist, freilich alles aus Landesmitteln, nicht etwa aus von Frankreich geleisteten Beisteuern und selbstverständlich auch mit dem Zweck, Frankreich und den Franzosen hier eine neue Quelle des Reichtums und der Macht zu erschließen, so muß man den Stolz, mit welchem Frankreich auf dies Werk schaut oder eine Zeitlang schaute, als völlig berechtigt anerkennen. Man müßte auch annehmen, daß die Eingeborenen für das, was Frankreich ihnen und ihrem Lande geleistet hat, dankbar sind und Frankreich Zuneigung entgegenbringen. Merkwürdigerweise ist aber das Gegenteil der Fall und neuerdings erheben sich immer lautere Stimmen, französische, nicht etwa solche mißgünstiger Fremder, welche den Beweis zu führen suchen und tatsächlich in allen Hauptfragen auch führen, daß das so hochgepriesene System des Protektorats weder Tune- sien noch Frankreich zum Segen gereiche. Da Frankreich sich eben noch anschickt, Marokko die Segnungen des fran- zösischen Protektorats, als eines wahren Steins der Weisen auf dem Gebiete der Kolonialpolitik, zuteil werden zu lassen, so er- scheint es lohnend, diese Stimmen auch hier hören zu lassen. Was zunächst die Stimmung der Eingeborenen anlangt, so fand ich selbst, als ich 1886, also fünf Jahre nach der Besetzung und in einer Zeit, wo von einer Betätigung der Franzosen fast noch nicht die Rede war, das Land bereiste, dieselbe bis auf eine Ausnahme den Franzosen durchaus günstig. Der Gegensatz gegen Algerien war ein auffallender. Die Mißwirtschaft war eben zu ungeheuer gewesen. Aber schon gegen Ende des Jahrhunderts wollten Nichtfranzosen vielfach bereits Franzosenhaß in Tunesien beobachtet haben, und ein Franzose, Lapie, der als Gymnasial- lehrer mehrere Jahre in Tunis verbracht und sich namentlich als ein scharfsinniger Beobachter der Bevölkerung erwiesen hat, be- zeichnete schon 1897 Tunesien zu französieren als eine unlös- bare Aufgabe. Zwar die unteren Schichten der Bevölkerung be- fanden sich wohl, weil die Löhne stiegen und die Arbeitsgelegen- heiten sich mehrten, aber die mittleren Schichten sähen die Quellen ihres bisherigen Wohlstandes versiegen, weil die ein- heimischen Gewerbe unter dem europäischen Wettbewerbe und der Änderung des Geschmackes unter europäischen Einflüssen im Rückgange sind. Am schlimmsten stehe es mit den reichen Familien, deren Reichtum früher mehr auf der Gunst des Bey — 453 — und auf Bestehlen des Staates bzw. auf Willkürhandlungen be- ruhte. Diese verarmen heute, selbst die Glieder der Dynastie sind verschuldet. Sehr viel schlimmer sind die Aufschlüsse, welche 1903 der Volksvertreter Puech, der Tunesien als in vollem Verfalle dar- stellte, in der französischen Kammer gab, und die sich daran anschließenden, überall sorgsam, meist mit den amtlichen Zahlen selbst belegten Ausführungen des Kolonialpolitikers Jaques Bahar im Moniteur des Colonies 1904. Derselbe ist bemüht, die Lage zu schildern, wie sie in Wirklichkeit ist, nicht wie sie die Regie- rung schönfärberisch darstellt. Er spricht geradezu von dem Krach — dies deutsche Wort ist bereits in den französischen Wortschatz aufgenommen — des Protektorats. Bahar stellt zunächst die amtlichen Berichte kritisch beleuch- tend fest, daß von 1891 — 1902 der Ertrag der Steuer auf Ge- treide, Oliven, Datteln und Gartenerzeugnisse, d. h. auf alle wichtigen Erzeugnisse des fast ausschließlich vom Bodenbau leben- den Landes um 1455000 Pres, jährlich gesunken ist, demnach der Gesamtwert der Ernte um etwa 15 Mill. Frcs. Es waren 1901 318000 ha Land weniger angebaut als 1891, also 36 "/q, und dies obwohl seitdem die europäische Kolonisation sehr be- deutende Fortschritte gemacht hat. Ebenso hat sich der Vieh- stand um 357 000 Köpfe vermindert, im Werte von etwa 14 Mill. Frcs., während sich in der Zeit von 1886 — 1891 der Viehstand um 2>^^lo gehoben hatte. Statt vier Köpfe Vieh auf einen Ein- geborenen wie in Algerien, kommen in Tunesien deren heute nur I y2 ^■uf einen Eingeborenen. Dementsprechend gab auch die nur die Eingeborenen betreffende Medjasteuer eine um 1V2 Mill. Frcs. geringeren Ertrag, trotzdem die Zahl der steuer- baren Eingeborenen sehr gewachsen war. Die Ausfuhr, also vorwiegend diejenige landwirtschaftlicher Erzeugnisse, war zwar von 1892 — 1902 um 13V2 Mill. Frcs. ge- stiegen, Aus- und Einfuhr überhaupt von yöVg auf 123^/2 Mill. Frcs. Aber der Wert der neun wichtigsten Erzeugnisse der tune- sischen Landwirtschaft war um I4y2 Mill. gesunken, also um mehr als die Gesamtzunahme, beispielsweise Olivenöl um 5,5, Getreide um 4,7, Trockengemüse um 2,6 Mill. Frcs. Jene Gesamtzunahme der Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse kam vorwiegend (8,2 Mill.) auf Vieh und Häute, aber nicht etwa weil sich die — 454 — Viehzucht so erfreulich entwickelt hatte, sondern auf Kosten des Viehstandes selbst! Man könne also von völligem Verfall der eingeborenen tunesischen Landwirtschaft sprechen, nicht von einem Aufblühen, wie die amtlichen Berichte glauben machen wollen. Eine wirkliche Zunahme der Ausfuhr läßt sich bei den Erzeugnissen des Gewerbefleißes feststellen. Aber auch da müssen übertriebene amtliche Angaben ausgemerzt werden. So bei den stetig wichtiger werdenden Phosphaten 1,3 Mill. Pres. Der Aus- fuhr von Gold und Silber stehe eine größere Einfuhr gegenüber und die Zunahme der Ausfuhr von Erzen um 4,7 Mill. Pres, komme nur den Premden zugute, in deren Besitz der Bergbau sei, wie auch die Zunahme der Erzeugnisse der Pischerei nur Italiener und Griechen bereichere. Es blieben so von der amt- lich für 1902 zu 50,7 Mill. Pres, angegebenen Ausfuhr tatsächlich nur 26^2 M^^l- übrig, so daß gegen 1892 ein Rückgang von bei- nahe 10 Mill. stattgefunden hat. So betrage auch die wirkliche Einfuhr nicht "j;^ Mill., sondern nur ^g^j^ und Aus- und Einfuhr 1902 nicht 123,6 Mill., sondern nur 76,1 Mill,, so daß der Han- del seit 1892 trotz der seitdem um etwa 100 000 Köpfe ge- wachsenen europäischen Bevölkerung keine aufsteigende Bewegung zeige. Bringe man die Bedürfnisse dieser zu etwa 14 Mill. Pres, in Anschlag, so stehen der 76,5 Mill. betragenden Einfuhr von 1892 nur mehr 62,4 Mill. von 1902 gegenüber, also auch da ein Rückgang von 14,1 Mill. Der verminderten Einfuhr im allgemeinen entspricht auch verminderte Einfuhr von Kaffee, Zucker, BaumwoUenwaren u. dgl., ja, es stellt sich heraus, daß bei Berücksichtigung der von Prankreich auf Mehl und Teigwaren, die nach Tunesien eingeführt werden, gezahlte Prämie der Ge- winn Prankreichs am Handel mit Tunesien, der mit 38,8 Mill. zu 5 1 7o in französischen Händen liegt, tatsächlich nur 8 2 1 000 Pres, jährlich beträgt. Die von Prankreich eingeführten scheinbaren Abgaben- erleichterungen bilden mit verschiedenen neu eingeführten Ab- gaben (auf Alkohol, Zucker u. dgl.) tatsächlich eine Vermehrung der Abgaben um iiY^ Mill. Pres. Nur dadurch, nicht wie amt- lieh behauptet wird, durch die normale Steigerung des National- wohlstandes, sind die Staatseinnahmen von 1885 — 1902 von 18 auf 30 Mill. gestiegen. Zieht man jene 1 1 % Mill. ab , so bleibt 18 Mill., die Summe von 1885. — 455 — Fragt man, was mit dem Gelde gemacht wird, so zeigt sich zunächst, daß in den letzten zehn Jahren die Zahl der Beamten vervierfacht worden ist, die zum Teil ganz ungeheuere Gehälter und noch überdies Gratifikationen beziehen und jährlich auf drei Monate Urlaub Anspruch haben. Es sind 18,2 Prozent aller Franzosen Beamte. Ja 1896 waren von 16000 Franzosen in Tunesien 3000 Beamte und 1000 Gendarmen, also 25 Prozent. Also auch Tunesien ist danach echt französisch eine Beamten- kolonie. Große Summen werden nach Bahar zur Stimmungsmache an die Presse ausgeworfen oder bei den öffentlichen Bauten ver- schleudert, ja es wird auf die allerschlimmsten Veruntreuungen hingewiesen. Jeder Kolonist, der sich wirklich ansiedelt, kostet allein an Kolonisationsreklame 2000 Francs. Dann fordert er Anschlußwege und andere Erleichterungen, so daß man noch jährlich im Durchschnitt 3780 Francs auf jeden Kolonisten rech- nen muß. Die französische Regierung hat in der Tat alles nur Denkbare getan, um französische Kolonisten herbeizuziehen, aber sie hat bisher vorwiegend Mißerfolge geerntet. Von 28000 Fran- zosen in Tunesien sind nur 1624 Grundbesitzer mit zusammen 600000 ha Land, aber von diesen sind nur 800 wirkliche Ko- lonisten, das Ergebnis 20 jähriger Kolonisationsarbeit! Die ganze französische Besiedelung von Tunesien ist mehr Geld- und Land- spekulation, denn beispielsweise wird das größte der im franzö- sischen Besitz befindUchen Güter, die viel genannte Enfida (90000 ha) mit Sizilianern besiedelt, wie auch andere Großgrund- besitze im kleinen an Italiener aufgeteilt werden. Zu jenen 600000 ha gehören auch die sogenannten sialinischen Güter in der Umgebung von Sfaks, die als ausgezeichnetes Olivenland, der Hektar zu zehn Francs vorzugsweise an die Freunde des Pro- tektorats abgegeben worden sind, ehemalige Minister, Beamte des Auswärtigen Amtes, bekannte Nationalökonomen und Politiker, also alle keine Kolonisten. Dieselben lassen ihre Besitzungen im kleinen von Eingeborenen bearbeiten. Die etwa 800 wirklichen Kolonisten besitzen nur 50 — 60000 ha. Die sogenannte franzö- sische Kolonisation in Tunesien trägt also ganz feudalen und großkapitalistischen Charakter mit alten gewöhnlich daran haf- tenden Folgeerscheinungen. Diese Großkapitalisten stellen sich nicht nur als Menschen hoch über die Eingeborenen, nein, sie verschaffen sich denselben gegenüber selbst Recht und unter- — 456 — stellen, dank dem Einfluß, den sie auf die höchsten Stellen der französischen Verwaltung ausüben, auch die eingeborenen Be- hörden ihrer Autorität. Häufig hat man so den Eindruck völ- liger Willkürherrschaft. Die Behandlung der Eingeborenen ist vielfach eine derartige, daß sie auch die friedlichste Bevölkerung zu wildem Hasse aufstacheln würde. Was z. B. über den Ver- kauf von Kaid stellen (etwa Landratsstellen) mitgeteilt wird, mutet ganz marokkanisch an. Dies und die fortschreitende Verarmung aller einflußreichen Kreise der Eingeborenen erklärt das rasche Wachsen des Franzosenhasses bei den Eingeborenen. Eine andere Gefahr, die immer deutlicher hervortritt, immer lebhafter erörtert und nur von wenigen Sachkundigen geleugnet wird, ist die mächtig anschwellende Einwanderung und Ansiede- lung von Italienern, besonders Sizilianern, der den Großgrund- besitz in ähnlicher Weise und aus ähnlichen Gründen Vorschub leistet wie bei uns der polnischen. Die Sizilianer kommen teils als Landarbeiter, als Arbeiter bei öff"entlichen Bauten, wohl auch in den Gewerben und im Bergbau, teils als kleine Grundbesitzer nach Tunesien. Nach Grundbesitz streben sie aber alle mehr oder weniger. Man schätzt diese Einwanderung jährlich auf 6500 und Bahar gibt die Gesamtzahl der Italiener, die jedenfalls größer ist, wie die amtlichen Zählungen angeben, zu 130000 an. Bewundernswert mäßig und bedürfnisarm arbeiten diese Sizilianer sozusagen Tag und Nacht um das ersehnte Ziel, einen kleinen Grundbesitz zu erwerben. Aus einigen Brettern und Petroleum- kisten bauen sie sich ein Häuschen, um das sie Reben ziehen und Gemüse pflanzen. Derartige sizilianische Hüttendörfer ent- stehen nicht nur bei Tunis, sondern um fast alle Städte. All- mählich werden die Hütten dann durch bessere Häuser ersetzt. Allen schwierigen Arbeiten, für die Franzosen überhaupt nicht zu haben sind, unterziehen sich diese Leute. Neuerdings haben sich sogar italienische Landgesellschaften gebildet, die Italiener ansiedeln. Aber immerhin ist, was heute an Grundbesitz in ita- lienischen Händen ist, gegenüber dem französischen noch ver- schwindend gering. Der Gegensatz, der bisher zwischen den in Tunesien herr- schenden Zuständen und den anscheinend unheilbar verfahrenen in Algerien bestand, scheint somit von Tag zu Tag geringer zu werden. Kein Kundiger leugnet die furchtbare Schwierigkeit, — 457 — \v eiche die Eingeborenenfrage in Algerien bedeutet. Soeben noch hat ein sonst sehr optimistischer Kolonialpolitiker (P. Malon) auf den stetig wachsenden furchtbaren Haß der 4 Millionen Ein- geborenen hingewiesen, die sich mit ihrer immerhin unter franzö- sischen Einflüssen wachsenden Bildung und Einsicht immer mehr als rechtlos, unterdrückt und ausgebeutet ansehen. Ihre Zahl ist beständig gestiegen, ihr Besitz und Wohlstand gesunken. Die gleichen Abgaben der Eingeborenen, die i8go 18 Mill. Francs abwarfen, gaben 1901 nur noch 13 Milüonen, trotz der gewachse- nen Zahl der Steuerzahler. Mehr und mehr sehen sie ihren Landbesitz in die Hände der Christen übergehen. Der mit Recht außerordentliches Aufsehen erregende Prozeß, der sich an den plötzlich ausbrechenden Aufruhr von Margueritte anschloß, stellte fest, daß mehr als 300 Eingeborene auf Wegen, die allerdings den herrschenden Gesetzen nicht widersprachen, von einem Be- sitz von mehr als 1 100 ha vertrieben wurden, ohne eine andere Entschädigung als kaum drei Francs auf den Kopf! Mit Recht fragt man besorgt, was wohl mit den 500000 über das ganze ungeheuere Ländergebiet verstreuten Europäern werden würde in dem Augenblicke, wo Frankreich seine starke Besatzung aus Al- gerien zurückziehen müßte. Dazu sind aber diese Europäer, abgesehen von dem großen Prozentsatze, den auch die Spanier und Italiener ausmachen, die schon in vielen Gemeinden spanische, in einzelnen italienische Vertretungen gewählt haben, unter sich uneins, von wilden Lei- denschaften zerrissen, alle bemüht, jede Autorität und jeden Träger eines Bruchteils solcher in den Kot zu ziehen, im Ange- sichte dieser heute noch mehr als je- geeinten, von wilder Rach- gier und der Hoffnung, doch einmal das Joch der Christen ab- schütteln zu können beseelten Masse von Eingeborenen. Wie wir es in Tunesien feststellen konnten, daß nicht so sehr das amtliche Frankreich, die Regierung, es ist, welche durch ihre Maßregeln den Haß der Eingeborenen groß gezogen hat, sondern die einzelnen Franzosen im Lande, wenn auch nicht ohne Mitschuld der Regierung, so hat man in Algerien den Ein- druck, daß auch dort, wenn auch unter den unablässig wech- selnden Systemen selbst solche eine Zeitlang herrschend gewesen sind, die auf grundsätzliche Verarmung und Vernichtung der Eingeborenen abzielten, es vorzugsweise die einzelnen Franzosen, — 458 — ganz besonders die Kolonisten es sind, welche, selbst wenn die Regierung den besten Willen hat, den Eingeborenen gerecht zu werden, durch die Behandlung, welche sie diesen zuteil werden lassen, den Haß derselben immer von neuem schüren. So glänzend das Bild auch ist, welches Algerien auf den ersten Blick bietet, so bewundernswert ist, was Frankreich in Tunis, in Biserta und ganz Tunesien in einer so kurzen Spanne Zeit geleistet hat, so darf man doch kaum mehr hoffen, daß diese Länder jemals jener glänzenden Zukunft als ein neues Frankreich jenseits des Mittelmeeres entgegengehen, welche fran- zösische Patrioten erhoffen und welche man nach den unge- heueren Opfern an Geld und Menschen, die das an Geld reiche, an Menschen so arme Land dafür gebracht hat, nach der Energie und den hohen geistigen Fähigkeiten, welche dies hochstehende Kulturvolk denselben hat zugute kommen lassen, zu erwarten berechtigt wäre. Nun vergegenwärtige man sich Marokko, im Vergleich zu welchem allerdings Algerien und Tunesien als arm erscheinen, wenn sie auch heute schon eine fast ganz allein Frank- reich zugute kommende Handelsziffer von 700 Millionen Francs aufweisen, Marokko mit seinen wilden und ausgedehnten Gebirgen und seiner Bevölkerung von mindestens 8 Millionen Eingeborenen, von denen die Mehrzahl niemals fremdes Joch getragen hat! Es gehört ein ungewöhnliches Maß von Wagemut, der allerdings wohl von einem hohen nationalen Bewußtsein eingegeben ist, dazu, sich neben Tunesien und Algerien noch an eine so unge- heuere Aufarabe heranzuwagen. 8. Palmenkultur und Brunnenbohrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara. 0 Es ist eine unleugbare Tatsache, daß die Kolonisation Al- geriens seitens der Franzosen sehr langsam fortgeschritten ist und daß dabei unglaubliche Fehler begangen worden sind, allerdings zum Teil durch Hineinziehen der Kolonie in die politischen Be- wegungen des Mutterlandes. Bis heute ist es eigentlich nicht gelungen, die große Masse der Franzosen für Algerien zu er- I) Erschienen im Globus 1880. Bd. XXXVHI. Nr. 21. — 459 — wärmen, noch weniger eine irgendwie ins Gewicht fallende Aus- wanderung dorthin ins Leben zu rufen. Der Franzose wandert eben nicht aus, am wenigsten der Landmann. Nach fünfzig- jähriger Herrschaft der Franzosen in Algerien sind dort erst wenig über 300000 Europäer angesiedelt, von denen genau die Hälfte keine Franzosen sind, trotz aller denkbaren Vergünstigungen, welche ihnen von der Regierung geboten wurden. Erst seit allerneuester Zeit, seit 1866, namentlich aber seit dem letzten großen Aufstande von 1 8 7 1 , ist man energischer an die Koloni- sation und friedliche Eroberung des Landes gegangen und sind mit derselben gewaltige, die Zukunft sichernde Fortschritte ge- macht worden, erst jetzt kann man mit Sicherheit voraussagen, daß Algerien einmal eine Machtverstärkung Frankreichs sein wird. Kulturarbeiten jeder Art, welche allüberall dringend nötig waren, sind seitdem in größerm Maßstabe vorgenommen worden, es sind Häfen gebaut worden, Eisenbahnen und Straßen, es sind Flüsse geregelt und Sümpfe ausgetrocknet worden. Vor allen Dingen aber sind in den verschiedensten Gegenden des Landes, das sich in drei natürliche nach Boden, Klima und Erzeugnissen scharf unterschiedene Abteilungen gliedert, die mediterrane Ab- dachung, das Teil der Araber, das Hochland und die Algerische Sahara großartige Arbeiten zur Bewässerung weiter Landstriche ausgeführt worden, sei es Bewässerung das ganze Jahr hindurch, sei es in der regenlosen Hälfte des Jahres. Selbst in dem an Niederschlägen noch ziemUch reichen Teil ist künstliche Bewäs- serung hier und da sogar für Getreidebau nötig, auf dem Hoch- lande, das den Charakter der Steppe trägt, ist die Wasserarmut noch größer und ist künstliche Bewässerung nur an wenigen Punkten möglich, es wird immer im wesentlichen nur Haifagras hervorbringen oder als Weideland dienen. Die Algerische Sa- hara dagegen bringt nur im Winter und bis in den Frühling hinein, wo es am südlichen Abfall des Hochlandes noch etwas regnet, dürftige Vegetation hervor, intensivere Ausnutzung des Bo- dens ist dort völlig an natürliche oder künstliche Brunnen und damit mögliche Bewässerung gebunden. Dort hängt alles davon ab, ob die Brunnen unterhalten werden, Ausdehnung der bebauten Fläche und damit Zunahme der Bevölkerung und wachsender Wohlstand derselben ist nur möglich durch Vermehrung des ver- fügbaren Wasservorrats. Dort kann man sich die Herzen der — 4^0 — Eingeborenen erobern durch Erschließung neuer Wasservorräte, dort schreitet in der Tat die Eroberung wirksamer vorwärts, wenn sie mit dem Brunnenbohrer unternommen wird, als mit dem Schwert in der Hand, Man baut nun wohl auch in diesen be- wässerbaren Strichen des Wüstengebiets, den Oasen, Getreide und Gemüse, man zieht auch südliche Fruchtbäume, Orangen, Feigen, Aprikosen und dergleichen, aber all dies nur in geringer Ausdehnung und zum Teil nur unter dem Schutze, welchen das säuselnde Dach der Kronen edler Dattelpalmen gegen die sengen- den Strahlen der Sonne gewährt. Die Dattelpalme ist das wich- tigste Erzeugnis der Oasen, von ihr allein hängt die Existenz der Oasenbewohner ab, neben ihr fällt selbst der Ertrag der Viehzucht der wandernden Stämme wenig ins Gewicht, Das Vorhanden- sein unterirdischer Wasservorräte und deren Erschließung ist daher identisch mit der Kultur der Dattelpalme und deren Ausdehnung. Von oberirdisch fließenden Gewässern ist in der Algerischen Sa- hara kaum die Rede, nur nach heftigen Regengüssen im Winter und Frühling füllen sich die Wasserbecken vorübergehend , und selbst die zahlreichen größeren und kleineren Salzwasserpfannen, die Schotts, vertrocknen im Sommer fast völlig. In der Tiefe ist aber an sehr vielen Punkten das ganze Jahr Wasser zum Teil in ungeheuren Mengen vorhanden, auch außerhalb der meist trockenen Flußbetten. Diese unterirdischen Wasservorräte sind natürlich atmosphä- rischen Ursprungs, es sind die Wassermengen, welche in den vorhergehenden Wintern und Frühlingen zum geringern Teil an dem Orte selbst, zum größern an der saharischen Abdachung des Atlassystems oder auch auf dem noch von keinem Europäer betretenen Hochlande von Ahaggar und seiner Umgebung mitten in der Sahara gefallen sind. Diese Regenwasser werden von dem lockern Sandboden rasch aufgesogen oder fließen dort, wo nackter Felsboden ansteht, rasch ab und sammeln sich in den Wasserbetten, wo sie bald in die Tiefe hinabsinken und, von den darüber gelagerten Sandmassen gegen Verdunstung geschützt, unterirdisch auf einer undurchlässigen (meist tonigen) Bodenschicht der Neigung derselben folgend weiterfließen. Je tiefer nun diese Bodenschicht liegt, die zu durchstoßen und damit dem Wasser einen Abfluß in noch größere Tiefen zu öffnen man sich wohl hüten muß. in um so größerer Tiefe ist Wasser zu finden, je — 4^1 — näher sie der Oberfläche liegt, in um so geringerer. In vielen Gegenden kann man die sanfte Neigung derselben genau nach den Tiefen berechnen, in welchen man Wasser findet. Nicht selten treten die unterirdischen Wasser ganz zutage als natürliche Brunnen oder kleine Seen, namentlich in den Betten der Wadis, wenn festes Gestein gangförmig dieselben quer durchsetzt und dadurch das Wasser aufstaut und emporzusteigen zwingt. Wie weit auf diese Weise die unterirdischen Ströme fließen und wie rasch, wo sie sich in unter- oder oberirdischen Becken sammeln, das hängt von dem Relief des Landes ab. Während z. B. im Departement Oran entsprechend der sanften Abdachung des Hochlandes gegen die Sahara hin die Grundwasser sich weit vom Gebirge entfernen, ohne daß sich ein größeres unterirdisches Stromsystem bilden kann, infolge wovon dort sich nur wenige kleine Oasen unmittelbar am Gebirge finden, sammeln sich die weiter östlich fallenden Meteorwasser in der tiefen Einsenkung, welche sich wie ein Graben vor dem Festungswalle des Atlas- hochlandes nach Osten bis nahe an die innerste Einbuchtung der Kleinen Syrte zieht. Und zu ihnen kommen noch weit von Süden her die jedenfalls geringen Reste der Niederschlagsmengen der Hochländer der Innern Sahara, welche in dem breiten Wadi Igharghar und dem Wadi Mia bis nahe an den Wall des Atlas gegen 8oo km weit fließen. So ist denn jener Graben, in welchem sich von zwei Seiten die Gewässer sammeln, von einer Reihe salziger Wasserbecken ausgefüllt, die auch im Sommer nicht ganz verdunsten. Es sind dies die großen Schotts, deren Boden, zum Teil auch ihr Spiegel, unter dem Meeresniveau liegt, eine Tatsache, welche den bekannten Plan wachgerufen hat durch einen Kanal bei Gabes das Wasser des Mittelmeeres in diese Depression zu lenken und ein inner-algerisches Meer zu schaff'en. Ist nun auch kaum zu erwarten, daß dieser Plan, dessen Nutzen Unbefangene selbst unter den Franzosen schwer einsehen wollen, jemals ausgeführt werden wird, so hat derselbe doch zu einer sorgfältigen Erforschung jener so lange unbekannt gebliebenen Gegenden geführt, was die geographische Wissenschaft mit ebenso großem Danke aufnimmt, wie die eben jetzt von den Franzosen mit großem Eifer betriebenen für lange Zeit kaum weniger aus- sichtsvollen Forschungen in der Sahara behufs Anlegung einer Eisenbahn von Algerien nach dem Senegal, dem Niger, dem — 4^2 — Tschadsee und womöglich noch einige Stationen weiter. Wir finden daher in der nähern wie in der femern Umgebung dieser Schotts überall große unterirdische Wasservorräte und infolge- dessen zahlreiche Palmenoasen und Oasengruppen. Im kleinen wiederholt sich das auch auf dem Kochlande, wenigstens dem Teile, welcher die geringste Meereshöhe hat, dem Hodnabecken. Die wichtigsten dieser Oasengruppen sind die der Ziban, des Wad Rirh, des Wad Suf und weiter ab die der Beni Mzab (auf tunesischem Gebiet die des Belad-el-Dscherid , des Dattel- landes im engern Sinne, und die von Nefzaua). In größerer oder geringerer Entfernung voneinander, durch vegetationslose oder vegetationsarme, aus Sand oder festem Gestein bestehende Strecken voneinander getrennt. Hegen die grünen Datteloasen in der gelblichen Wüste, den Flecken auf dem Fell eines Panthers gleich, um uns eines treffenden Ausdrucks Strabons zu bedienen. Namentlich lebhaft empfängt man diesen Eindruck, wenn man vom Hochlande durch einen der wenigen schwierigen Pässe, etwa die Schlucht von Alkantara, herabsteigt und nachdem man die große Palmenoase von Alkantara hinter sich gelassen, vom Col de Sfa die von Biskra und andere der Oasen der Ziban als dunkle Flecken auf dem hellen Grunde der licht- übergossenen Wüste vor uns liegen. Der unvermittelte Gegen- satz zwischen der nackten Wüste und dem Palmenwalde, auf dessen Grunde Weizen, Gerste, Baumwolle oder Luzerne einen grünen Teppich bildet, ist ein wunderbarer; die Sonnen- strahlen, welche das grüngelbe Fiederdach durchdringen und den niederen Gewächsen noch hinreichend Licht und Wärme bringen, verleihen dem Palmenhaine den Charakter des Warmen, des Sonnigen; an seinem Saume lagert sich der ermüdete sonnen- verbrannte Wüstenreisende, aber nur das geheimnisvolle Rauschen der beständig auch vom leisesten Luftzuge bewegten langen Fiederblätter erinnert ihn an seinen heimischen Tannenwald, die erquickende Kühle fehlt in der Algerischen Sahara wenigstens immer, wenn auch nicht in den dichteren, überreich bewässerten Oasen des arabischen Oman. Auch nicht wie eine Mauer tritt der Palmenhain dem Nahenden entgegen, die schlanken Stämme stehen weit auseinander, tief dringt das Auge in ihn ein, erst im Hintergrunde bildet sich eine geschlossene Wand, In der Algerischen Sahara sind die Oasen meist von Mauern aus ge- — 463 — stampftem Lehm, zum Teil des Schutzes, zum Teil der Be- wässerung wegen, umschlossen bzw. durchzogen, so daß die Ver- teidigung einer solchen Oase sehr erleichtert wird, selbst gegen überlegene europäische Waffen, wie dies die Franzosen z. B. 184g bei der Eroberung der Zibanoase Saatscha erfahren haben. Eigentümlich, von allen anderen Oasen abweichend ist die Palmenkultur im Wad Suf. Dort werden die Palmen auf dem Grunde eines einem umgekehrten Kegel ähnlichen etwa 8 m tiefen Loches gepflanzt, rings von Sanddünen umgeben, welche man durch Pallisaden aus Palmblättern auf ihrem Kamme fest macht. Diese Vertiefungen, deren Anlage und Verteidigung gegen den sie beständig mit Sand überschüttenden Wind viel Mühe kostet, werden Ritan genannt. Sie reichen bis nahe an die Wasser führende Bodenschicht, in welche die Palmen ge- pflanzt werden. Senkt sich das Grundwasser, so daß die Wur- zeln dasselbe nicht mehr erreichen und die Palme zu verkümmern beginnt, so wird dieselbe mit Stricken an die nächsten derartig festgebunden, daß sie nicht umfallen kann, die Bodenschicht unter den Wurzeln wird entfernt und der Baum somit in eine tiefere Schicht gebracht, wo er das Grundwasser wieder erreicht. In diesen Trichtern nimmt die zugleich mit Kamelmist gedüngte Dattelpalme eine ganz abweichende Gestalt an, sie ist nicht schlank wie anderwärts, sondern hat einen kurzen, starken, oft meterdicken Stamm, der am unteren Ende noch mehr verdickt nur wenige Meter hoch wird, ähnlich den massigen Säulen ägyp- tischer Tempel, und eine mächtige Krone mit 5 m langen Blättern hat. Gegen Wind geschützt und durch Rückstrahlung von den geneigten Sand wänden um so intensiverer Hitze ausgesetzt, reifen hier die herrlichsten Datteln, fleischig, ölig und außerordentlich zuckerhaltig. Zugleich wird in diesen Trichtern unter künstlicher Bewässerung aus 6 m tiefen Brunnen Gemüse gebaut, das einzige Erzeugnis dieser Oasen neben den Datteln, die also hier alles sind. Diese Art der Palmenkultur dürfte aber außer im kleinen in der tunesischen Oase El Getar nirgends wiederkehren, da sie aus den örtlichen Verhältnissen hervorgegangen ist und wahr- scheinlich diese Form angenommen hat dadurch, daß die Dünen gegen die ursprünglich auf der Oberfläche gepflanzten Palmen vorrückten und dieselben, wie man es ja auch anderwärts in ver- nachlässigten Oasen beobachten kann, zu verschütten drohten. — 4^4 — Dies verhinderten die Bewohner, indem sie rings um den Stamm den Sand entfernten, woraus sich dann dieses Trichtersystem ent- wickelt hat. In den Zibanoasen ist jeder der regelmäßig gepflanzten und frei von Wurzelschößlingen wie von trockenen Blättern gehaltenen Bäume von einem runden kleinen Becken umgeben, das mit dem nächsten durch einen Kanal in Verbindung steht, so daß sämt- liche Palmen bewässert werden können. Das Wasser wird selte- ner durch Menschenhände, meist durch Kamele oder Esel ver- mittelst meist sehr primitiver Schöpfwerke aus den oft sehr tiefen Brunnen in Sammelbecken gehoben, aus welchen es dann in die einzelnen Kanäle verteilt wird. Gewöhnlich werden die Palmen das ganze Jahr bewässert, am meisten aber im Frühling vor der Blüte und im Sommer vor dem Reifen der Früchte; man hat auch beobachtet, daß die am häufigsten bewässerten am frühesten blühen. Auf loo cbm berechnet man den Wasserbedarf einer Palme im Sommer. Ob das Wasser aber süß oder brackig ist, ist nicht von Bedeutung, ja es scheint fast, daß der Baum, wenn er mit Brackwasser bewässert wird, bessere Früchte liefert. Die herrlichen Palmen des Wad Rirh werden mit einem Wasser be- wässert, das bei einer mittleren Temperatur von 24*^ C, etwas mehr als die mittlere Jahrestemperatur der Luft, auf i 1 i — 3 g schwefelsaures Natron, i — 2 g schwefelsauren Kalk, ferner etwas Chlornatrium, Chlormagnesium und kohlensauren Kalk enthält, also notwendig als Trinkwasser abführend wirken muß. Jeden- falls sind die auf besonders fettem Boden auf mit schlammigem Nilwasser bewässerten Bäumen gewachsenen Datteln Ägyptens weniger gut als die der Oasen, obwohl die Bäume selbst sehr viel schöner sind. Selbst Bewässerung mit warmem Brackwasser wie in der Zibanoase Chetma schadet nicht. Wie das Wasser- bedürfnis, so ist auch das Wärmebedürfnis der Dattelpalme sehr groß, wenigstens in der Zeit zwischen der Blüte und der Reife der Frucht. Man hat berechnet, daß eine Wärmesurarae von 5100^ C nötig ist in den acht Monaten von Ende März bis An- fang November, damit sie ihre Früchte vollkommen reife, und nur Temperaturen über 18° C kommen dem Baume zu statten. Bei geringerer Wärme erreichen die Früchte geringere Fülle, sind herber und haben geringeren Gehalt an Stärkemehl und Zucker, ihr Nährwert ist also ein geringerer. Wichtig ist dabei. — 465 — daß die Luft einen hohen Grad von Trockenheit hat, wie er der Wüstenluft eigen ist, es ist daher erwünscht, wenn es wäh- rend dieser acht Monate nicht regnet. Allerdings gerät der Weizen besser, wenn es im April und Oktober regnet, aber man zieht es vor, daß es nicht regnet, weil die Datteln dann um so besser gedeihen, und man gegen Datteln Getreide aus dem Teil beziehen kann. Denn während eine gute Dattel- emte alle Bedürfnisse der Oasenbewohner für das ganze Jahr zu decken vermag, vermag das auch die beste Getreide- ernte nicht für sechs Monate. Namentlich sind Regen im Sep- tember sehr unerwünscht, weil sie die Datteln faulen machen. Man hat sogar beobachtet, daß einzelne Täler der saharischen Abdachung des Hochlandes in sehr viel beträchtlicherer Meeres- höhe vortreffliche Datteln hervorbringen, wenn sie sich nach Süden öffnen und den trockenen, heißen Wüstenwinden direkten Zugang gewähren, als andere tiefer gelegene, aber gegen die Wüste abgeschlossene. Die Dattelkultur im Hodnabecken bei Bu Saada ist eben darauf zurückzuführen, daß dort die Gebirgs- kette, welche von der Sahara scheidet, sich bedeutend senkt, so daß die Wüste ihren Einfluß geltend machen kann. Dieser Mangel an genügender Lufttrockenheit ist es, welcher am alge- rischen Mittelmeerufer wohl die Dattelpalme gedeihen, aber keine süßen, völlig reifen Früchte hervorbringen läßt, nicht die Winter- kälte, denn die Palme erträgt ohne Schaden mehrere Grad unter Null, wenn diese Kälte nicht anhält und in die Blütezeit fällt. Nicht selten hat man in den algerischen Oasen die Kronen der Palmen unter einer Last von Schnee zu Boden gebeugt gesehen, was am Mittelmeerufer nie oder höchst selten vorkommen dürfte. Aus demselben Grunde gedeiht die Dattelpalme jenseit der Sahara nicht mehr, denn auch dort ist namentlich zur Zeit der Fruchtreife mitten in der tropischen Regenzeit die Luft sehr feucht und die Datteln faulen oder werden nicht reif und schmack- haft. Mit Recht sagt daher der Araber in seiner blumenreichen Sprache, dieser König der Oasen taucht seine Füße in Wasser, sein Haupt in das Feuer des Himmels, Infolge der beständigen Bewässerung im heißen Sommer ist aber der Aufenthalt in den meisten Oasen im Sommer gefährlich, die Bewohner werden dann gewöhnlich vom Fieber befallen. Da die algerischen Palmenoasen an der Polargrenze der Fischer, Mittelmeerbilder. 30 — 466 — Dattelpalme als Fruchtbaum liegen, die den 35. Grad nördlicher Breite nicht überschreitet, so liegen sie alle in geringer Meeres- höhe, 60 — 150 m, höher, 300 — 500 m, die der Beni Mzab. Nur einzelne kleinere Oasen liegen im besondem Schutz der Berge in sehr viel größeren Meereshöhen, die von El Abiod sogar in 861 m Höhe, und bei Sidi Makhluf findet noch Dattel- palmenkultur bei 920 m statt, Höhen, in denen sie sonst nur viel weiter südlich im inneren Arabien und in Beludschistan möglich ist. Weniger wichtig ist die Bodenbeschaffenheit. Die Dattel- palme gedeiht in den Zibanoasen auf kalkigem und gipsigem Ton- und Sandboden gleich gut und trägt gleich gute Früchte, mag derselbe mit Salz imprägniert sein oder nicht. Doch zieht dieselbe einen lockeren , neu gebildeten sandigen Boden vor, ja man hat Dattelpalmen vortreiflich gedeihen sehen auf einem Bo- den, der bis 80 Prozent aus Kieselsand, 13 Prozent aus schwefel- saurem, 7 Prozent aus kohlensaurem Kalk bestand. Die Fort- pflanzung geschieht fast überall durch junge Schößlinge, die sich am unteren Stammende der Palmen anzusetzen pflegen, da man auf diese Weise am sichersten die Varietät fortzupflanzen und am frühesten Früchte zu erzielen vermag. Schon nach fünf Jahren pflegen diese Bäume Früchte zu geben, in bedeutenderer Menge freilich erst in 10 bis 15 Jahren, und zu vollem Ertrage gelangen sie erst nach zirka 30 Jahren; im allgemeinen tritt erst nach 8 Jahren Besteuerung ein. Die Fortpflanzung durch Kerne gibt meist weniger gute Varietäten und später tragfähige Bäume, sie setzt auch der Gefahr aus, daß man jahrelang männliche Palmen in größerer Zahl pflegt, als zur künstlichen Befruchtung der weiblichen nötig ist. Der Baum wächst langsam, erreicht aber eine Höhe von 15 bis 25 m; er trägt 60 bis 70 Jahre, selten aber läßt man ihn älter werden als 80 Jahre, obwohl er 200 Jahre alt werden kann. Die künstliche Befruchtung wird zur Zeit der Blüte im April seit den ältesten Zeiten in gleicher Weise vor- genommen wie noch heute, indem man Teile der sich früher ent- wickelnden männlichen Blüte in die künstlich geöffnete Blumen- scheide der weiblichen Blütentraube hineinsteckt, so daß die Bestaubung eintritt. Überläßt man die Befruchtung der Natur, der Bewegung der Luft, so ist dieselbe unvollkommener und die Datteln werden weniger gut, wie sich dies namentlich bei Kairo - 467 - während der Bonaparteschen Expedition auffallend zeigte, wo infolge des Krieges die Befruchtung nicht hatte ausgeführt werden können und infolgedessen auch die Dattelernte fast völlig miß- riet. Wie bei allen Kulturbäumen, so unterscheidet man auch bei den Palmen nach den Früchten zahlreiche Varietäten, in den Zibanoasen nicht weniger als 75. Die Dattelernte findet in der Algerischen Sahara gewöhnlich im Oktober und November statt und ein vollentwickelter Baum gibt bis 150 Kilo Datteln. Auf einen Hektar Land, der ungefähr 100 Dattelpalmen enthält, rechnet man im Mittel 5000 bis 7000 Kilo Datteln, welche an Ort und Stelle einen Wert von 1500 Francs und mehr haben. Einzelne Bäume haben einen Ertrag von 30, 40, auch 50 Francs. Wie fast überall, so werden auch in Algerien die einzelnen Bäume besteuert, je nach Lage und Güte der Früchte mit 50 Centimes bis 1 Franc jährlich. Die algerischen Datteln werden meist im Lande selbst aufgezehrt, nur ein kleiner Teil, nament- lich von altersher die des Wad Suf, geht über Tunesien und als tunesische Ware nach Europa, von denen die sogenannten Königs- datteln vorzugsweise nach Berlin ausgeführt werden. Im Früh- jahr und im Herbst rufen die Datteln einen lebhaften Binnen- handel hervor, indem im Juni, zur Zeit der W^eizenernte im Teil, Karawanen aus den Saharaoasen Datteln bringen und gegen das doppelte Quantum Weizen umtauschen, während umgekehrt sechs Monate später im November in den Oasen Datteln den halben Wert des Weizens haben. Sorgfältig getrocknete Datteln kann man lange aufbewahren, namentlich die höheren Varietäten, unter denen in den Zibanoasen die Lichtdattel (Deglet Nur) die ge- suchteste ist, während die sogenannte Kameeltreiberdattel (Deglet bu Sehkraja) besonders als Proviant für Wüstenreisen dient. Die weichen Datteln kann man nur in Schläuchen imd Gefäßen auf- bewahren, wo man sie preßt und möglichst vor Luftzutritt schützt, um Schimmel und Gährung zu verhindern. Ein großer Teil der Dattelemte wird frisch gegessen; aus- gepreßt geben sie einen Sirup und aus den getrockneten kann man eine Art Mehl und daraus einen Teig bereiten, in der ver- schiedensten Weise kann man sie zu allen Speisen verwenden. Beim Trocknen fließt Dattelhonig ab und destilliert geben sie einen freilich sehr teuren Alkohol. Die Krone und die zarten Herzblätter geben den sogenannten kastanienähnlich schmeckenden 30* — 468 — Palmenkohl, den man natürlich nur von ohnedies absterbenden, etwa umgestürzten Bäumen gewinnt. Alle Teile der Dattelpalme werden von dem Oasenbewohner, der sonst kein Holz und keine Faser weiter zur Verfügung hat, benutzt. Das faserige Holz ist sehr widerstandsfähig, ja einzelne Varietäten nehmen Politur an. Das Holz brennt langsam mit geringer Flamme, aber großer Wärmeentwickelung. Die Fieder- blätter und Fasern werden in verschiedenster Weise benutzt. Die Kerne dienen sogar noch als Kameelfutter. Namentlich wird auch aus dem zuckerigen Saft des Baumes, der bald in Gährung übergeht, eine Art Wein gewonnen. In den Oasen des Wad Rirh hat man ein eigentümliches Verfahren, aus der Krone große Mengen Wein zu gewinnen, ohne daß der Baum daran zugrunde geht. Der Baum genügt somit fast allein Bedürfnissen des Wüsten- bewohners, nur ein wenig Brod und noch weniger Fleisch ver- vollständigt seine Nahrung, die überwiegend aus Dattebi, aber doch nur ausnahmsweise monatelang nur aus Datteln besteht. Und da die Dattelpalme nicht allein gedeiht, wo keine andere Pflanze fortkommt, in reinem Sande und von brackigem Wasser bewässert, sondern auch erst den Anbau anderer möglich macht, so ist an ihre Pflege das größte Interesse des Oasenbewohners geknüpft. Die Zahl der Dattelpalmen vermehren heißt daher die Be- wohnbarkeit der Wüste steigern. Ersteres kann aber nur durch Eröff'nung neuer Brunnen geschehen. In den Oasen der Ziban war dies an vielen Punkten keine schwierige Aufgabe. Dort gibt es artesische Brunnen, welche nur i'^j^ bis 2 m tief sind. Sie durchbohren eine Schicht gipsigen Gesteins und eine nur wenige Zentimeter mächtige Kalksteinschicht, unter welcher sich Wasser in einer Schicht tonigen Sandes findet. In der Oase von Ain- ben-chelil in der Provinz Oran findet sich Wasser ganz nahe der (Jberfläche unter einer ganz dünnen Kalksteinschicht. Sehr viel tiefer liegt die Wasser führende Schicht im Wad Rirh, im Mittel 60 bis 80 m tief, ebenfalls bedeckt von einer dünnen Kalkstein- schicht. Dort haben seit den ältesten Zeiten die Eingeborenen artesische Brunnen gegraben, freilich unter unsäglicher Mühe und Gefahr, da es ihnen durchaus an Hilfsmitteln fehlte. Dort war es aber auch, wo zuerst die Idee an die Franzosen herantrat, mit den Hilfsmitteln europäischer Technik einzugreifen. Nach — 4*9 — dem Verfahren der Eingeborenen wurden die Brunnen m ihrem obLn Teil mit Palmstämmen ausgelegt, sobald aber *e wasser- r^rende Schicht erreicht war, konnte die Arbeit nur noch durch Tarcher, wo.u man Neger verwendete, f g",-;'^' l"^™ '/ : nur sehr «Geringe Sandmengen bei dem jedesmahgen Tauchen zu en fernen vermochten, so daß die Arbeit sehr langsam vorruckte of Verschattungen vorkamen und Wiederherstellung verfallener Brunnen fas" unmöglich war. Vor der französischen Okkupat.on w™ sehr viele Brunnen versandet und die Oasen sehr zuruck- ZtlL hier konnte also großer Segen gestiftet werden. In- feressant ist besonders die Entdeckung, daß in den Brunnen bei Tuggurt vorkommt. .^^^^ Die ersten Bohrungen begannen im Wad K.rB J ,8.6 namentlich auf Betreiben des General Desvaux. Der Ein d'f,: Wichen die im Vergleich zu ihrem Verfahren so leicht o r'tergewaltigen Wassermassen auf die angeborenen machte ■ war ein tiefer. Bei nicht wenigen Brunnen war "er Druck ^e Wassermassen so groß, daß sie überströmten, -bj^ ^^.f ^^'„\ Schicht durchbohrt war, einzelne wallten sogar font^'"™'''"» '"' Da Wasser ist meist trinkbar, zuweilen aber stark brad^ig zn Bewässerung der Dattelpalme aber -ts geei^e^- Z-ilen^^^^ reichte man schon bei 29 m Tiefe Wasser emrad j erst bei ^14 m, im Mittel jedoch bei 50 bis 150 m. Em Brun ■• rji "=- .r.ir.£ es-:'" •= jedoch 4800. Macn aem Departement Con- Ingenieurs Jus waren von 1856 bis i»79 ™ 1' stantine allein 447 Bohrungen vorgenommen worden davon ^ehr viele auf Kosten der Bewohner, von einer T-e^J- '» »^^^^ ,0 km, welche 153758 Liter Wasser 'V^^^^ ^ ""'%'^t^e — 470 — den anderen Departements. Am erfolgreichsten sind die Boh- rungen im Wad Rirh, so daß diese Oasengruppe seit dem Jahre 1856 sich ganz außerordentlich gehoben hat und als ein Bei- spiel gelten kann, welch hoher Entwickelung selbst das Wüsten- gebiet Algeriens noch fähig ist. Dieselbe zählte 1856 in 31 Oasen 25 von 6772 Menschen bewohnte Orte, 359300 Palmen und 40000 andere P>uchtbäume bewässert von 282 artesischen Brunnen und 21 natürlichen Quellen, welche zusammen 52767 Liter Wasser in der Minute gaben. Es kam so 0,146 Liter auf jede Dattelpalme in der Minute. Man schätzte den Wert der Bäume und der Brunnen auf 1654000 Francs. Im Jahre 187g war die Zahl der Oasen auf 37, die der bewohnten Orte auf 26, die der Bewohner auf 12827, die der Dattelpalmen auf 517563 und der übrigen Fruchtbäume auf 90000 gestiegen, Bewässert werden diese Anlagen von 434 von den Eingeborenen, 59 von den Franzosen angelegten artesischen Brunnen und 16 natüriichen Quellen, welche 164078 Liter in der Minute geben, so daß auf eine Dattelpalme jetzt 0,317 Liter in der Minute kommt. Die 59 artesischen Brunnen der Franzosen geben aber allein 99830 Liter. Der Wert der Dattelpalmen wird jetzt auf 4 127 Ol 8, der der ganzen Oase auf 5505018 Francs geschätzt. Vollen Ertrag geben 430 500 Dattelpalmen, was, wenn mau jeden Baum nur zu 15 Kilo rechnet, 6457500 Kilo gibt, in vier Jahren, wenn die jungen Pflanzungen tragen werden, werden es 7700000 Kilo sein. Dazu kommt noch die ebenfalls fortgeschrittene Ge- treidekultur. Wir sehen also, daß sich in 23 Jahren, allerdings mit unter dem Einfluß der friedlicheren Verhältnisse, wesentlich aber durch Vermehrung und Sicherung der vorhandenen Wasservorräte, die Einwohnerzahl der Oasengruppe, welche der Verarmung und Ver- ödung verfallen schien, verdoppelt, der Wert der Palmenpflan- zungen, obwohl die Zahl der tragfähigen Bäume sich nur um 60000 vermehrt hat, sowie der Brunnen sich mehr als verdrei- facht hat. Der Wohlstand der Bewohner ist demnach bedeutend gestiegen. Wir sehen aber zugleich auch, wie viel ergiebiger die von den Franzosen gebohrten Brunnen sind. Die Gesamtzahl der ertragsfähigen Dattelpalmen im östlichen Teil der Algerischen Sahara schätzt man auf i 700000, ihren Ertrag auf 400000 Zentner Datteln im Jahr. Dazu kommen noch — 471 — die im westlichen Teil, welche sich noch einer genauen Schätzung entziehen, sowie die jungen Pflanzungen. Trotz der bedeutenden EntWickelung, welche die Palmenkultur in dieser kurzen Zeit allein im Wad Rirh genommen hat, ist dieselbe selbst dort noch lan-e nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt, denn allein die Boh- rungen der Kampagne 1878 bis 1879 haben Wasservorräte für weitere 30000 zu pflanzende Palmen geliefert. Ahnlich, wenn auch weniger rasch, entwickeln sich die übrigen Oasen, und die Vollendung der Verkehrswege wird ihren Datteln besseren Ab- satz und höheren Wert verleihen. Namen- und Sachregister. Abda 371 Abd-er-Rahmän Giami 72 Abgeschlossenheit der Iberischen Halbinsel 237 Abruzzen 159, 163 Abulfeda 75 Ackerbau von Italien 170, von Sizi- lien 192, von Tunesien 430 Adana 116 Adel Siziliens 190 Adrianopel 47 Adschlun 118, 137 Ägypten 61, 65 Agades 384 Ai'n-ben-Chelil 468 Ain Draham 420 Ain Dcshidi 116, 118, 152 Ain el Hadschar 350 Ain el Hammam 310 Ai'n-es-Sara 114, 152 Air 385 Ajaccio 219, 229 Aldos Dagh 6 Akabah 81, 107 Akka 87, lOi, 145 Albanergebirge 172 Albanien 52 Albanesen 45, 53, 55, 58 Alem Dagh 6 Alexandrien 90 Algarve jenseits des Meeres 299 Algerien 280, 299 Algerien, Küste von 294 ff., 394 ff. Algier 295 Alkantara 462 Allan 118 Aleppo 85 Almunecar 261, 271 Alpenrandstädte 178 Amaidara (Haidra) 423 Amazirghen 377 Amselfeld 52 Amsmis 374 Anadoli Hissar 5 Analfabeti in Italien 188 Anbau Korsikas 226 Andalusisches Faltungssystem 241 Andjera 362 Angora 14 Ansairier 138 Ansairier Gebirge 84 Antiaüas 365 Antilibanon 81, 82 Appenninen 158, 164 Appenninenvorland, tyrrhenisches 165 Apulien 160, 204 Arabien 66 Arad 412 Ard-el-Huleh 109 Arganbaum 350 Aritsu 37 Armenier 54 Amon 118 Asif Ig 36s Askalon 96, 131 Athanasische Mauer 16 Atlas 367 Atlasvorland 365 Atlit 96 ■ Aulad Soliman 281 Azila (Arzila) 335, 339.340, 341. 367 Bagirmi 383 Bahar J. 453 Balkan 46 Balkanhalbinsel 44 Ball 359 Banijas 108 473 — Bari 176 Barrua 384 Barth, Heinrich 325 Basan 119 Barka 280, 282, 302 Barkochba 90 Basra 66 Bastia 218, 229 Batnan 442 Batna 324 Baumzucht in Italien 172 Beerseba 144 Beja 449 Belgrad 47, 49 Belgrad, Wald von 6, 8 Belka 118, 129, 137 Bender Abbas 66 Bengasi 282 Beni Meskin 355 „ Mgild 375 „ Mtir 375 ,, Mzab 462 Benjamin von Tudela 75 Bergbau in Spanien 247, in Italien 173 Bergschlipfe in Italien 162 Berut 83 Besan 112 Beschiktasch 20 Bethanien 92 Bethlehem lOl, 123, 130, 131, 145 Bevölkerung von Korsika 216, 220, 226, 228, 230 Bevölkerung von Italien 170 „ „ Marokko 377 ,, „ Palästina 133 Bewässerung, künstl. in Italien 171 Bika 81, 82 Bir Medkides 317 Biserta 290, 413, 426, 439, 444 Biserta, See von 446 Biskra 324, 325 Blankenhom 76, 92, 115, 117 Bled el Djerid 320 „ „ ^Makhzen 379 „ es Ssiba 379 Blum Pascha 51 Blutrache auf Korsika 232 BobadiUa 271 Boden Apuliens 207, 213 Bodenplastik von Italien 163 Bojukdere 4, 9, 20 Bojuk Tschekmedsche 4 Bolo (Terra rossa) 165 Bona 445 Bosnien 45, 52 Bosporus 3, 5, 49, 50 Bosra eski Scham 120 Boz Bumu 41 Brindisi 154 Brives A. 365, 366 Brussa 41 Bu Hammara 380 Bu-el-Awän 372 Bulgaren 53 Bulgarien 46, 52, 55 Bu Regreg 339, 375 Burckhardt, L. 76 Cäsarea 96 Calvi 227 Cambon 393 Carghese 230 Caron 360 Casablanca 355 Castelfrentano 162 Castel del Monte 205 Ceuta 300, 361 Chaldäa 65 Chan el Hatrura 92 Chattara 273 Chetma 464 Cherf el Akab 337 Chianatal 162 China 91 Chirbet es Safije I17 Cillium (Kasserin) 423 Col de Sfa 462 Colonia Scillitana 314 Conca d'Oro 171, 262 Constantine 324 Corte 229 Crati 164 Dakar 386 Dalmatien 51 Damaskus 83, 99, 120 Dan 108 Dardanellen 5, 51 Dattelzucht in Tunesien Demnat 352, 355, 374 Derna 283 Derat 128, 147 Derkossee 3 Dessaretische Seen 52 Desvaux 469 Dethier 31 433 — 474 — Deutsche in Palästina 137 DiUy 118, 128 Djara 331 Djebala 362 Djebel Achdär 366, 371 Bargu 441 Ben Yunes 320 Bu Ramli 321 Chambi 310 ed Dahr 81 Dschermak lOO Djukar 422, 441 Ghilis 366 Hadid 350 Ischkel 445 Karantal 81, 92, 113 Karra 366 Kebir 446, 449 Mrabba 422 Nador 440 Nadur 319 Ogeff 317 Orbata 321, 411 Sidi Aisch 319 Usdum 115 Zaghuan 422, 441 Zebina 322 Djebilet 365, 371 Djedeida 429 Djerba 411, 422, 424, 429 Djisr-Benät-Jakub 109 Djisr el Mudschami 1 1 1 Dobrudscha 52 Dolmabaghtsche 21, 25 Donau 12, 46, 48 Donau-Bulgarien 56 Draagebiet 360 Dragoman 1 2 Drin 45, 52 Drusen 137 Drygalski, v. 349 Dschalud II2 Dschenin lOl, 145 Dscherasch 147 Dscholan 42, 93, 118, 124, 129 Dukkala 367, 369, 371 Durazzo 13, 49 Dünenbildung 327, 328 Edfu 64 Elche 263 Eisenbahnen in Korsika 221 Eisenbahnen in Palästina 141 El Abiod 466 Araba 81 Asy 84 Aujeh 49 Battof 146 Bekri 322 Djem 422 Gab 128 Grarb 370, 375 Gettar 304, 321, 325, 330, 463 Golea 372 Ghuweir 108 Hammi 113 Haus 373 Hawara 337 Kantara 3?3 Kef 449 Kerak 147 Kis 317 Ledscha 120, 127 Lisan 116 Maleynin 360 Muzerib 118, 119, 125 Wadi 18 En Nukra Il8, 119, 124, 126, 152 Entwicklungsgeschichte Italiens 157 Erdbeben Italiens 159 Ergene I 2 Er Ramie 144 Es Salt 129, 147 Es Suweda 149 Etna 163 Euganeen 166 Euphrat 66, 84 Europäer in Tunesien 436 Fabert, Leon 391 Fäs 356, 362, 374 Fellachen 134, 135 Feriana 304, 314, 316 Ferryville 450 Ficheur, E. 366 Fischereien Tunesiens 435 Flatters, Oberst 388 Flotte de Roquevaire 359 Fontanili 167 Foucauld 259 Foureau 391 Freschisch 304, 306, 424 Fritsch, v. 359 Fruchthaine Apuliens 2 1 1 Fum el Gharb 362 Fussana 307, 3 10, 315 475 Gadara 113 Gabes 282, 301, 304, 321, 323, 330, 412, 429, 461 Gafsa 304, 317, 319, 320, 321, 323, 325> 329. 330, 423, 428 Galata 15, 19, 50 Galiläa 82, 93, 99, 100, 129, 145 Garaat el Aglat 321 Gargdno 160, 165 Gastmahl von Tameslocht 345 Gaza 87, 123, 128, 139, 144 Gauckler 316 Gebirge Korsikas 220 Genua 177 Genuesen 15 Getreidebau in Palästina 139 Gethsemane 131 Gewerbtätigkeit in Italien 174 „ „ Marokko 374 ,, „ Palästina 140 „ „ Spanien 247 Ghadames 392 Gharbia 339 Ghab 81 Ghebisseh 37 Ghor 71, 76, 86, 93, 107, 121, 128, 135 Gibraltar 2, 300, 450 Gibraltar, Straße von 299 Goldene Hörn 3, 4, 50 Goletta 425, 428, 441, 442 Göl Dagh 41 Golo 217 Goltz, V. d. 34 Gomorrha Il6 Graham, Cyrill 149 Gran Sasso d' Italia 163 Gregoro^•ius 154 Grenzscheide zwischen Nord- und Südmarokko 375 Griechen 53 Griechenland 52, 55, 60 Guadalhorce 270 Guerin. Viktor 3 20 Gurara 335 Hadrumet 423 Haha 357, 365 Haidar Pascha 14, 34 Haifa 87, 123, 136, 145 Haifa 396 Hammam es Zerka 152 Hammamet 411, 412 Hammema 304, 331 Handel in Italien 174 ,, ,, Marokko 378 ,, „ Palästina 140 ,, ,, Tunesien 435 Hasbeya 108 Hasselquist 76 Hasskjiöi 20 Hassi Inifei 392 Hauran 93, 98, I18, II9, 124, 125, 129, 137, 147, 152, 153 Haustiere Palästinas 133 Hebron 92, 10 1, 130, 144 Hahn, Viktor 154 Hellespont 3 Henschir Sidi Ai'sch 304, 317, 319 Hergla 4 1 1 Hermon 83, 91, 108, 137 Herzegovina 45, 54 Hiaina 380 Hilderscheid 122 Hochstetter, Ferd. v. 30 Hodnabecken 465 Homs 84, 87 Hooker 357, 359 Hoyo von Chorro 270 Howara 377 Höhlenreichtum Palästinas 79 Hsi-ngan-fu 91 Huertas 245 Hüll 76, 95 Hulesee 87, 107, 109, 128 Humboldt, A. v. 42 Humusarmut von Palästina 78 Iberische Halbinsel 236 „ Scholle 240 Iberisches Tafelland 244 Ibn Haukai 75 Ibrahim Pascha 76 Innauen 362 Iskanderun 84 Isker 12, 47 Ismid 2, 16, 34, 36 Isnik Göl 41 Italien 154 Italiener in Tunesien 456 Jabbok 118 Jaffa 88, 96, 97, lOi, 123, 136, 138, 144, 145 Jarmuk 93, lll, 112, 118, 123 Jericho 71, 92, HO, 113, 151 Jerusalem 71, 92, lOl, 102, 121 126, 137 476 Jesreel 87, loo, 135 Jildis Kiosk 22 Jordan 81, 108 Judäa 98, 99, 144 Juden in Palästina 137 „ „ Marokko 378 Kaba Buinu 40 Kabata 386 Kadi Kjiöi 4, 20, 22, 35 Kairuan 321, 415, 422, 428, 439 Kai seh Dagh 36 Kalat-es-Senam 449 Kalat-es-Subebe 109 „ ,, el Am 125 Kallirrhoe 114 Kampanien 158 Kampagna, römische 172 Karjet-el-Eneb 130 Kanaan 97 Kanat Firaun 120 Kanem 281 Kap Blanco 440 Bon 411, 413, 424 Ghir 361, 365 Hadid 367 Juby 360 Kantin 368 Korso 217, 227 Spartel 348 Karmel 87, 123, 137 Kamak 1 5 Kartal 36 Karthago 413, 421, 423, 439, 441 Kasserin 310, 313, 315, 421 Kastanienhaine Korsikas 224 Kaukasus 58 Kelbiasee 321, 411 Kerak 115, 118 Kerkenah Inseln 411 Kircha Dibon 127 Kitchener 76 Kleinasien 44 Klima der Iber. Halbinsel 242, 260 „ von Italien 167 ,, „ Marokko 376 ,, ,, Tunesien 420 Kohl, J. G. I Kongo 383 Konja 13 Konstantinopel i, 2, 47, 49, 54 Korsika 21 5 ff. Kränget Muahad 307 Kränget Ogeff 317 Krim 58 Krumir 302, 415, 445 Kujundschik 66 Kulturgewächse Palästinas 130 Kuka 384 Küstenstädte Italiens 177, 210 Küste von Korsika 220 Kutschuk Tschekmedsche 4, 27 La Maddalena 219 La CaUe 445 La Malka 422 La Marsa 428 Lapie 452 Larasch 360, 362 Lartet 76, 95 Las Zaffarinas 301 Latium 158 Layard, H. 66 Lees, R. 149 Levantiner 19 Libanon 81, 82 Liberia 386 Licata 185 Ligurien 169 Limane 3 Litani 83 Ludd 87, 144 Luwakanal 127 Luynes, Duc de 76 Machaerus Il6 Machnaebene 145 Madeba 75 Madjer 304 Madrid 255, 258 Maghreb-el-Aksa 362 Magyaren 57 Mailand 155, 156, 178 Makedonien 47 Makedonen 56 Makri Kjiöi 16 Malaga 270, 271 Malta 450 Maltepe 36 Maltzahn, H. v. 310, 320 Maritza 12, 48, 53 Marrakesch 339, 343, 351, 364, 365, 373 Marokko 280, 281, 298, 333, 358ff. Marmarameer 2, 5 Mar Saba 98, 1 15, 144 477 — Marseille 407 Marx, H. 351 Masada 116 Mateur 445, 449 Maur, H. v. 349 Mauritania Tingitana 299 Maw 359 Mazagan 367 Medea 404 Medscherda 288, 411, 412, 429, 440, 449 Medschdel HO Mehamla 305, 330 Mehedia 362 Meknäs 356 Melilla 361 Menzel 351 Merdsch Ajun 81 „ el Amir 145 Merdschaja 469 Mers el Kebir 450 Mery, M. G. 390 Meschra bu Challu 339, 355 Bab el Ksiri 339, 355 Mesopotamien 65 Metawile 137 Metuia 325 Mharhar 339 Mittelmeer i Mittelmeergestade Spaniens 265 Moab 117, 118, 135, 152 Mogador 298, 349, 365 ;Mogodgebirge 445 Moltke 21 Monastir 13, 49 Monteil 384 Monte Cinto 217, 220 „ Pollino 164 ^lontenegro 45, 52, 55 !Morawa 12, 18 Msun 362 Mtal 367 Mtuga 358, 365 Mudania 41 Mugheir 65 Mukes 128 Muluja 362 Murcia 263 Murge 210 Nabulus loi, 145 Nachtigal, G. 383 Nähr Banijas 108 Nähr el Audscha 125 „ Hasbani 108 „ Kasimiech 81, 98 „ el Leddan 108 Nazareth loi, 123, 146 Neapel 178 Nebi Musa 115 Nedschran 66 Nefta 325 Nefza 449 Neger in Marokko 378 Nemara 153 Nerja 26 1 Niebuhr, K. 76 Niolo 230 Nisch 47, 48 Nischawa 1 2 Nordafrika 280, 301 Nordsyrien 84 Nordwestafrika, französ. 385 Novipazar 45 Nöthling 92, 117 Ochrida 1 3 Odessa 50 Österreich-Ungarn 55 Olivenzucht in Tunesien 431 Oman 68 Omer Pascha 27 Oran 295 Orontes 83 Ortakjiöi 22 Ostrovo 13 Ostjordanland 118, 127, 135 Oxeia 26 Ozeanküste von Marokko 367 Palästina 74 Palermo 189 Palmer, E. H. 149 Palmyra 83, 85 Pankaldi 20 Pantellaria 2 Pantellaria, Straße von 301, 410, 426, 439 Peloritanisches Gebirge 161 Pella 112 Pendik 7, 36 Pera 15, 19, 50 Peschel, O. 42, 157 Petra 87 Penon de Yelez 361, 375 „ ,, la Gomera 361, 375 478 Pfeil, Graf J. v. 352 Pflanzenkleid von Italien 168 „ „ Korsika 223 ,, Palästina 129 Phasaelis 112 Philippopel 47 Phosphaüager in Tunesien 434 Plateia 26 Poebene 166, 168 Polopythia 38 Pomaken 55 Pont de Trajan 449 Pontybucht 449 Port Said 88 Porto Farina 289 ,, Empedocle 185 „ Vecchio 218, 450 Portugal 252 Poiibergangsstädte 178 Preschowo 48 Pressel, W. 41 Prinzeninseln 10 Proti 36 Puech 453 Qäu 64 Rabat 356, 357, 362, 376 Ramie 95, 144 Randlandschaften der Iber. Halbinsel 243, 245, 248 Ras Dimas 411 „ en Nukra 85, 91 „ Engeiah 444 „ Kapudia 41 1 ,, Sidi Ali el Mekki 411 Rebatel 320 Rein, J. J. 359 Rephaim 136 Rhadames 282, 412 Rhat 392 Rhcrhaiah 344 Rhodope 46 Riath 153 Riatha 334, 360 Rifgebirge 364 Ritter, K. 42, 74 Riviera, bithynische 33 Robinson 76 Rocher, L6on 428 Rolland, G. 390 Ruchbe 153 Rumänien 55 Rumelisches Schollenland 45 Russeger, Jak. 76 Saatscha 463 Safed 146 Sakarrah 62 Sakaria 16, 41 Sakiet el Hamra 360 Saloniki 13, 47, 48, 49 Samanly Dagh 41 Samaria 99, 100, 129, 145 Samaritaner 138 San Bonifazio 215, 218, 227, 230 ,, Fiorenzo 218 Sangro 153 Sankt Colombano 166 „ Stephano 27 Saron 96, 129 Sarona 123, 136 Sbeitla 314 Sbiba 449 Scala di Sta. Regina 230 ,, Tyriorun 85, 145 Sciacca 185 Schauia 355, 369 Schalt el Arab 66 Scheitan Akentisi 9 Schedma 358 Schkumbi 13 Schnell, P. 359 Schulen in Sizilien 189, 190 Schumacher 76, 125 Schutzverhältnis in Marokko 343 Schwöbel 150 Sebaita 149 Sebra 449 Seeverkehr Italiens 174 Segonzac, M. de 359, 360 .Seidenzucht Italiens 1 7 1 Seleukia 85 Serben 54 Serbien 52, 55 Serin 87, 112 Sfaks 288, 415, 422, 428, 455 Sichem 102 Sidi Aissa el Bochabia 351 ,, Abdallah 450 ,, Ahmet 449 „ Makhluf 466 Sidon 83 Siedelungskunde von Italien 175, 196, 208 Siedelungen in Palästina 142 — 479 — Sila 165 Sinai 77, 81 Sizilien l6l, 162, 175, 180 Skutari 19, 34, 52 Sliwnitza 12 Slovenen 54 Sodom 116 Sofia 47 Sospiro del Moro 270 Städte Spaniens 250 Städtebevölkerung Palästinas 136 Strauchsteppe Südtunesiens 318 Susa 449 Südküste von Andalusien 268 Südosteuropa 44 Südtunesien 301 Syrakus 155 Syrien 81 Syrte, Kleine 321, 411, 429 Tabor lOO Tafilalet 360 Tahaddart 327, 329 Taif 67 Tameslocht 342 Tanger 300, 335, 349, 363 Tarent 155 Tataren 54, 56, 57 Tattenbach, Graf 339 Taurus 13 Tavignano 217, 229 Tebessa 301, 307, 324 Tedla 370 Tekna 360 TeU-el-Hammam 151 ,, „ Dschena 119 „ „ Kadi 125 Tensift 351, 366, 371, 373, 374 Thasa 362 Theater in Sizilien 190 Theben 62 Thelepte 316 Therapia 9 Thessalien 56 Tierwelt Korsikas 216 Thomson, J. 363, 365 Thrakien 46 Tiberias lio, 137 Tiberias, See von 87, 107, 109 Tidikelt 335, 392 Tifsist 354 Tigris 66 Timbuktu 360 Tirant 320 Tirremt 365 Tirs 370 Tleracen 362 Toskana 163 Totenverehrung 231 Totes Meer 76, 77, 107, 114, 128 Tozer 325 Trajanstor 1 2 Tripolis 84 Tripolitanien 280, 284 ff., 302 Tschataldscha 16, 33 Tscherkessen 54, 58, 137 Tschiragan 21 Tuat 335, 360 Tunesien 280, 287 ff., 406, 408 Tunesien, Beziehungen zu Italien 290ff., 416 Turkmenen 138 Tuz Burnu 36 Türken 53, 56, 139 Türkei 55, 59 Tyrus 83 Ubangi 383 Udna 422 Udjda 362 Udref 326 Um-ed-Dschimal 1 49 Um-er-Rbia 339, 355, 366, 371, 378 Ungarn 52 Urlana 469 Ütsch Burnu 36 Vakarel 1 2 Valencia 262 Vallis 422 Vardar 48, 53 Vama 58 Velez Malaga 262 Venedig 155, 157 Via Egnatia 52 Vignon, L. 403 Viehzucht in Italien 173 ,, „ Palästina 140 Vizzavona, Paß von 221 Volksdichte von Italien 175 „ „ ^Marokko 379 „ ,, Palästina 141 „ ,, Tunesien 437 Volturno 163 Volkszahl von Palästina 150 Wadi Arabah 107, iio — 48o — Wada Fara 114 Firan 68 ed Deheb 119 el Arisch 149 „ Tein 108 Hanem 149 Ighargar 46 I Kelt 113 Mellaha 1 14 Mia 461 Zerka 114 Walidyia 368 "War 120 Wargla 392 Wasserarmut Apuliens 206 Wälder in Korsika 225 „ „ Tunesien 433 „ Aischa 339, 348 Wed Aguareb 422 Baiasch 320, 321 Beht 375 Bugena 319 Chair 445 Erseuf 319 el Abiad 322 „ Kseb 362 „ Rha 339 Feriana 319 Hathob 307, 315, 321 Karrub 339 Kebir 321 Melah 422 Wed Miliana 421, 440 „ Rdem 370 „ Rhir 324, 462, 464, 468, 469, 470 Wed Suf 64, 324, 462, 463 „ Tindja 445 „ Zerud 411, 421 Weinbau in Palästina 139 „ „ Tunesien 431 Weizenbau in Tunesien 433 Weltstein 76 Wilhelma 136 Wimmer, E. 352 Wlachen 53 , Yalak Dere 41 Yarim Burgas 24 Yedi Kule 27 Yelken Kaya Burnu 36 Zaian 375 Zair 375 Zarzis 427 Zarzuna 448 Zebojim 117 Zemmur 375 Zentrales Gebiet der Iber. Halbinsel 249, 254 Ziban 462, 464, 466 Zigeuner 54 Zoar 117 Zuckerrohrbau in Spanien 265 Druckfehler. Lies Hasskjiöi Seite 20. „ Wed Rirh Seite 121. Verlag von B« 6» ü^cubncr in Leipzig urtd ßcrltri Ortafienfabrt. Ton Dr. f. Dof lein. S?iSI«ti*Ä CWna unb Ceylon. ITlit jabircidiert 2lbbilbungpii. (Seb. ca. Ji. 8. — "^n fetten anf(ä;'aultii;er f pradie cnttrtrft bcr üerfajjer in biefem IDerfe ein glänjenbes i3ilb pon 'bem farbenfroben Ceben bes fernen (Dftens, beren ITIenfcben, Sliere unb pflansen er in bie perfcfiebenen Üu^erungen ibres 5etns verfolgt. (£s if^ besbalb aud^ fein Kcifeirerr im gcmötinücbcn ^rinnc, fonbern bas Ergebnis eingcbenber, njiffenfdjaftlicber 5otf>ä?"'^9- '£^" befonberer Jlei, toirb beni i5udi baburcb perlieben, tia^ Doflein gerabe in ber geit bcs ruffif*= japanifcben Krieges in birfcn £änbern ipeilte unb bie Spannung unb «Erregung, bie burcb jene tpeltgefdiiditlicben Sreigniffc aUentbalben tjerporgcrufen tuurbe, burd^sittert bas ganje Sud?. «leltrcircbilder. Ton Julius )VIeurer. S?t"5nfTf""S:rn fotnie einer IDeltfarte. (Seb. JC ^. — Der als Heifefd;riftfteUcr befannte Derfaffer bringt feine Heifeerlebniffc unb =einbrüd'e in 5orm pon abgefdiloffenen Silbern, beren ein jebes einen Heifcabfdjnitt für fid; bebanbelt. 3« biefcn abgearenjten Silbern tpar ber 2tutor bemübt , eine niöglidift anfdiaulidie üerftnnlidiung beffen ju ettttperfen, tpas innerbalb biefes Hatimcns — fei es ein Canb, 3. S. 3"Ö'P" / Jaf^ii Ctiina, 3apan, Horbamerifa , ober eine längere f ees ober Canbreife, ober aud) eine befonbers bcrporragenbe Canbfdjaftsfjcnerie, voie ber Pinialaia — bem IDeltreifcnbcn entgegentritt. Se= fonbere Sorgfalt tpibmet ber Derfaffer ber Dölferfunbe, ober riditiger ber befonberen «Eigenart ber oftafiatifd^en üölfer, unb 5tpar '!)in 3nbern unb ibren Keligionsfulten, bin "^avamxn unb tlTalaien , ben Cbinefen unb 'ben '^a'pixntxn , ferner ben unerreidjten Kunftbautcn , fotpie tun unpergleid)li*en Kunfterseugniffen in 3"&if"/ China unb befonbers in 3'iP'T'' Das europäifcbe Rußland. Von prof .Dr.H.Rettner. mit 2( Eertfarten. (ScK J(. 4 — , geb. Jt \.(>0. Dorliegenbe Stubie, ju ber ber Derf affer burd? eine Heife in Hu^Ianb angeregt tuorben ift, roirb bei ben augenblidlid^cn Vorgängen in ©ftafien Pon befonberem 3"*sreffe fein. Sie tpiU bas, tpas uns «Ettniologen, ßiftorifer, Ilationalöfonomen, publisiften u. a. mitgeteilt unb pon ihrem Stanbpunfte aus beleudjtet haben , unter geographifdjcn (Seftdjtspunftcn barfteUen, uns bas Dcrftänbnis für bie Eigenart bcs ruffifdjen DolFes, bes ruffifdjen Staates, ber ruffifd^en Kultur in itircr geographifd^en Scbingttieit Permitteln unb baburdj jugleid? bie (Srunblage für eine geredete IDürbigung geben, bie nid)t preift unb nidit oerbammt fonbern 3U perfteben fnd)t. Das IVIittelmeergebiet. Ton prof . Dr. H. pbilippfon. Seine geograpbtfdie unb fulturelle Eigenart, mit 9 Äiguren, ^3 2lnfidjtcn unb ^0 Karten. (Seti. Jt. 6. — , geb. M 7. — ,,I)as uorliegcnbe IDerf eignet ftdi porjügli* , um einem tpeiten Kreife allgemein (Se= bilbeter eine DorftcÜung pon bem 3U geben, ipas (Scograpbie heute ift, nanientli* aber ber ftetig n?adifenben §abl ber Sefudier bes JTIittelmeergebietes ein tieferes Cerflänbnis für bas, Rias" fte feben, 3U erfcbließen. 3söcr foUtr ft* bas Sud; als «Ergänjung feines Heifehanbbudjs mitnehmen, unb bie Sibliott)cfen unferer Kunbreifebainpfer foUten es in mehreren €remplaren enthalten. . . . Zludj bem liiftorifer, bem Kulturhiftorifer, bem So3ioIogen bringt bas Sud) be= beutenöen (5etpinn. . . . Sie Silber flnb por3Üglidj getpählt unb gut ausgeführt, bie Karten fehr flare £)cranfdiaulidiun«en bes dertes." _ (Prof. Dr. et). 5ifdjer in ber Deutfd)en £iteratur=g)eitung.) Tom Kauhafus zum JVIittelmeer. Ton Dr. p. Robr- Etne ßod)3cits= unb Stubienreife burd) JIrmcnien. ITlit ^2 2tbbilbungcn im Üert. «Seh. Jf. 5. — , geb. „«. 6. — ,,C»on ben Sd)neebergen bes Kaufafus bis 3U ben Ufern bes btauen ITlittelmeeres geteitet uns pauI Kot)rbad) in bem oben genannten, mit einer Heihe diarafteriflifdier Sitber gefd)mucften Suche, rieben bem perfönlid^en l\ei3 ber Darftetlung feffett uns por allem bie £ebl)aftigFcit ber Itaturfdjitberungen , bie Sdnirfe ber Seobg.ditung über £anb unb Ccute unb bie Säue neuer tpirtfd)afttid)er unb potitifd:er 2tuffd)Iäffe. Über bie armcnifd)e ^rage tpirb man ot)ne Kenntnis ber Seobadjtungcn , bie p. Hohrbad) angeftcllt hat, nid)t met)r urteilen bürfen. 2lud) in l]iftortfd)er unb ardjäologifdier Sesieliung bietet bas Sud), bas tpir unferen Cefern warm empfetilen, piet jntcreffantes unb neues." (Dresbner Ilnseiger.) bacb. TcrUg von ß. 6. Ccubticr in Leipzig und Berlin GeiftUches und ^eltUcbes aus dem türkifcb-grie- chifchcn Orient v. 0eh.-Rat prof . D. Dr. fy, 6elzer. Scibftcricbtes unb ^elbftgcfehencs. Hut porträt unb \2 §eid)iiungen. el). .^H. 5 . — , ijcfd7ma(f= poU aeb. J/. 6 — „prof. (Seljer frnnt ben (Drietit, feine 5prad7ert unb (?eidjid;te. Was er bietet, iil uöllig perfönlidj (Etforidjtcs. i£r luiU ben Cefrr in i'C'i d)riftlidje Konftantinopel einfül^rcn , in bie IDelt ber ®rtt|oboren, ber (Sricdjen unb 2lrnifnicr. Die erfte i^älfte feines 8ud)c& bcfdjäftigt fidj mit Kirdjenfragcn, bie jca freilidi am Bosporus 3ualeid) nationale fragen finb, bie 3tueitc Sälfte, bodjintcteffant, bebaubelt politifdj unb ntenfdjlid; bie dürfen, (Sriecjien, lpanifd)en ^ubeii unb Jlttnenicr. iUun lernt aus öicfcii i'fijjen feljr i'iel, 3'i] erauiliiie befonbcrs bie ilusfübrung über ben »Einfluß Don mobainniebanifierten >£lirifien auf bas dirfentum unb bie Parftellung ber Ilusüditen bes ii'eftlidien unb fleinafiatifdjen (Sried7cntums. Rcligionsgefdjidjte, Philologie unb poHtif ^Kannnen burdj (?>el3ev4 fein unb frei aejdjriebcne plaubereien. JXus:; ftattung gut." (Die iMlfe. 1900. IXr. 5Ü.) Vom Reiligen Berge und aus )VIakedonien. Reife- bilder aus den Htboshlöftern und dem Infurrek- tionsgebiet von 6eb.-Rat prof. D. Dr. R. 6elzer. XTiit ^5 Zlbbilbungen im CLeft unb \ Kürtd)cn. (Pch. JC 6. — , gcfdjmacfiioll geb. M. 7. — ,,. . . 3n bem i>orliegcnbcn ITcrfe gibt ber als grünblidjcr Kenner unb t£rforfd)er bes (Orients bcfanntc Terfaffer eine Ijodjintereffantc iJefdneibung feiner ilcifc nadj bem f^eiligen Berge Jlttjos unb bem angrenjenben (Pebietc. . . . Das Bud? ift uorjüglidi ausgcftattet , mit red^t guten Jlbbilbungcn rierfet]en unb rcrbient, 3umal es ien £efer in nod; tneniger befanitte (Segenben fül]rt unb bie bortigen rerbaltniffe in ansiebcnber Ifcife fd;ilbert, bie roärmfte t£mpfeb[ung." (Vloxb unb Siiti.) Huf Java und Sumatra. Ton prof. Dr. K. Giefen- hlrt^fl ^trcif3Üge unb ,5orfdmngsreifcn int £anbc ber lllalaien. mit \(i farbigen Doli; I;il\jVll. bilbern,'3al]lrcidien 2lbbilbungfn unb [ Karte. (Sei). oU. 9-—, gefdjmacfooU geb. Jt. 50.— Diefe Rcifebefdjreibung berutjt auf hcn Jtufjeidjnungcn, bie ber Dcrfafler tDät^renb feiner ^orfdjungsreife unter bem unmittelbaren Cinbrude ber (Segeniuart gcmadjt tfat, unb enttoirft ein anfdiaulidjes Bilb ber inbomalaiifdjen tiropen , insbefonbere uon 3aiia unb Sumatra. (Seograpljie unb Canbesnatur, Vegetation unb (Eisrlebcn werben Icbenbig unb einbrurfsroU ge= fdjilbert, ebcnfo bie fo3ialen üerbältii.ffe ber burdireifien Cänbcr unb bas malaiifdie Dolfstum in feinen iierfd7iebenften £cbensiiu§erungen. Befonbere Bead^tung finbet aud; bie tropifdie Zlgrifultur ber 3"fcl" u"'' ''li-i^ lieriiorragcnbc Bebcutung für IPeltbanbcl uni' Ifeltiierfebr. Bei bem ungemein großen Jlnteil, ben beutfdje Jlrbeit unb beutfdjes Kapital an ber unrtfdjaftlidjen lErfd^Iießung bicfer für uns fo unAtigen €änber baben, loirb bas Bud] uielen ermünfditc 2Iuf= fd^lüffe über ibren Kulturjuftanb geben fönnen. (^ablreidie Potlbilber unb dcrtfiguren bilbcn einen,, inftruftiuen Sdimurf bes IDerfes, eine Karte, in bie ber Kcifeweg eingetragen ift, erleiditert bie Uberfidjt. GineHuftraUen- und Siidfeef abrt. Ton Dr. H. Daiber. iTlit 3at;lreid;en Ilbbilbungen. Vornehm geb. .//. 7. — ,,IPas bislang in beutfd)er Spradie über ^luftralien gefdjrieben worben ift, ift üußerft gering unb mangelhaft. €rft bie gegenwärtige Sdirift, bie auf (Prunb cingebenbcr Stubicn an Q)rt unb Stelle uerfaßt iporben ift, fann ben Jlnfprud) erbeben, über äanb unb £cute bes neuen (Erbteils, über bie Cnta'idelung unb bas £ebcn in Jluftralien unb ber Sübfce in befriebigenber unb ausfübrlidjer iDeife beridjten 3U Fönnen. Die Sdjrift fcffclt rom llnfange bis 3um legten Sat3c unf^ getnälirt bem fieljrer für i£rb= unb Dölterfunbe, ebeufo tuie bem itatuririffenfd^aftler unb Kaufmann eine reid;e .^unbgrubc tatfäd;lid;en ilnfdjauungsmaferials, bas alle tSrfdieinungen früherer 3ilirc in ben Sdjatten'ftellt." {(Dt^i). ,^ellotn 5903. Hr. 5.) Hus Deutrcb-ßrafUien. Ton Dr. Hlfred funke. Silber aus bem Sehen ber Deutfdjen im Staate ilio (Sranbe bo Sul. lUit 3alilreid;en J[b= bilbungen im dert unb [ Karte non J\io (?ranbe bo Sul. (SefdjmacfuoU geb. ^H.7. — ,,Der Derfaffer ift ein fdiarfer Beobad7tcr unb ein portrefflidjer ,5P"iU(^tonift. M "" # %^#5-:Vj|;J ■:^.J^ fe»^/:J*L' UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITY A 000 627 086 l'^^^KÄK "^Ä^.. :*.J>?*^ :^5a. "«?^..^: ^"^